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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Kopernikus, Galilei, Newton: Platoniker; Geist als Voraussetzung der Naturwissenschaft; Pathologie von Religion und Wissenschaft; Bild: Benedikt (Strahl der Sonne)


Kurzinhalt: ... wird die Grundlage der Wissenschaft selbst widersprüchlich. Denn sie behauptet und leugnet den Geist zugleich. Vor allem aber ist eine so sich beschränkende Vernunft eine amputierte Vernunft.

Textausschnitt: Auf der Suche nach einer neuen Evidenz

126b Kann diese Evidenz, die damals die antike Welt zuinnerst traf und verwandelte, wiederhergestellt werden? Oder ist sie unwiderruflich verloren? Was steht ihr im Wege? Für ihren gegenwärtigen Verfall gibt es viele Ursachen, aber ich würde sagen, die wichtigste bestehe in der Selbstbeschränkung der Vernunft, die paradoxerweise auf ihren Erfolgen beruht: Die methodischen Gesetze, die ihren Erfolg gebracht haben, sind durch ihre Verallgemeinerung zu einem Gefängnis geworden. Die Naturwissenschaft, die die neue Welt gebildet hat, beruht auf einer philosophischen Grundlage, die letztlich bei Platon zu suchen ist.1 Kopernikus, Galilei, auch Newton waren Platoniker. Ihre Grundvoraussetzung war, daß die Welt mathematisch, geistig strukturiert ist und daß man sie von dieser Voraussetzung her enträtseln und im Experiment begreiflich wie nutzbar machen kann. Das Neue besteht in der Verbindung von Piatonismus und Empirie, von Idee und Experiment. Das Experiment beruht auf einer ihm vorangehenden Deutungsidee, die dann im praktischen Versuch abgetastet, korrigiert und für weitere Fragen eröffnet wird. Nur dieser mathematische Vorgriff gestattet dann Verallgemeinerungen, die Erkenntnis von Gesetzen, die zweckmäßiges Handeln ermöglichen. Alles naturwissenschaftliche Denken und alle technische Anwendung beruht auf der Voraussetzung, daß die Welt nach geistigen Gesetzen geordnet ist, Geist in sich trägt, der von unserem Geist nachgezeichnet werden kann. Aber zugleich ist seine Wahrnehmung an die Überprüfung durch die Erfahrung geknüpft. Jeder Gedanke, der über die Verknüpfung hinausgehen, Geist in sich selbst oder als der gegenwärtigen Welt vorausgehend ansehen würde, widerspricht der methodischen Zucht der Wissenschaft und ist daher als vorwissenschaftliche, unwissenschaftliche Denkweise in den Bann getan. Der Logos, die Weisheit, wovon die Griechen einerseits, Israel andererseits geredet haben, ist in die materielle Welt zurückgenommen und außerhalb ihrer nicht mehr diskutabel. (Fs) (notabene)

127a Innerhalb des spezifischen Weges der Naturwissenschaft ist diese Beschränkung richtig und notwendig. Wenn sie aber zur unüberschreitbaren Form menschlichen Denkens erklärt wird, wird die Grundlage der Wissenschaft selbst widersprüchlich. Denn sie behauptet und leugnet den Geist zugleich. Vor allem aber ist eine so sich beschränkende Vernunft eine amputierte Vernunft. Wenn der Mensch nach den wesentlichen Dingen seines Lebens, nach seinem Woher und Wohin, nach seinem Sollen und Dürfen, nach Leben und Sterben nicht mehr vernünftig fragen kann, sondern diese entscheidenden Probleme einem von der Vernunft abgetrennten Gefühl überlassen muß, dann erhebt er die Vernunft nicht, sondern entehrt sie. Die Desintegration des Menschen, die damit gesetzt ist, ruft die Pathologie der Religion und die Pathologie der Wissenschaft gleichermaßen hervor. Daß es heute in der Lösung der Religion aus der Verantwortung vor der Vernunft in wachsendem Maß pathologische Religionsformen gibt, ist offenkundig. Aber wenn wir an menschenverachtende wissenschaftliche Projekte wie Klonierung von Menschen, die Produktion von Föten - das heißt von Menschen - zum Zweck der Ausnutzung von Organen für die Herstellung von pharmazeutischen Produkten oder auch überhaupt zu wirtschaftlicher Verwertung denken oder auch wenn wir uns an die Instrumentalisierung der Wissenschaft zur Herstellung immer schrecklicherer Mittel der Zerstörung des Menschen und der Welt erinnern, dann ist offenkundig, daß es auch pathologisch gewordene Wissenschaft gibt: Wissenschaft wird pathologisch und lebensgefährlich, wo sie sich aus dem Zusammenhang der sittlichen Ordnung des Menschseins verabschiedet und nur noch autonom ihre eigenen Möglichkeiten als ihren einzig zulässigen Maßstab anerkennt. (Fs) (notabene)

128a Das bedeutet: Der Radius der Vernunft muß sich wieder weiten. Wir müssen aus dem selbstgebauten Gefängnis wieder herauskommen und andere Formen der Vergewisserung wieder erkennen, in denen der ganze Mensch im Spiel ist. Was wir brauchen, ist etwas Ähnliches wie das, was wir bei Sokrates finden: eine wartende Bereitschaft, die sich offenhält und ausschaut über sich hinaus. Diese Bereitschaft hat damals die beiden geistigen Welten - Athen und Jerusalem - zusammengeführt und eine neue Geschichtsstunde ermöglicht. Wir brauchen eine neue Bereitschaft des Suchens und auch die Demut, die sich finden läßt. Die Strenge der methodischen Disziplin darf nicht nur Wille zum Erfolg, sie muß Wille zur Wahrheit sein, Bereitschaft für sie. Die methodische Strenge, die sich immer wieder nötigen läßt, sich dem Gefundenen zu unterwerfen und nicht die eigenen Wünsche durchzusetzen, kann eine große Schule des Menschseins bilden und den Menschen wahrheitsfähig machen. Die Demut, die sich dem Gefundenen beugt und es nicht manipuliert, darf aber nicht zur falschen Bescheidenheit werden, die den Mut zur Wahrheit nimmt. Um so mehr muß sie sich der Sucht nach Macht entgegenstellen, die die Welt nur noch beherrschen und nicht mehr ihre eigene innere Logik wahrnehmen will, die unserem Herrschaftswillen Grenzen setzt. Die ökologischen Katastrophen könnten da zu einer Warnung werden, um zu sehen, wo Wissenschaft nicht mehr Dienst an der Wahrheit, sondern Zerstörung der Welt und des Menschen wird. Die Hörfähigkeit für solche Warnungen, der Wille, sich selbst reinigen zu lassen von der Wahrheit, ist unerläßlich. Ich würde hinzufügen: Die mystische Fähigkeit des menschlichen Geistes müßte wieder gestärkt werden. Die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, eine größere innere Offenheit, eine Zucht, die sich dem Lauten und Aufdringlichen entzieht, müssen uns wieder als Ziele erscheinen, die zu unseren Prioritäten gehören. Bei Paulus steht die Mahnung, der innere Mensch müsse stärker werden (Eph 3,16). Seien wir ehrlich: Es gibt heute eine Hypertrophie des äußeren Menschen und eine bedenkliche Schwächung seiner inneren Kraft. (Fs)

129a Um nicht allzu abstrakt zu bleiben, möchte ich das Gemeinte zum Schluß mit einem Bild verdeutlichen, das einer geschichtlichen Erfahrung entnommen ist. Papst Gregor der Große (+ 604) erzählt in seinen Dialogen von den letzten Lebenswochen des heiligen Benedikt. Der Ordensgründer hatte sich im oberen Stockwerk eines Turmes zum Schlafen gelegt, zu dem von unten her »eine gerade Stiege« hinaufführte. Er habe sich dann vor der Zeit des nächtlichen Gebetes erhoben, um Nachtwache zu halten. »Er stand am Fenster und flehte zum allmächtigen Gott. Während er mitten in die dunkle Nacht hinausschaute, sah er plötzlich ein Licht, das sich von oben her ergoß und alle Finsternis der Nacht vertrieb ... Etwas ganz Wunderbares ereignete sich in dieser Schau, wie er später selbst erzählte: Die ganze Welt wurde ihm vor Augen geführt, wie in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt.«2 Gegen diesen Bericht erhebt der Gesprächspartner Gregors Einspruch, mit derselben Frage, wie sie sich auch dem heutigen Hörer aufdrängt: »Was du gesagt hast, daß Benedikt die ganze Welt in einem einzigen Sonnenstrahl gesammelt vor Augen sehen durfte, das habe ich noch nie erlebt und kann es mir auch nicht vorstellen. Wie könnte denn jemals ein Mensch die Welt als Ganze schauen?« Der wesentliche Satz in der Antwort des Papstes lautet: »Wenn er ... die ganze Welt als Einheit vor sich sah, so wurde nicht Himmel und Erde eng, sondern die Seele des Schauenden weit ...«3

129b In dieser Darstellung sind alle Details bedeutsam: die Nacht, der Turm, die Stiege, das Obergemach, das Stehen, das Fenster. All das hat über die topographische und biographische Schilderung hinaus eine große symbolische Tiefe: Dieser Mensch ist in einem langen und mühsamen Weg, der in einer Höhle bei Subiaco begann, auf den Berg und schließlich auf den Turm gestiegen. Sein Leben war ein inneres Aufsteigen, Stufe um Stufe auf der »geraden Leiter«. Er ist im Turm angelangt und da noch einmal im »Obergemach«, das von der Apostelgeschichte an als Symbol der Sammlung nach oben, des Heraussteigens aus der Welt des Werkens und des Machens gilt. Er steht am Fenster - er hat den Ort des Ausblicks gesucht und gefunden, an dem die Mauer der Welt aufgeschlagen ist und der Blick ins Freie hinaus sich öffnet. Er steht. Das Stehen ist in der Mönchstradition Sinnbild des Menschen, der sich aus seiner Verkrümmung aufgerichtet hat, nicht mehr in sich verklemmt nur noch zur Erde schauen kann, sondern die aufrechte Haltung und so den freien Blick nach oben wiedergewonnen hat.4 So wird er zu einem Sehenden. Nicht die Welt wird eng, sondern seine Seele weit, da er nicht mehr vom einzelnen absorbiert ist, von den Bäumen, die den Wald nicht erkennen lassen, sondern den Blick aufs Ganze gewonnen hat. Besser: er kann das Ganze sehen, weil er aus der Höhe sieht, und die kann er finden, weil er innerlich weit geworden ist. Die alte Tradition vom Menschen als Mikrokosmos, der die ganze Welt umspannt, mag nachklingen. Aber das Wesentliche ist eben dies: Der Mensch muß aufsteigen lernen, er muß weit werden. Er muß am Fenster stehen. Er muß Ausschau halten. Und dann kann das Licht Gottes ihn anrühren, er kann ihn erkennen und von ihm her den wahren Über-Blick gewinnen. Die Fixierung auf die Erde darf nicht so ausschließlich werden, daß wir des Aufstiegs, der aufrechten Haltung unfähig werden. Die großen Menschen, die im geduldigen Aufsteigen und in den erlittenen Reinigungen ihres Lebens Sehende und darum Wegweiser der Jahrhunderte geworden sind, gehen uns auch heute an. Sie zeigen uns, wie auch in der Nacht Licht zu finden ist und wie wir den aus den Abgründen menschlicher Existenz aufsteigenden Drohungen begegnen und der Zukunft als Hoffende entgegengehen können. (Fs)

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