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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Vernunft; Glaubenskrise; Religion als Gefühl (Definition, Schleiermacher)

Kurzinhalt: Schleiermacher war der große Theoretiker dieses neuen Religionsbegriffs: »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche« ...

Textausschnitt: 114b Versuchen wir aber zunächst einmal, zusammenzufassen und zu präzisieren, was bis jetzt zutage getreten ist. Die Aufklärung hatte das Ideal der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« auf den Schild gehoben. Aber diese reine Vernunftreligion zerbröckelte schnell, vor allem aber hatte sie keine das Leben tragende Kraft: Religion, die tragende Kraft für das ganze Leben werden soll, braucht zweifellos eine gewisse Einsichtigkeit. Der Zerfall der antiken Religionen wie die Krise des Christentums in der Neuzeit zeigen dies: Wenn Religion mit elementaren Gewißheiten einer Weltansicht nicht mehr in Einklang zu bringen ist, löst sie sich auf. Aber umgekehrt braucht Religion auch eine Ermächtigung, die über das selbst Erdachte hinausreicht, denn nur so ist die unbedingte Forderung annehmbar, die sie an den Menschen erhebt. So hat man nach dem Ende der Aufklärung aus dem Bewußtsein der Unverzichtbarkeit des Religiösen heraus nach einem neuen Raum für die Religion gesucht, in dem sie unangefochten von den weitergehenden Erkenntnissen der Vernunft sozusagen auf einem nicht mehr erreichbaren, von ihr nicht bedrohten Gestirn sollte leben können. Deshalb hatte man ihr das »Gefühl« als den ihr eigenen Sektor menschlicher Existenz zugewiesen. Schleiermacher war der große Theoretiker dieses neuen Religionsbegriffs: »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche«,1 definiert er. Klassisch geworden ist Fausts Antwort auf Gretchens Frage nach der Religion: »Gefühl ist alles. Name ist Schall und Rauch ...« Aber Religion, so nötig ihre Unterscheidung von der Ebene der Wissenschaft auch ist, läßt sich doch nicht sektorial einengen. Sie ist gerade dazu da, den Menschen zu seiner Ganzheit zu integrieren, Gefühl, Verstand und Wille aneinander zu binden und ineinander zu vermitteln und eine Antwort auf die Herausforderung des Ganzen, auf die Herausforderung von Leben und Sterben, von Gemeinschaft und Ich, von Gegenwart und Zukunft zu geben. Sie darf sich nicht anmaßen wollen, Probleme zu lösen, die ihre eigene Gesetzlichkeit haben, aber sie muß zu letzten Entscheidungen befähigen, in denen immer die Ganzheit des Menschen und der Welt im Spiele ist. Und gerade das ist doch unsere Not, daß wir heute die Welt sektorial aufteilen und dabei in einer bisher kaum abzusehenden Weise über sie denkend und handelnd verfügen können, daß aber die nicht abzuweisenden Fragen nach Wahrheit und Wert, nach Leben und Tod damit nur immer unbeantwortbarer werden. (Fs)

116a Die Krise der Gegenwart beruht eben darauf, daß die Vermittlung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Bereich ausfällt, daß Vernunft und Gefühl auseinanderdriften und dabei beide krank werden. Denn die sektorial spezialisierte Vernunft ist zwar ungeheuer stark und leistungsfähig, aber ob der Standardisierung eines einzigen Typs von Gewißheit und von Vernünftigkeit gestattet sie den Durchblick auf die grundlegenden Fragen des Menschen nicht mehr. Daraus folgt eine Hypertrophie im Bereich technisch-pragmatischen Erkennens, der eine Schrumpfung im Grundlagenbereich entgegensteht und so eine Störung des Gleichgewichts, die für das Humanum tödlich werden kann. Umgekehrt ist Religion heute keineswegs abgedankt. Es gibt in mehrfacher Hinsicht geradezu eine Hochkonjunktur des Religiösen, das aber ins Partikuläre zerfällt, sich nicht selten aus seinen großen geistigen Zusammenhängen löst und, anstatt den Menschen aufzurichten, ihm Machtsteigerung und Bedürfnisbefriedigung verheißt. Das Irrationale, das Abergläubische, das Magische wird gesucht; der Rückfall in anarchisch-zerstörerische Formen des Umgangs mit den verborgenen Mächten und Gewalten droht. Man könnte versucht sein zu sagen, es gebe heute keine Krise der Religion, wohl aber eine Krise des Christentums. Ich würde dem nicht zustimmen. Denn die bloße Ausbreitung religiöser oder religionsartiger Phänomene ist noch keine Blüte der Religion. Wenn Erkrankungsformen des Religiösen Hochkonjunktur haben, so bestätigt dies zwar, daß Religion nicht untergeht, aber es zeigt sie doch in einem Zustand ernster Krise. Auch der Anschein, anstelle des ermüdeten Christentums seien nun die asiatischen Religionen oder der Islam im Aufstieg begriffen, trügt. Daß in China und Japan die großen traditionellen Religionen dem Druck der neuzeitlichen Ideologien nicht oder nur ungenügend standzuhalten vermochten, ist offenkundig. Aber auch die religiöse Vitalität Indiens ändert nichts daran, daß auch dort ein geglücktes Miteinander zwischen den neuen Fragen und den alten Überlieferungen bisher nicht gelungen ist. Wieweit der neue Aufbruch der islamischen Welt von wirklich religiösen Kräften gespeist wird, bleibt gleichfalls zu fragen. Vielerorts - wir sehen es - droht auch hier eine pathologische Verselbständigung des Gefühls, die die Drohung des Schrecklichen nur verstärkt, von der Pauli, Heisenberg und Fest uns gesprochen haben. (Fs)

117a Es geht nicht anders: Vernunft und Religion müssen wieder zueinander kommen, ohne sich ineinander aufzulösen. Es geht nicht um Interessenwahrung alter religiöser Körperschaften. Es geht um den Menschen, um die Welt. Und beide sind offenbar nicht zu retten, wenn Gott nicht auf eine überzeugende Weise in Sicht kommt. Niemand kann sich anmaßen, fertig den Weg zu wissen, wie diese Not gelöst werden kann. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil in einer freien Gesellschaft die Wahrheit keine anderen Mittel zu ihrer Durchsetzung suchen kann und darf als eben die Kraft der Überzeugung, Überzeugung aber in der Vielfalt der den Menschen bedrängenden Eindrücke und Forderungen sich nur schwer formt. Aber ein Versuch, den Weg zu finden, muß gewagt werden, um durch Konvergenzen, die sich zeigen, auch wieder Plausibilität zu schaffen für das, was meist weit außerhalb des Horizonts unserer Interessen liegt. (Fs)

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