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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Zusammenfassung; Korrektur des Freiheitsbegriffs (3 Punkte); Sein-von, Sein-mit, Sein-für

Kurzinhalt: Freiheit muß sich, wenn sie nicht zur Lüge und zur Selbstzerstörung führen soll, an der Wahrheit orientieren, das heißt daran, was wir eigentlich sind, und diesem unserem Sein entsprechen.

Textausschnitt: Zusammenfassung der Ergebnisse

206a »Vielleicht hielt die ausgediente Dampfmaschine der Aufklärung nach zwei Jahrhunderten nützlicher, störungsloser Arbeit vor unseren Augen und mit unserer Beteiligung an. Und der Dampf geht nur in die Luft«: Das ist die pessimistische Diagnose von Szczypiorski, die uns als Aufforderung zum Nachdenken auf den Weg getreten war. Nun, ich würde sagen: Störungslos war die Arbeit dieser Maschine nie - denken wir nur an die zwei Weltkriege des letzten Jahrhunderts und an die Diktaturen, die wir erlebt haben. Aber ich würde hinzufügen: Wir brauchen keineswegs das Erbe der Aufklärung als solches und im ganzen zu verabschieden, zur ausgedienten Dampfmaschine zu erklären. Was wir freilich brauchen, ist eine Kurskorrektur in drei wesentlichen Punkten, in denen ich den Ertrag meiner Überlegungen zusammenfassen möchte. (Fs)

207a
1. Ein Verständnis von Freiheit, das als Befreiung nur immer weitere Auflösungen von Normen und die ständige Ausweitung individueller Freiheiten bis hin zur völligen Befreiung von aller Ordnung ansehen mag, ist falsch. Freiheit muß sich, wenn sie nicht zur Lüge und zur Selbstzerstörung führen soll, an der Wahrheit orientieren, das heißt daran, was wir eigentlich sind, und diesem unserem Sein entsprechen. Da der Mensch ein Wesen im Sein-von, Sein-mit und Sein-für ist, kann menschliche Freiheit nur im geordneten Miteinander der Freiheiten bestehen. Recht ist daher nicht Gegensatz zu Freiheit, sondern ihre Bedingung, ja konstitutiv für sie selbst. Befreiung besteht nicht in der allmählichen Abschaffung von Recht und von Normen, sondern in der Reinigung unserer selbst und in der Reinigung der Normen, so daß sie das menschengemäße Miteinander der Freiheiten ermöglichen. (Fs)

2. Aus der Wahrheit unseres Wesens folgt ein weiteres: Es wird innerhalb dieser unserer Menschengeschichte nie den absolut idealen Zustand geben, und es wird nie eine endgültige Freiheitsordnung errichtet werden. Der Mensch ist immer unterwegs und immer endlich. Szczypiorski hatte angesichts des offenkundigen Unrechts der sozialistischen Gesellschaftsordnung und angesichts aller Probleme der liberalen Ordnung die zweifelnde Frage gestellt: Vielleicht gibt es überhaupt kein Recht? Darauf müssen wir nun sagen: In der Tat, die schlechthin ideale Ordnung der Dinge, die rundum recht ist, wird es nie geben.1 Wo solcher Anspruch erhoben wird, wird nicht die Wahrheit gesagt. Der Fortschrittsglaube ist nicht in jeder Hinsicht falsch. Falsch aber ist der Mythos von der künftigen befreiten Welt, in der alles anders und gut sein wird. Wir können immer nur relative Ordnungen errichten, sie können immer nur relativ recht haben und sein. Aber gerade um diese höchstmögliche Annäherung an das wahrhaft Rechte müssen wir uns mühen. Alles andere, jede innergeschichtliche Eschatologie, befreit nicht, sondern täuscht und knechtet daher. Deswegen muß auch der mythische Glanz entmythisiert werden, den man Begriffen wie Veränderung und Revolution beigelegt hat. Veränderung ist kein Gut in sich selbst. Ob sie gut oder schlecht ist, hängt von ihren konkreten Inhalten und Bezugspunkten ab. Die Meinung, die wesentliche Aufgabe im Ringen um Freiheit sei die Veränderung der Welt, ist - ich wiederhole es - ein Mythos. In der Geschichte wird es immer ein Auf und Ab geben. In bezug auf das eigentlich sittliche Wesen des Menschen verläuft sie nicht linear, sondern in Wiederholungen. Unsere Aufgabe ist es, jeweils in der Gegenwart um die relativ beste Verfassung des menschlichen Miteinander zu ringen und dabei errungenes Gutes zu bewahren, bestehendes Schlechtes zu überwinden und dem Einbruch der Mächte der Zerstörung zu wehren. (Fs)

3. Wir müssen auch den Traum der absoluten Autonomie der Vernunft und ihrer Selbstgenügsamkeit verabschieden. Die menschliche Vernunft braucht den Anhalt an den großen religiösen Traditionen der Menschheit. Sie wird die einzelnen religiösen Traditionen durchaus kritisch betrachten. Die Pathologie der Religion ist die gefährlichste Erkrankung des menschlichen Geistes. Sie existiert in den Religionen, sie existiert aber gerade auch dort, wo Religion als solche abgewiesen und relativen Gütern absoluter Rang zugewiesen wird: Die atheistischen Systeme der Neuzeit sind die erschreckendsten Beispiele einer ihrem Wesen entfremdeten religiösen Leidenschaft, das heißt aber einer lebensgefährlichen Erkrankung des menschlichen Geistes. Wo Gott geleugnet wird, wird Freiheit nicht aufgebaut, sondern ihres Grundes beraubt und daher verzerrt.2 Wo die reinsten und tiefsten religiösen Überlieferungen ganz abgelegt werden, trennt sich der Mensch von seiner Wahrheit, er lebt gegen sie und wird unfrei. Auch die philosophische Ethik kann nicht schlechthin autonom sein. Sie kann nicht auf den Gottesgedanken verzichten und nicht verzichten auf den Gedanken einer Wahrheit des Seins, die ethischen Charakter hat.3 Wenn es keine Wahrheit vom Menschen gibt, hat er auch keine Freiheit. Nur die Wahrheit macht frei. (E99; 20.06.2009)

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