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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Freiheit und Wahrheit; Neuzeit: Luther; Aufklärung: 2 Richtungen (Naturrecht, Rousseau); Marxismus; J.P. Satre

Kurzinhalt: Der Mensch hat keine Natur, sondern ist nur Freiheit. Er muß das Leben irgendwo hin leben, aber es geht doch ins Leere. Diese sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle. Das Aufregende an diesem Denkansatz besteht darin, daß hier die Trennung von ...

Textausschnitt: Die Problematik der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte und ihres Freiheitsbegriffs

191a Es ist kein Zweifel: Die Epoche, die wir Neuzeit nennen, ist von Anfang an durch das Thema Freiheit bestimmt; der Aufbruch nach neuen Freiheiten ist überhaupt der einzige Grund, der zu einer solchen Periodisierung berechtigt. Luthers Kampfschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« schlägt sofort das Thema in kräftigen Tönen an.1 Es war der Ruf der Freiheit, der die Menschen aufhorchen machte, der eine wahre Lawine in Gang setzte und aus den Schriften eines Mönches eine Massenbewegung entstehen ließ, die das Gesicht der mittelalterlichen Welt von Grund auf umgestaltete. Es ging um die Freiheit des Gewissens gegenüber der kirchlichen Autorität, also um die innerste Freiheit des Menschen überhaupt. Nicht die gemeinschaftlichen Ordnungen retten den Menschen, sondern sein ganz persönlicher Glaube an Christus. Daß plötzlich das ganze Ordnungssystem der mittelalterlichen Kirche letztlich nicht mehr zählte, wurde als ein ungeheurer Befreiungsschub empfunden. Die Ordnungen, die eigentlich tragen und retten sollten, erschienen als Last; sie binden nicht mehr, das heißt sie haben keine Erlösungsbedeutung mehr. Die Erlösung ist Befreiung, Befreiung vom Joch der überindividuellen Ordnungen. Auch wenn man nicht vom Individualismus der Reformation sprechen sollte, so ist doch die neue Bedeutung des einzelnen und die Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Einzelgewissen und der Autorität ein tragender Zug. Diese Befreiungsbewegung blieb freilich auf den eigentlich religiösen Bereich beschränkt. Wo sie, wie in den Bauernkriegen und in der Täuferbewegung, auch zum politischen Programm wurde, hat sich ihr Luther kräftig entgegengestellt. Im politischen Bereich wurde mit der Schaffung der Staats- und Landeskirchen ganz im Gegenteil die Macht der weltlichen Autorität gesteigert und verhärtet. Im angelsächsischen Raum brechen dann die Freikirchen aus dieser neuen Verschmelzung von religiöser und politischer Herrschaft aus und werden so zu Vorläufern einer neuen Konstruktion der Geschichte, die dann in der zweiten Phase der Neuzeit, der Aufklärung, deutliche Gestalt annimmt. (Fs)

192a Der ganzen Aufklärung gemeinsam ist der Wille zur Emanzipation, zunächst im Sinn von Kants »sapere aude - wage, deine Vernunft selbst zu gebrauchen«. Es geht um den Ausbruch der Einzelvernunft aus den Bindungen der Autorität, die alle kritisch überprüft werden müssen. Nur das vernünftig Einsichtige soll gelten. Dieses philosophische Programm ist seinem Wesen nach auch ein politisches Programm: Nur die Vernunft soll herrschen, es soll letztlich keine andere Autorität geben als die der Vernunft. Nur das Einsichtige gilt; was nicht vernünftig, das heißt einsichtig ist, kann auch nicht verpflichten. Diese Grundrichtung der Aufklärung stellt sich aber doch in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Sozialphilosophien und politischen Programmen dar. Mir scheint, man könne zwei große Strömungen unterscheiden: die mehr naturrechtlich orientierte angelsächsische Richtung, die zur konstitutionellen Demokratie als dem einzig realistischen System von Freiheit tendiert; dagegen steht der radikale Ansatz von Rousseau, der letztlich auf die völlige Herrschaftslosigkeit abzielt. Das naturrechtliche Denken kritisiert das positive Recht, die konkreten Herrschaftsformen am Maßstab der inneren Rechte des Menschseins, die allen gesetzlichen Ordnungen vorausgehen, ihr Maß und ihr Grund sind. »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär' er in Ketten geboren« hat in diesem Sinn Friedrich von Schiller gesagt. Das ist nicht ein Satz, der Sklaven mit metaphysischen Gedanken tröstet, sondern ein kämpferischer Satz, eine Handlungsmaxime. Rechtsordnungen, die Sklaverei schaffen, sind Unrechtsordnungen. Von der Schöpfung her hat der Mensch Rechte, die geltend gemacht werden müssen, damit Gerechtigkeit sei. Freiheit wird dem Menschen nicht von außen verliehen. Er hat Recht deshalb, weil er frei geschaffen ist. Aus solchem Denken ist die Idee der Menschenrechte als Magna Charta der modernen Freiheitsbewegung entfaltet worden. Wenn hier von Natur die Rede ist, dann ist nicht einfach ein System von biologischen Abläufen gemeint. Vielmehr wird gesagt, daß vor allen Ordnungsgebilden im Menschen selbst, von seiner Natur her, Rechte da sind. Die Menschenrechtsidee ist in diesem Sinn zunächst eine revolutionäre Idee: Sie steht gegen den Staatsabsolutismus, gegen die Willkür positiver Gesetzgebung. Aber sie ist auch eine metaphysische Idee: Im Sein selbst steckt ein ethischer und rechtlicher Anspruch. Es ist nicht blinde Materialität, die man dann nach purer Zweckmäßigkeit formen kann. Natur trägt Geist in sich, trägt Ethos und Würde in sich und ist so der Rechtsanspruch auf unsere Befreiung und ihr Maß zugleich. Dies ist im Prinzip durchaus der von der Stoa inspirierte und schöpfungstheologisch verwandelte Naturbegriff von Röm 2, was uns hier begegnet: Die Heiden kennen »von Natur« das Gesetz und sind sich so selbst Gesetz (Röm 2,14). (Fs)

193a Das spezifisch Aufklärerisch-Neuzeitliche dieser Denklinie wird man wohl darin sehen dürfen, daß der Rechtsanspruch der Natur gegenüber den bestehenden Herrschaftsgestalten vor allem Einforderung der Rechte des Individuums gegenüber dem Staat, gegenüber den Institutionen ist. Als Natur des Menschen wird es vor allem angesehen, daß er Rechte gegen die Gemeinschaft hat, Rechte, die vor der Gemeinschaft zu schützen sind: Die Institution erscheint als der Gegenpol zur Freiheit; als Träger von Freiheit erscheint das Individuum und als ihr Ziel die volle Emanzipation des Individuums. (Fs)

193b Darin berührt sich diese Strömung mit der zweiten, vom Ansatz her weit radikaleren Richtung: Für Rousseau steht alles, was durch Vernunft und Wille geschaffen wurde, gegen die Natur, ist ihr Verderb und ihr Widerspruch. Der Begriff der Natur ist nicht selbst wieder vom Gedanken des Rechtes geprägt, das als Naturgesetz schon allen unseren Institutionen vorausläge. Rousseaus Naturbegriff ist antimetaphysisch, dem Traum der völligen, durch nichts reglementierten Freiheit zugeordnet.2 Ähnliches taucht bei Nietzsche wieder auf, der das Rauschhaft-Dionysische dem geordneten Apollinischen gegenüberstellt und so Ur-gegensätze der Religionsgeschichte beschwört: Die Ordnungen der Vernunft, für die Apoll steht, verderben den freien, unbeschränkten Rausch der Natur.3 Klages hat dasselbe Motiv aufgenommen mit der Idee vom Geist als Widersacher der Seele: Der Geist ist nicht die große, neue Gabe, in der es überhaupt erst Freiheit gibt, sondern der Zersetzer des Ursprünglichen mit seiner Leidenschaft und Freiheit.4 In gewisser Hinsicht ist diese Kampfansage an den Geist antiaufklärerisch, und insofern konnte sich der Nationalsozialismus mit seiner Feindseligkeit gegenüber der Aufklärung und mit seiner Anbetung von »Blut und Boden« auf solche Richtungen berufen. Aber das Grundmotiv der Aufklärung, der Schrei nach der Freiheit, ist auch hier nicht bloß wirksam, sondern zu seiner radikalsten Form gesteigert. In den politischen Radikalismen des 19. wie des 20. Jahrhunderts sind gegenüber der demokratisch domestizierten Form von Freiheit immer wieder solche Tendenzen in vielfältigen Gestalten durchgebrochen. Die Französische Revolution, die mit einer konstitutionellen demokratischen Idee begonnen hatte, hat schnell diese Fesseln von sich geworfen und sich auf die Bahnen Rousseaus und des anarchischen Freiheitsgedankens begeben; gerade damit ist sie - unausweichlich - zur blutigen Diktatur geworden. (Fs)

194a Auch der Marxismus setzt diese radikale Linie fort: Er hat die demokratische Freiheit immer als Scheinfreiheit kritisiert und eine bessere, radikalere Freiheit verheißen. Seine Faszination kam ja gerade davon, daß er eine größere und kühnere Freiheit verhieß, als sie in den Demokratien verwirklicht ist. Zwei Aspekte des marxistischen Systems scheinen mir für die Freiheitsproblematik der Neuzeit und für die Frage nach Freiheit und Wahrheit besonders wichtig zu sein:

1. Der Marxismus geht davon aus, daß Freiheit unteilbar ist, also als solche nur besteht, wenn sie Freiheit aller ist. Freiheit ist an Gleichheit gebunden: Damit Freiheit sei, muß zuallererst Gleichheit hergestellt werden. Das bedeutet, daß zum Ziel der völligen Freiheit Freiheitsverzichte notwendig sind. Die Solidarität derer, die für die gemeinsame Freiheit aller kämpfen, geht der Durchsetzung der individuellen Freiheiten voran. Das Marx-Zitat, von dem wir ausgegangen sind, zeigt, daß am Ende doch wieder die Idee der schrankenlosen Freiheit des Individuums steht, aber für die Gegenwart gilt die Überordnung des gemeinschaftlichen Aspekts, die Überordnung der Gleichheit über die Freiheit und also das Recht der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. (Fs)

2. Damit verbunden ist die Voraussetzung, daß die Freiheit des einzelnen von der Struktur des Ganzen abhängt und daß der Kampf um die Freiheit zunächst nicht als Kampf um die Rechte des Individuums, sondern als Kampf um eine veränderte Weltstruktur geführt werden muß. Bei der Frage, wie diese Struktur auszusehen habe und welches daher die rationalen Mittel zu ihrer Herstellung seien, ist freilich dem Marxismus der Atem ausgegangen. Denn daß keine der konstruierten Strukturen die Freiheit wirklich ermöglicht, derentwegen die Freiheitsverzichte verlangt werden, konnte eigentlich ein Blinder sehen. Aber Intellektuelle sind blind, wo es um ihre Denkgebilde geht. Deswegen konnten sie jedem Realismus entsagen und weiter für ein System kämpfen, dessen Verheißungen nicht einlösbar waren. Man half sich mit einer Ausflucht ins Mythologische: Die neue Struktur werde einen neuen Menschen hervorbringen - denn in der Tat, nur mit neuen Menschen, mit ganz anderen Menschen könnten die Verheißungen funktionieren. Wenn in der Forderung der Solidarität und in der Idee der Unteilbarkeit der Freiheit der moralische Charakter des Marxismus liegt, so wird in seiner Ankündigung des neuen Menschen eine Lüge deutlich, die auch den moralischen Ansatz paralysiert. Teilwahrheiten sind einer Lüge zugeordnet, und daran scheitert das Ganze: Die Freiheitslüge hebt auch die wahren Elemente auf. Freiheit ohne Wahrheit ist keine Freiheit. (Fs) (notabene)

195a An dieser Stelle stehen wir. Wir sind genau wieder an den Problemen angelangt, die Szczypiorski in Salzburg so drastisch formuliert hat. Was Lüge ist, wissen wir nun - wenigstens in bezug auf die bisherigen Erscheinungsformen des Marxismus. Aber was Wahrheit ist, wissen wir damit noch lange nicht Ja, die Furcht wird stärker: Vielleicht gibt es überhaupt keine Wahrheit? Vielleicht gibt es das Recht und das Richtige überhaupt nicht? Vielleicht müssen wir uns mit minimalen Notordnungen begnügen? Aber vielleicht gelingen gerade auch die nicht, wie die Entwicklungen in so vielen Teilen der Welt zeigen? Die Skepsis wächst, und ihre Gründe werden stärker, aber auch der Wille zum Unbedingten ist nicht aufzuheben. (Fs)

196a Das Gefühl, daß die Demokratie noch nicht die rechte Form der Freiheit sei, ist ziemlich allgemein und breitet sich immer mehr aus. Die marxistische Demokratiekritik kann man nicht einfach beiseite schieben: Wie frei sind Wahlen? Wie weit ist der Wille durch Werbung, also durch das Kapital, durch einige Herrscher über die öffentliche Meinung manipuliert? Gibt es nicht die neue Oligarchie derer, die bestimmen, was modern und fortschrittlich ist, was ein aufgeklärter Mensch zu denken hat? Die Grausamkeit dieser Oligarchie, ihre Möglichkeit öffentlicher Hinrichtungen, ist hinlänglich bekannt. Wer sich ihr in den Weg stellen möchte, ist ein Feind der Freiheit, weil er ja die freie Meinungsäußerung behindert. Und wie ist es mit der Willensbildung in den Gremien demokratischer Repräsentation? Wer möchte noch glauben, daß das Wohl der Allgemeinheit dabei das eigentlich bestimmende Moment sei? Wer könnte an der Macht von Interessen zweifeln, deren schmutzige Hände immer häufiger sichtbar werden? Und überhaupt: Ist das System von Mehrheit und Minderheit wirklich ein System der Freiheit? Und werden nicht Interessenverbände jeder Art zusehends stärker als die eigentliche politische Vertretung, das Parlament? In diesem Gewirr von Mächten steigt das Problem der Unregierbarkeit immer drohender auf: Der gegenseitige Durchsetzungswille blockiert die Freiheit des Ganzen. (Fs) (notabene)

196b Es gibt zweifellos den Flirt mit autoritären Lösungen, die Flucht vor der unbewältigten Freiheit. Aber bestimmend für den Geist unserer Zeit ist diese Haltung noch nicht. Der radikale Strom der Aufklärung hat seine Wirkung nicht verloren, er wird sogar stärker. Gerade angesichts der Grenzen der Demokratie wird der Ruf nach einer totalen Freiheit lauter. Nach wie vor, ja zusehends gelten »Gesetz und Ordnung« als Gegensatz zu Freiheit. Nach wie vor erscheinen Institution, Überlieferung, Autorität an sich als Gegenpole von Freiheit. Der anarchische Zug des Freiheitsverlangens verstärkt sich, weil die geordneten Formen gemeinschaftlicher Freiheit nicht befriedigen. Die großen Verheißungen der aufbrechenden Neuzeit wurden nicht eingelöst, aber ihre Faszination ist ungebrochen. Die demokratisch geordnete Form von Freiheit kann man heute nicht mehr bloß durch diese oder jene Gesetzesreform verteidigen. Die Frage geht an die Grundlagen selbst. Es geht darum, was der Mensch ist und wie er als einzelner und im ganzen richtig leben kann. (Fs)

197a Man sieht: Das politische, das philosophische und das religiöse Problem der Freiheit ist ein unlösbares Ganzes geworden; wer Wege in die Zukunft sucht, muß das Ganze im Blick haben und kann sich nicht mit vordergründigen Pragmatismen begnügen. Bevor ich versuche, Wegrichtungen anzudeuten, die sich mir zu öffnen scheinen, möchte ich noch einen Blick auf die vielleicht radikalste Freiheitsphilosophie des 20. Jahrhunderts werfen, diejenige von J.-P. Sartre, in der die Frage in ihrem ganzen Ernst und ihrer Größe deutlich wird. Sartre sieht die Freiheit des Menschen als seine Verdammnis an. Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch keine »Natur«. Das Tier lebt seine Existenz nach der ihm eingestifteten Gesetzmäßigkeit; es braucht nicht zu überlegen, was es mit seinem Leben anfangen will. Aber das Wesen Mensch ist undeterminiert. Es ist eine offene Frage. Ich muß selbst entscheiden, was ich unter Menschsein verstehen, was ich damit anfangen, wie ich es gestalten will. Der Mensch hat keine Natur, sondern ist nur Freiheit. Er muß das Leben irgendwo hin leben, aber es geht doch ins Leere. Diese sinnlose Freiheit ist des Menschen Hölle. Das Aufregende an diesem Denkansatz besteht darin, daß hier die Trennung von Freiheit und Wahrheit radikal durchgeführt ist: Es gibt gar keine Wahrheit. Die Freiheit hat keine Richtung und kein Maß.5 Aber diese völlige Abwesenheit von Wahrheit, die völlige Abwesenheit jeder auch sittlichen und metaphysischen Bindung, die absolut anarchische Freiheit als Wesensbestimmung des Menschen, enthüllt sich für den, der sie zu leben versucht, nicht als höchste Steigerung der Existenz, sondern als Nichtigkeit des Lebens, als absolute Leere, als die Definition von Verdammnis. In der Extrapolation eines radikalen Freiheitsbegriffs, der für Sartre selbst Lebenserfahrung war, wird sichtbar, daß Befreiung von Wahrheit nicht die reine Freiheit erzeugt, sondern sie aufhebt. Die anarchische Freiheit, radikal genommen, erlöst nicht, sondern macht den Menschen zum mißratenen Geschöpf, zum Sein ohne Sinn. (Fs) (notabene)

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