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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Glaube, Religion und Kultur in der technischen Welt; Relativismus; Mission, Entwicklungshilfe

Kurzinhalt: Die Religionen können in der geschichtlich bewegten Welt gar nicht einfach stehen bleiben, wie sie waren oder sind. Aber der christliche Glaube, der das ganze große Erbe der Religionen in sich trägt und es zugleich auf den Logos, ...

Textausschnitt: 60a Das Relativismusdogma wirkt aber auch noch in eine andere Richtung: Der in der Mission konkret vollzogene christliche Universalismus ist nicht mehr pflichtgemäße Weitergabe eines Gutes, das für alle bestimmt ist, der Wahrheit und der Liebe nämlich; die Mission wird unter dieser Voraussetzung zur blanken Anmaßung einer sich überlegen dünkenden Kultur, die schändlicherweise eine Vielzahl religiöser Kulturen zertreten und so den Völkern ihr Bestes, ihr Eigenes genommen hätte. Von da kommt der Imperativ: Gebt uns unsere Religionen wieder als die rechtmäßigen Wege, wie die einzelnen Völker zu ihrem Gott und Gott zu ihnen kommt; tastet die Religionen nicht an, wo sie noch bestehen! Ist diese Forderung angemessen? An ihr muß sich jedenfalls Sinn oder Unsinn des Relativismus-Dogmas im Bereich der Kulturen und Religionen erweisen.1

61a Zumindest müßte man bei solchen Forderungen sorgsam auf die einzelnen Religionen hinsehen, ob denn wirklich ihre Wiederherstellung wünschenswert sei. Wenn wir zum Beispiel daran denken, daß bei der Weihe des letzten Umbaus des Haupttempels der Azteken im Jahre 1487 »nach den geringsten Schätzungen in vier Tagen 20.000 Menschen auf den Altären Tenochtitlans« (der Hauptstadt der Azteken im Hochtal von Mexiko) als Menschenopfer für den Sonnengott verbluteten, so wird es schwerfallen, die Wiederherstellung dieser Religion zu fordern.2 Solche Opferung geschah, weil die Sonne vom Blut menschlicher Herzen lebte und nur durch Menschenopfer der Untergang der Welt aufgehalten werden konnte. So waren denn auch die Kriege, in denen man die Gefangenen gewann, die als Opfer dienten, göttliches Gebot. Den Erd- und Vegetationsgöttern brachten die Azteken »Männer und Frauen dar, denen meist die Haut abgezogen wurde«; den zwerghaft gedachten Regengöttern opferte man kleine Kinder, die man in Quellen, Wasserlöchern und bestimmten Stellen des Sees von Tetzcoco ertränkte. Es gab Rituale, zu denen das Menschenschinden gehörte. All dies rührte, wie W. Krickeberg feststellt, nicht aus einem angeborenen »Hang zur Grausamkeit«, sondern aus dem fanatischen Glauben an die Pflicht der Menschen, auf diese Weise für den Fortbestand der Welt zu sorgen.3 Dies ist gewiß ein extremes Beispiel, aber es zeigt immerhin, daß man nicht ohne weiteres in allen Religionen Wege Gottes zu den Menschen und des Menschen zu Gott sehen kann. (Fs)

62a Wir müssen aber die Frage grundsätzlicher anfassen. Kann man die Religionen überhaupt einfach so stehen lassen, sozusagen bei ihnen die Geschichte anhalten? Offenkundig ist, daß man nicht Menschen zu einer Art von religions- und kulturgeschichtlichem Naturschutzpark erklären kann, in den die Neuzeit nicht eindringen dürfe. Solche Versuche sind nicht nur unwürdig und im letzten menschenverachtend, sie sind auch völlig unrealistisch. Die Begegnung der Kulturen und das allmähliche Zusammenwachsen der einzelnen Geschichtsräume zu einer einzigen gemeinsamen Menschheitsgeschichte liegt im Wesen des Menschen selbst begründet. Man kann auch nicht selber die Möglichkeiten der technischen Zivilisation ausnutzen und zugleich den anderen seinen eigenen romantischen Traum von der vortechnischen Welt aufdrängen. In der Tat ist ja heute wohl unbestritten, daß die Ausbreitung der Zivilisation der Neuzeit nicht nur faktisch unaufhaltsam ist, sondern daß es eine Frage der Gerechtigkeit bedeutet, den von ihr nicht berührten Kulturen deren Instrumente anzubieten. Daß man dabei behutsamer verfahren und mehr Achtung vor den eigenen Überlieferungen dieser Menschen zeigen muß, als es bisher geschah, steht auf einem anderen Blatt. Nicht die Ausweitung der technischen Möglichkeiten als solche ist schlecht, wohl aber die aufklärerische Anmaßung, mit der man vielfach dabei gewachsene Strukturen zertreten hat und auf den Seelen der Menschen herumgetrampelt ist, deren religiöse und ethische Überlieferungen achtlos beiseite geschoben wurden. Die seelische Entwurzelung und die Zerstörungen des Gemeinschaftsgefüges, die dabei geschehen sind, sind sicher ein Hauptgrund, warum Entwicklungshilfe bisher nur in den seltensten Fällen zu positiven Ergebnissen geführt hat. Man glaubte, es genüge, technisches Können zu entwickeln; daß der Mensch auch Überlieferung, von innen tragende Werte braucht, wurde und wird weithin ausgeklammert. (Fs)

63a Aber nun könnte man fragen: Soll man also nicht doch so vorgehen, daß man die Technik behutsam weitergibt, aber die Religionen stehen läßt? Dieser auf den ersten Blick so einleuchtende Gedanke führt dennoch in die Irre. Denn man kann nicht in ganz anderen Situationen gewachsene Religionen als solche konservieren, in die Statik einer Art von religiösem Naturschutz einschließen, und gleichzeitig das technische Weltbild daraufsetzen. Die technische Zivilisation ist ja nicht einfach religiös und moralisch neutral, auch wenn sie glaubt, es zu sein. Sie verändert die Maßstäbe und die Verhaltensweisen. Sie ändert die Interpretation der Welt von ihrem Grunde her. Der religiöse Kosmos kommt durch sie unweigerlich in Bewegung. Das Ankommen dieser neuen Möglichkeiten der Existenz ist wie ein Erdbeben, das die geistige Landschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Allerdings gibt es in zunehmendem Maß den Vorgang, daß der christliche Glaube als europäisches Kulturerbe der eigenen Authentizität willen abgeschüttelt und religiös die heidnischen Religionen wiederhergestellt werden, während man gleichzeitig die Technik, obgleich nicht weniger westlich, leidenschaftlich aufnimmt und ausnutzt. Diese Teilung des westlichen Erbes in das Nützliche, das man akzeptiert, und in das Fremde, das man fallen läßt, führt allerdings gerade nicht zur Rettung der alten Kulturen. Denn nun zeigt sich, daß das Große, Vorwärtsweisende, ich möchte sagen: die adventliche Dimension der alten Religionen dabei zu Fall kommt, weil sie mit den neuen Erkenntnissen über Welt und Mensch unvereinbar scheint und ihr Interesse verliert, während das Magische im weitesten Sinn des Wortes, alles, was Macht über die Welt verspricht, erhalten bleibt und erst vollends lebensbestimmend wird. Die Religionen verlieren so ihre Würde, weil das Beste von ihnen abgeschnitten wird und das, was ihre Gefährdung war, als einziges übrigbleibt. Das ließe sich sehr gut am Beispiel des Vodun zeigen. In seiner originären Form ist er letztlich von einem Vorgriff auf das Pascha-Mysterium, auf Tod und Auferstehung geprägt; die Frage der Initiation ins Menschsein, der Hochzeit der Geschlechter, der Sündenvergebung - all die großen sakramentalen Grundfiguren bestimmen ihn in seinem Wesensge-füge.4 Aber diese mythologische Form bedarf einer neuen rationalen Vermittlung, einer neuen Mitte, die Vodun selber sich nicht geben kann. In seiner geschichtlichen Stunde streckte es sich aus nach dem noch Unbekannten hin. Wo aber einfach Technik und Vodun aufeinandergesetzt werden, zerbricht diese nach vorwärts weisende Gebärde und übrig bleiben die magischen Potentiale, die sich nun als eine arationale Nebenwelt neben die technische und ihre einseitige Rationalität stellen. Immer mehr Europäer, denen der christliche Glaube zerbricht, nehmen diese irrationalen Kräfte auf, und so erst geschieht wirkliche Paganisierung: ein Abgeschnittenwerden des Menschen von Gott; der Mensch sucht nur noch nach verschiedenen Machtsystemen und zerstört dabei sich selbst und die Welt. Dies aber ist genau die falsche Art von Begegnung der Kulturen, im Grund eine Nicht-Begegnung, in der Rationalismus und Irrationalismus sich auf eine fatale Weise miteinander verbinden. Die Religionen können in der geschichtlich bewegten Welt gar nicht einfach stehen bleiben, wie sie waren oder sind. Aber der christliche Glaube, der das ganze große Erbe der Religionen in sich trägt und es zugleich auf den Logos, auf die wahre Vernunft hin öffnet, könnte ihrem tiefsten Wesen neuen Bestand geben und zugleich die wahre Synthese von technischer Rationalität und Religion ermöglichen, die nicht durch die Flucht ins Irrationale, sondern nur durch die Öffnung der Vernunft zu ihrer wahren Höhe und Weite geschehen kann. (Fs)

65a An dieser Stelle liegen die großen Aufgaben des gegenwärtigen geschichtlichen Augenblicks. Zweifellos muß christliche Mission die Religionen in einer viel tieferen Weise verstehen und aufnehmen als bisher geschehen, aber umgekehrt bedürfen die Religionen, um in ihrem Besten weiterzuleben, der Anerkennung ihres eigenen adventlichen Charakters, der sie nach vorne, auf Christus verweist. Wenn wir in diesem Sinn auf eine interkulturelle Spurensuche nach der einen gemeinsamen Wahrheit gehen, dann wird sich Unerwartetes zeigen: Die Gemeinsamkeiten des Christentums mit den alten Kulturen der Menschheit sind größer als die Gemeinsamkeiten mit der relativistisch-rationalistischen Welt, die sich aus den tragenden Grunderkenntnissen der Menschheit gelöst hat und so den Menschen in ein Sinnvakuum verweist, das tödlich zu werden droht, wenn ihm nicht rechtzeitig Antwort wird. Denn quer durch die Kulturen geht das Wissen um die Verwiesenheit des Menschen auf Gott und auf das Ewige; das Wissen um Sünde, Buße und Vergebung; das Wissen um Gottesgemeinschaft und ewiges Leben und schließlich das Wissen um die sittlichen Grundordnungen, wie sie im Dekalog Gestalt gefunden haben. Nicht der Relativismus wird bestätigt, sondern die Einheit des Menschseins und sein gemeinsames Angerührtsein von einer Wahrheit, die größer ist als wir. (Fs)

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