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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Krise der Theologie; Exegese, historisch-kritische Methode - (implizite) Philosophie (Kant)

Kurzinhalt: Nicht die Exegese beweist die Philosophie, sondern die Philosophie bringt die Exegese hervor.

Textausschnitt: Aufgaben der Theologie

106a So stehen wir alles in allem vor einer merkwürdigen Situation: Die Befreiungstheologie hatte dem Christentum, der Dogmen müde, eine neue Praxis zu geben versucht, durch die nun doch Erlösung endlich Ereignis werden sollte. Aber diese Praxis hat Zerstörung hinterlassen, anstatt Freiheit zu bringen. So blieb der Relativismus und der Versuch, sich mit ihm zu arrangieren. Aber was dabei geboten wird, ist wiederum so leer, daß die relativistischen Theorien bei der Befreiungstheologie Hilfe suchen, um von dort aus praktisch werden zu können. New Age endlich sagt: Lassen wir das gescheiterte Experiment Christentum - kehren wir lieber zu den Göttern zurück, da lebt sich's besser. Viele Fragen tun sich auf. Greifen wir die am meisten praktische heraus: Wieso hat sich die klassische Theologie angesichts dieser Vorgänge als so wehrlos erwiesen? Wo liegen die Schwachstellen, an denen sie unglaubwürdig wurde? (Fs) (notabene)

106b Ich möchte zwei Punkte nennen, die sich von Hick und Knitter her aufdrängen. Beide berufen sich für ihre Rücknahme des Christusglaubens auf die Exegese: Sie sagen, die Exegese habe bewiesen, daß Jesus sich selbst gar nicht für den Sohn Gottes, für Gott im Fleisch hielt, sondern daß er erst hernach allmählich von seinen Anhängern dazu gemacht worden sei.1 Beide - Hick deutlicher als Knitter - berufen sich des weiteren auf philosophische Evidenz. Hick versichert uns, Kant habe unwiderleglich bewiesen, daß das Absolute oder der Absolute in der Geschichte nicht erkannt werden und darin als solches auch nicht vorkommen könne.2 Von der Struktur unserer Erkenntnis her kann es - Kant zufolge - das nicht geben, was der christliche Glaube behauptet: Wunder, Geheimnisse und Gnadenmittel sind Wahnglaube, so erläutert uns Kant in seinem Werk über »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«.3 Die Frage nach der Exegese und diejenige nach den Grenzen und Möglichkeiten unserer Vernunft, also nach den philosophischen Prämissen des Glaubens, scheinen mir in der Tat den eigentlichen Krisenpunkt der gegenwärtigen Theologie anzuzeigen, von dem aus der Glaube - immer mehr auch der Glaube der Einfachen - in die Krise gerät. (Fs)

107a Ich möchte hier nur versuchen, die Aufgabe anzudeuten, die sich uns von daher stellt. Zunächst - was die Exegese angeht, wäre vorab zu sagen, daß Hick und Knitter sich gewiß nicht auf die Exegese überhaupt berufen können, als ob dies alles ein klares und von allen anerkanntes Ergebnis sei. Das ist in historischer Forschung unmöglich, die solche Gewißheiten nicht kennt. Es ist noch viel unmöglicher bei einer Frage, die nicht rein historisch oder literarisch ist, sondern Wertentscheidungen einschließt, die über die bloße Feststellung des Vergangenen und über bloße Textinterpretation hinausgehen. Richtig ist aber, daß bei einem pauschalen Durchblick durch die moderne Exegese ein Eindruck zurückbleiben kann, der demjenigen von Hick und Knitter entspricht. (Fs)

107b Welche Gewißheit kommt dem zu? Setzen wir voraus, die Mehrheit der Exegeten denke so (was bezweifelt werden darf), so bleibt die Frage: Wie begründet ist eine solche Mehrheitsmeinung? Meine These ist: Daß viele Exegeten so denken wie Hick und Knitter und die Geschichte Jesu dementsprechend rekonstruieren, beruht darauf, daß sie deren Philosophie teilen. Nicht die Exegese beweist die Philosophie, sondern die Philosophie bringt die Exegese hervor.4 Wenn ich a priori (mit Kant zu sprechen) weiß, daß Jesus nicht Gott sein kann, daß Wunder, Geheimnisse und Gnadenmittel dreierlei Arten von Wahnglauben sind, dann kann ich auch aus den heiligen Büchern nicht als Tatsache herausfinden, was nicht Tatsache sein kann. Dann kann ich nur herausfinden, warum und wie man zu solchen Behauptungen gelangte, wie sie sich allmählich gebildet haben. (Fs) (notabene)

108a Sehen wir etwas genauer zu. Die historisch-kritische Methode ist ein vorzügliches Instrument, um historische Quellen zu lesen und Texte zu interpretieren. Aber sie hat ihre Philosophie in sich, die im allgemeinen - etwa wenn ich die Geschichte der mittelalterlichen Kaiser zu erkennen versuche - kaum ins Gewicht fällt. Denn dabei möchte ich Vergangenheit kennenlernen, nicht mehr. Auch das geht freilich nicht wertfrei ab, und insofern gibt es auch hier Grenzen der Methode. Wendet man sie auf die Bibel an, so treten sehr deutlich zwei sonst kaum zu bemerkende Faktoren in Erscheinung: Die Methode will das Vergangene als Vergangenes erkennen. Sie will möglichst genau das Damalige in seiner Damaligkeit erfassen, an dem Punkt, an dem es damals stand. Und sie setzt voraus, daß die Geschichte im Prinzip einförmig ist: Der Mensch in all seiner Unterschiedenheit, die Welt in all ihren Verschiedenheiten, ist doch von gleichen Gesetzen und gleichen Grenzen bestimmt, so daß ich ausscheiden kann, was unmöglich ist. Was heute auf gar keine Weise geschehen kann, konnte auch gestern nicht geschehen und wird auch morgen nicht geschehen. (Fs) (notabene)

108b Bezieht man dies auf die Bibel, so heißt das: Ein Text, ein Ereignis, eine Person wird streng in seine Vergangenheit hinein fixiert. Man will herausbringen, was der damalige Autor damals gesagt hat und gesagt bzw. gedacht haben kann. Es kommt auf das »Historische«, das »Damalige« an. Deswegen vermittelt mir historisch-kritische Exegese die Bibel nicht ins Heute, in mein jetziges Leben hinein. Das ist ausgeschlossen. Sie entfernt sie im Gegenteil von mir und zeigt sie streng in der Vergangenheit angesiedelt. Dies ist der Punkt, an dem Drewermann mit Recht historisch-kritische Exegese kritisiert hat, sofern sie allein genügend sein will. Sie spricht ihrem Wesen nach nicht von heute, nicht von mir, sondern vom Gestern, vom anderen. Sie kann deshalb auch nie den Christus heute, morgen und in Ewigkeit, sondern immer nur, wenn sie sich treu bleibt, den Christus gestern zeigen. (Fs)

109a Dazu kommt die zweite Voraussetzung, die Gleichartigkeit von Welt und Geschichte, also das, was Bultmann das moderne Weltbild nennt. M. Waldstein hat in sorgsamer Analyse gezeigt, daß Bultmanns Erkenntnistheorie ganz vom Marburger Neu-Kantianismus bestimmt war.5 Von daher wußte er, was es geben und nicht geben kann. Bei anderen Exegeten wird das philosophische Bewußtsein weniger ausgeprägt sein, aber die Grundlegung durch die Erkenntnistheorie Kants ist stillschweigend immer anwesend, als selbstverständlicher hermeneutischer Einstieg, der den Weg der Kritik leitet. Weil es so ist, kann die kirchliche Autorität nicht einfach von außen her auferlegen, man müsse doch zu einer Christologie der Gottessohnschaft kommen. Wohl aber kann und muß sie dazu auffordern, die Philosophie der eigenen Methode kritisch zu überprüfen. Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen. Gottlob ist heute, in der Krise von Philosophie und Theologie, die wir durchleben, in der Exegese selbst eine neue Grundlagenbesinnung in Gang gekommen, nicht zuletzt auch durch Erkenntnisse, die durch die historisch sorgsame Auslegung der Texte gefunden worden sind.6 Sie helfen dazu, das Gefängnis philosophischer Vorentscheidungen aufzubrechen, das die Auslegung lähmt: Die Weite des Wortes öffnet sich neu. (Fs)

109b Das Problem der Exegese fällt, wie wir sahen, weitgehend mit dem Problem der Philosophie zusammen. Die Not der Philosophie, das heißt die Not, in die sich die positivistisch fixierte Vernunft hineinmanövriert hat, ist zur Not unseres Glaubens geworden. Er kann nicht frei werden, wenn die Vernunft selbst sich nicht neu öffnet. Wenn die Tür zu metaphysischer Erkenntnis verschlossen bleibt, wenn die von Kant fixierten Grenzen menschlichen Erkennens unüberschreitbar sind, dann muß der Glaube verkümmern: Es fehlt ihm einfach die Atemluft. Freilich, der Versuch mit einer streng autonomen Vernunft, die vom Glauben nichts wissen will, sich sozusagen selbst an den Haaren aus dem Sumpf der Ungewißheiten herausziehen zu wollen, wird letztlich kaum gelingen. Denn die menschliche Vernunft ist gar nicht autonom. Sie lebt immer in geschichtlichen Zusammenhängen. Geschichtliche Zusammenhänge verstellen ihr den Blick (wir sehen es); darum braucht sie auch geschichtliche Hilfe, um über ihre geschichtlichen Sperren hinwegzukommen. Ich bin der Meinung, daß der neuscholastische Rationalismus gescheitert ist, der mit einer streng glaubensunabhängigen Vernunft, mit rein rationaler Gewißheit die Praeambula Fidei rekonstruieren wollte; allen Versuchen, die das gleiche möchten, wird es letztlich nicht anders ergehen. Insoweit hatte Karl Barth schon recht, wenn er die Philosophie als glaubensunabhängige Glaubensgrundlage abwies: Dann würde unser Glaube letztlich auf wechselnden philosophischen Theorien gründen. Aber Barth irrte, wenn er deshalb den Glauben zum reinen Paradox erklärte, das immer nur gegen die Vernunft und gänzlich unabhängig von ihr bestehen könne. Nicht die mindeste Funktion des Glaubens ist es, daß er Heilungen für die Vernunft als Vernunft anbietet, sie nicht vergewaltigt, ihr nicht äußerlich bleibt, sondern sie gerade wieder zu sich selber bringt. Das geschichtliche Instrument des Glaubens kann die Vernunft als solche wieder freimachen, so daß sie nun - von ihm auf den Weg gebracht - wieder selber sehen kann. Um einen solchen neuen dialogischen Umgang von Glaube und Philosophie müssen wir uns mühen, denn beide brauchen einander. Die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, aber der Glaube wird ohne die Vernunft nicht menschlich. (Fs)

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