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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Augustinus (Räuberbande); Verantwortung; Weltethos (Küng, Kritik)

Kurzinhalt: Wenn Verantwortung Antwort auf die Wahrheit des Menschseins ist, dann können wir also sagen: Zu wahrer Befreiungsgeschichte gehört die immerwährende Reinigung auf Wahrheit hin. In der Reinigung der einzelnen und der Institutionen durch diese Wahrheit ...

Textausschnitt: Freiheit und Verantwortung

201a Freilich ergibt sich mit dieser Erkenntnis sogleich auch eine neue Frage: Was ist freiheitsgemäßes Recht? Wie muß Recht beschaffen sein, damit es Freiheitsrecht bilde, denn es gibt zweifellos Scheinrecht, das ein Sklavenrecht und darum kein Recht, sondern eine regulierte Form von Unrecht bildet. Unsere Kritik darf sich nicht gegen das Recht selbst richten, das zum Wesen der Freiheit gehört; sie muß Scheinrecht als solches überführen und dem Hervortreten des wirklichen Rechts dienen - jenes Rechtes, das der Wahrheit und darum der Freiheit gemäß ist. (Fs)

201b Aber wie findet man es - das ist die große Frage, die endlich richtig gestellte Frage wirklicher Befreiungsgeschichte. Gehen wir auch hier wie schon bisher nicht mit abstrakten philosophischen Erwägungen zu Werke, sondern versuchen wir, uns von den gegebenen Realitäten der Geschichte her an eine Antwort heranzutasten. Fangen wir bei einer überschaubaren kleinen Gemeinschaft an, so läßt sich wohl von ihren Möglichkeiten und Grenzen her einigermaßen ausloten, welche Ordnung am besten dem Zusammenleben aller dient, so daß aus ihrem Miteinander eine gemeinsame Gestalt von Freiheit entsteht. Aber keine kleine Gemeinschaft steht in sich selbst; sie ist eingeborgen und in ihrem eigenen Wesen mitbestimmt von den größeren Ordnungen, denen sie zugehört. Im Zeitalter der Nationalstaaten ging man davon aus, daß die eigene Nation die maßgebende Einheit sei - daß ihr gemeinsames Gut auch den rechten Maßstab der gemeinsamen Freiheit bilde. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert hat klargemacht, daß dieser Gesichtspunkt nicht ausreicht. Augustinus hatte dazu gesagt, daß ein Staat, der sich nur an den gemeinsamen Interessen dieses Staates und nicht an der Gerechtigkeit selber, an der wahren Gerechtigkeit messe, strukturell nicht von einer gut geordneten Räuberbande verschieden sei. Denn für sie ist ja charakteristisch, daß sie das Gut der Bande unabhängig vom Gut der anderen als ihr Maß nimmt. Im Rückblick auf das Kolonialzeitalter und die Schäden, die es in der Welt hinterlassen hat, sehen wir heute, daß noch so geordnete und zivilisierte Staaten sich irgendwie dem Wesen der Räuberbande annäherten, weil sie nur vom eigenen Gut und nicht vom Guten selbst her dachten. So gewährleistete Freiheit hat dann etwas von der Räuberfreiheit an sich. Es ist nicht die wahre, wahrhaft menschliche Freiheit. Bei der Suche nach dem rechten Maß muß die ganze Menschheit vor Augen stehen und - wie wir immer deutlicher sehen - wiederum nicht nur die Menschheit von heute, sondern auch die von morgen. (Fs)

202a Der Maßstab für das wirkliche Recht, das sich als wahres Recht und damit als Freiheitsrecht bezeichnen darf, kann daher nur das Gut des Ganzen, das Gute selber sein. Von dieser Einsicht her hat Hans Jonas den Begriff Verantwortung zum ethischen Zentralbegriff erklärt.1 Das bedeutet, daß Freiheit, um recht verstanden zu werden, immer mit Verantwortung zusammen gedacht werden muß. Befreiungsgeschichte kann demgemäß immer nur als Geschichte wachsender Verantwortung stattfinden. Wachstum von Freiheit kann nicht mehr einfach in der immer weiteren Entschränkung der individuellen Rechte bestehen - was zur Absurdität und zur Zerstörung gerade auch der individuellen Freiheiten führt. Freiheitswachstum muß Wachstum von Verantwortung sein. Dazu gehört das Annehmen der je größeren Bindungen, die vom Anspruch des Miteinander der Menschheit, von der Angemessenheit für das Wesentliche des Menschen gefordert werden. Wenn Verantwortung Antwort auf die Wahrheit des Menschseins ist, dann können wir also sagen: Zu wahrer Befreiungsgeschichte gehört die immerwährende Reinigung auf Wahrheit hin. In der Reinigung der einzelnen und der Institutionen durch diese Wahrheit besteht diese wahre Freiheitsgeschichte. (Fs)

203a Das Prinzip Verantwortung setzt einen Rahmen, der inhaltlicher Füllung bedarf. In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag der Ausbildung eines Weltethos zu sehen, für das sich vor allem Hans Küng leidenschaftlich engagiert. Zweifellos ist es sinnvoll, ja, in unserer gegenwärtigen Lage nötig, nach den gemeinsamen Grundelementen der ethischen Traditionen in den verschiedenen Religionen und Kulturen zu suchen; in diesem Sinn ist eine solche Bemühung durchaus wichtig und angebracht. Andererseits sind die Grenzen eines solchen Versuchs offenkundig, auf die zum Beispiel Joachim Fest in einer durchaus wohlwollenden, aber auch sehr pessimistischen Analyse hingewiesen hat, die sich in ihrer Richtung mit dem Skeptizismus von Szczypiorski berührt.2 Denn einem solchen aus den Weltreligionen destillierten ethischen Mininum fehlt zunächst die Verbindlichkeit, die innere Autorität, die das Ethos braucht. Es fehlt ihm trotz allem Bemühen um Einsicht auch die rationale Evidenz, die nach der Meinung der Autoren wohl die Autorität ersetzen könnte und sollte; es fehlt auch die Konkretheit, die das Ethos erst wirksam macht. (Fs)

203b Ein Gedanke scheint mir richtig, der in diesem Versuch wohl mitgedacht ist: Die Vernunft muß auf die großen religiösen Überlieferungen hören, wenn sie nicht gerade für das Wesentliche menschlicher Existenz taub und stumm und blind werden will. Es gibt keine große Philosophie, die nicht vom Zuhören und Annehmen religiöser Tradition lebt. Wo immer dieser Bezug abgeschnitten wird, verdorrt das philosophische Denken und wird zu einem bloßen Spiel von Begriffen.3 Gerade am Thema Verantwortung, das heißt an der Frage nach der Verankerung der Freiheit in der Wahrheit des Guten, in der Wahrheit des Menschen und der Welt, zeigt sich die Notwendigkeit solchen Zuhörens sehr deutlich. Denn so treffend das Prinzip Verantwortung von seinem Ansatz her ist, es bleibt doch die Frage: Wie sollen wir überschauen, was gut für alle ist und was gut ist nicht nur für heute, sondern auch für morgen? Eine doppelte Gefahr lauert hier: Zum einen droht das Abgleiten in den Konsequenzialismus, den der Papst mit Recht in seiner Moralenzyklika kritisiert.4 Der Mensch übernimmt sich einfach, wenn er glaubt, die Konsequenzen seines Handelns rundum abschätzen und sie zur Norm seiner Freiheit nehmen zu können. Dann wird alsbald die Gegenwart der Zukunft geopfert, aber auch die Zukunft nicht aufgebaut. Zum anderen ist da die Frage: Wer entscheidet denn, was unsere Verantwortung gebietet? Wo man Wahrheit nicht mehr im verstehenden Aneignen der großen Überlieferungen des Glaubens sieht, wird sie ersetzt durch den Konsens. Aber wiederum ist zu fragen: wessen Konsens? Dann wird gesagt: der Konsens derer, die argumentationsfähig sind. Weil man dann die elitäre Anmaßung einer solchen intellektuellen Diktatur nicht übersehen kann, wird gesagt, die Argumentationsfähigen müßten »advokatisch« auch für die einstehen, die zum rationalen Diskurs nicht fähig seien. All das kann wenig Vertrauen erwecken. Wie brüchig Konsense sind und wie schnell sich parteiliche Gruppen in einem bestimmten intellektuellen Klima als die einzig berechtigten Vertreter des Fortschritts und der Verantwortung durchsetzen können, steht vor unser aller Augen. Hier kann nur allzu leicht der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden; allzu leicht könnten anstatt des Dämons vergangener geistiger Konstellationen sieben neue und schlimmere Dämonen unser Haus besetzen. (Fs)

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