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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Relativismus: Philosophie, Theologie, Christologie; Rekurs auf Asien; J. Hick, Knitters

Kurzinhalt: Relativismus ... Wer sich ihm entgegensetzt, stellt sich nicht nur der Demokratie und der Toleranz, also den Grundgeboten des menschlichen Miteinander entgegen; er beharrt eigensinnig auf der Vorrangstellung seiner eigenen, der westlichen Kultur ...

Textausschnitt: Relativismus - die herrschende Philosophie

94b So ist in der Tat der Relativismus zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde geworden. Er erscheint freilich keineswegs nur als Resignation vor der Unermeßlichkeit der Wahrheit, sondern definiert sich auch positiv von den Begriffen der Toleranz, der dialogischen Erkenntnis und der Freiheit her, die durch die Behauptung einer für alle gültigen Wahrheit eingeschränkt würde. Relativismus erscheint so zugleich als die philosophische Grundlage der Demokratie, die eben darauf beruhe, daß niemand in Anspruch nehmen dürfe, den richtigen Weg zu kennen; sie lebe davon, daß alle Wege einander als Bruchstücke des Versuchs zum Besseren hin anerkennen und im Dialog nach Gemeinsamkeit suchen, zu der aber auch der Wettbewerb der letztlich nicht in eine gemeinsame Form zu bringenden Erkenntnisse gehöre. Ein System der Freiheit müsse seinem Wesen nach ein System sich verständigender relativer Positionen sein, die überdies von geschichtlichen Konstellationen abhängen und neuen Entwicklungen offenstehen müssen. Eine freiheitliche Gesellschaft sei eine relativistische Gesellschaft; nur unter dieser Voraussetzung könne sie frei und nach vorne hin offen bleiben. (Fs) (notabene)

95a Im politischen Bereich hat diese Konzeption weitgehend recht. Die einzig richtige politische Option gibt es nicht. Das Relative, die Konstruktion des freiheitlich geordneten Zusammenlebens der Menschen, kann nicht absolut sein - das zu meinen, war gerade der Irrtum des Marxismus und der politischen Theologien. Freilich kommt man auch im politischen Bereich mit dem totalen Relativismus nicht zu Rande: Es gibt Unrecht, das nie Recht werden kann (zum Beispiel Unschuldige zu töten; einzelnen oder Gruppen das Recht auf ihre Menschenwürde und auf entsprechende Verhältnisse zu versagen); es gibt Recht, das nie Unrecht werden kann. Man kann demnach im politisch-gesellschaftlichen Bereich dem Relativismus ein gewisses Recht nicht absprechen. Das Problem beruht darauf, daß er sich selbst grenzenlos setzt. Er wird nun ganz bewußt gerade auch auf das Feld der Religion und der Ethik angewendet. Nur in ein paar Andeutungen kann ich auf die Entwicklungen verweisen, die hier heute das theologische Gespräch bestimmen. Die sogenannte pluralistische Theologie der Religionen hatte sich zwar schon seit den fünfziger Jahren allmählich entfaltet, ist aber erst jetzt voll ins Zentrum des christlichen Bewußtseins gerückt.1 Sie nimmt heute in etwa, was die Wucht ihrer Problematik wie auch ihre Präsenz in den verschiedensten Kulturräumen angeht, die Stellung ein, die in den 1980er Jahren der Theologie der Befreiung zukam; übrigens verbindet sie sich vielfach mit ihr und versucht, ihr eine neue, aktuelle Gestalt zu geben. Ihre Spielarten sind sehr verschieden, so daß es nicht möglich ist, sie auf eine Kurzformel zu bringen und ihr Wesentliches in Kürze darzustellen. Sie ist einerseits ein typisches Kind der westlichen Welt und ihrer philosophischen Denkformen, berührt sich aber andererseits mit den philosophischen und religiösen Intuitionen Asiens, besonders des indischen Subkontinents in erstaunlicher Weise, so daß gerade die Berührung dieser beiden Welten ihr im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick eine besondere Stoßkraft gibt. (Fs)

Relativismus in der Theologie - die Rücknahme der Christologie

96a Das wird deutlich sichtbar an einem ihrer Gründer und herausragenden Vertreter, dem amerikanischen Presbyterianer J. Hick, dessen philosophischer Ausgangspunkt in Kants Unterscheidung zwischen Phainomenon und Nooumenon liegt: Wir können nie die letzte Wirklichkeit in sich selbst, sondern immer nur ihr Erscheinen in unserer Weise des Wahrnehmens durch verschiedene »Linsen« hindurch sehen. Alles von uns Wahrgenommene ist nicht die eigentliche Realität, die sie in sich selber ist, sondern eine Spiegelung nach unseren Maßen. Diesen Ansatz, den Hick zunächst noch in einem christozentrischen Kontext durchzufuhren versucht hatte, hat er nach einem einjährigen Aufenthalt in Indien in einer, wie er selber sagt, kopernikanischen Wendung des Denkens in eine neue Form von Theozentrik umgewandelt. Die Identifikation einer einzelnen historischen Gestalt, Jesu von Nazareth, mit dem »Realen« selbst, dem lebendigen Gott, wird nun als Rückfall in den Mythos abgelehnt; Jesus wird bewußt zu einem der religiösen Genies unter anderen relativiert. Das Absolute bzw. den Absoluten selbst kann es in der Geschichte nicht geben, nur Modelle, nur Idealgestalten, die uns auf das ganz Andere ausrichten, das in der Geschichte eben als solches nicht zu fassen ist. Es ist klar, daß damit Kirche, Dogma, Sakramente gleichfalls ihre Unbedingtheit verlieren müssen. Solche endliche Vermittlungen absolutzusetzen, sie gar als reale Begegnungen mit der für alle gültigen Wahrheit des sich offenbarenden Gottes anzusehen, heißt dann, das Eigene absolutzusetzen und damit die Unendlichkeit des ganz anderen Gottes zu verfehlen. (Fs)
97a Der Glaube, daß es tatsächlich Wahrheit, die verbindliche und gültige Wahrheit in der Geschichte selbst, in der Gestalt Jesu Christi und des Glaubens der Kirche gebe, wird von solcher Sicht her, wie sie weit über die Theorien von Hick hinaus das Denken beherrscht, als Fundamentalismus qualifiziert, der als der eigentliche Angriff auf den Geist der Neuzeit und als die in vielen Gestalten erscheinende grundlegende Bedrohung ihres höchsten Gutes, der Toleranz und der Freiheit erscheint. So hat auch weithin der Begriff Dialog, der durchaus in der platonischen und in der christlichen Tradition einen bedeutenden Stellenwert hatte, eine veränderte Bedeutung erhalten. Er wird geradezu zum Inbegriff des relativistischen Credo und zum Gegenbegriff gegen »Konversion« und Mission: Dialog im relativistischen Verständnis bedeutet, die eigene Position bzw. den eigenen Glauben auf eine Stufe mit den Überzeugungen der anderen zu setzen, ihm prinzipiell nicht mehr Wahrheit zuzugestehen als der Position des anderen. Nur wenn ich grundsätzlich voraussetze, der andere könne ebenso oder mehr recht haben als ich, komme überhaupt wirklicher Dialog zustande. Dialog müsse Austausch zwischen grundsätzlich gleichrangigen und daher gegeneinander relativen Positionen sein, mit dem Ziel, zu einem Maximum an Kooperation und Integration zwischen den verschiedenen Religionsgestalten zu gelangen.2 Die relativistische Auflösung der Christologie und erst recht der Ekklesiologie wird nun zu einem zentralen Gebot der Religion. Um zu Hick zurückzukehren: Der Glaube an die Göttlichkeit eines einzelnen, so sagt er uns, führe zu Fanatismus und Partikularismus, zur Dissoziation von Glaube und Liebe; gerade dies aber ist zu überwinden.3

Der Rekurs auf die Religionen Asiens

98a Im Denken von J. Hick, den wir hier als herausragenden Vertreter des religiösen Relativismus besonders im Blick haben, berührt sich auf eine merkwürdige Weise die postmetaphysische Philosophie Europas mit der negativen Theologie Asiens, für die das Göttliche nie selbst und unverhüllt in die Welt des Scheins eintreten kann, in der wir leben: Es zeigt sich immer nur in relativen Spiegelungen und bleibt selbst jenseits aller Worte und jenseits allen Begreifens in absoluter Transzendenz.4 Beide Philosophien sind an sich von ihrem Ausgangspunkt wie von der Richtung her, die sie der menschlichen Existenz vorgeben, grundverschieden. Aber sie scheinen sich doch gegenseitig in ihrem metaphysischen und religiösen Relativismus zu bestätigen. Der areligiöse und pragmatische Relativismus Europas und Amerikas kann sich von Indien her eine Art von religiöser Weihe leihen, die seinem Verzicht auf das Dogma die Würde höherer Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes und des Menschen zu geben scheint. Umgekehrt wirkt der Rückgriff europäischen und amerikanischen Denkens auf die philosophische und theologische Vision Indiens verstärkend auf die Relativierung aller religiösen Gestalten zurück, die zum indischen Erbe gehört. So erscheint es nun auch für die christliche Theologie in Indien geradezu als geboten, die als westlich angesehene Gestalt Christi aus ihrer Einzigartigkeit herauszuholen und gleichrangig neben indische Erlösungsmythen zu stellen: Der historische Jesus (so denkt man nun) ist so wenig einfach der Logos überhaupt, so wenig es irgendwelche anderen Erlösergestalten der Geschichte sind.5 Daß sich der Relativismus hier im Zeichen der Begegnung der Kulturen als die wahre Menschheitsphilosophie zu empfehlen scheint, gibt ihm (wie vorhin schon angedeutet) in Ost und West zusehends eine Durchschlagskraft, die praktisch keinen Widerstand mehr zu gestatten scheint. Wer sich ihm entgegensetzt, stellt sich nicht nur der Demokratie und der Toleranz, also den Grundgeboten des menschlichen Miteinander entgegen; er beharrt eigensinnig auf der Vorrangstellung seiner eigenen, der westlichen Kultur und verweigert sich so dem Miteinander der Kulturen, das offenkundig das Gebot der Stunde ist. Wer beim Glauben der Bibel und der Kirche bleiben will, sieht sich fürs erste in ein kulturelles Niemandsland gestoßen; er muß sich erst neu mit der »Torheit Gottes« (1 Kor 1,18) zurechtfinden, um in ihr die wahre Weisheit zu erkennen. (Fs)

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