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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Titel: Glaube - Wahrheit - Toleranz

Stichwort: Kultur - Glaube; Christentum: Bruch, Exodus - Gravitationspunkt der Weltgeschichte; Christus als Mensch in Ewigkeit

Kurzinhalt: Dieses Kultursubjekt Kirche, Volk Gottes, fällt auch in Zeiten scheinbar völliger Ver-christlichung einzelner Völker ... mit keinem dieser historischen Einzelsubjekte zusammen, sondern behält seine eigene übergreifende Gestalt

Textausschnitt: 57a Aus dem Gesagten folgt etwas sehr Wichtiges. Man könnte meinen, daß die Kultur jeweils Sache des einzelnen Geschichtssubjektes (Deutschland, Frankreich, Amerika usw.) sei, während der Glaube erst auf der Suche nach kulturellem Ausdruck wäre. Die einzelnen Kulturen würden ihm sozusagen erst seinen kulturellen Körper zuteilen. Der Glaube müßte dann immer nur von Leihkulturen leben, die ihm aber auch irgendwie alle äußerlich blieben und wieder abgestreift werden könnten. Vor allem würde die eine Leihform von Kultur den anderen nichts angehen, der in einer anderen lebt. Die Universalität müßte dabei letztlich fiktiv werden. Solches Denken ist im Grunde manichäisch: Es erniedrigt die Kultur zu bloßem, austauschbarem Körper; es verflüchtigt den Glauben in bloßen und letztlich wirklichkeitslosen Geist. Freilich ist eine solche Auffassung typisch für die nachaufklärerische Geisteshaltung. Kultur wird ins bloß Formale, Religion ins Ausdruckslose des bloßen Gefühls oder des reinen Gedankens verwiesen. So entfällt die fruchtbare Spannung, die durch die Koexistenz zweier Subjekte an sich entstehen müßte. Wenn Kultur mehr ist als bloße Form oder bloße Ästhetik, wenn sie vielmehr Ordnung von Werten in einer geschichtlichen Lebensgestalt ist und von der Frage nach dem Göttlichen gar nicht absehen kann, dann ist nicht daran vorbeizukommen, daß Kirche für den Gläubigen ein eigenes Kultursubjekt ist. Dieses Kultursubjekt Kirche, Volk Gottes, fällt auch in Zeiten scheinbar völliger Ver-christlichung einzelner Völker, wie man sie in Europa gegeben glaubte, mit keinem dieser historischen Einzelsubjekte zusammen, sondern behält seine eigene übergreifende Gestalt und ist gerade dadurch bedeutsam. (Fs) (notabene)

57b Wenn es so steht, dann kann es in der Begegnung zwischen dem Glauben und seiner Kultur mit einer ihm bisher fremden Kultur nicht darum gehen, diese Zweiheit der Kultursubjekte nach der einen oder nach der anderen Seite hin aufzulösen. Sowohl die Preisgabe des eigenen kulturellen Erbes zugunsten eines Christentums ohne konkrete menschliche Färbung wie das Verschwinden der eigenen kulturellen Physiognomie des Glaubens in der neuen Kultur wäre verfehlt. Gerade die Spannung ist fruchtbar, erneuert den Glauben und heilt die Kultur. Demgemäß wäre es auch unsinnig, ein sozusagen vorkulturelles oder dekulturiertes Christentum anzubieten, das seiner eigenen geschichtlichen Kraft beraubt und zu einer leeren Sammlung von Ideen degradiert würde. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Christentum bereits im Neuen Testament die Frucht einer ganzen Kulturgeschichte in sich trägt, eine Geschichte des Annehmens und Abstoßens, des Begegnens und des Veränderns. Die Glaubensgeschichte Israels, die in ihm aufgehoben ist, hat im Ringen mit der ägyptischen, der hethitischen, der sumerischen, der babylonischen, der persischen, der griechischen Kultur ihre Form gefunden. All diese Kulturen waren zugleich Religionen, umfassende geschichtliche Lebensformen, die im Ringen Gottes mit Israel, im Ringen seiner großen prophetischen Gestalten leidvoll aufgenommen und verwandelt wurden, um ein immer reineres Gefäß für das Neue der Offenbarung des einen Gottes bereitzustellen, aber gerade so fanden auch jene Kulturen zu ihrer bleibenden Erfüllung. Sie wären inzwischen alle in ferne Vergangenheit versunken, wenn sie nicht im Glauben der Bibel gereinigt und erhöht Gegenwart geblieben wären. Gewiß, die Glaubensgeschichte Israels beginnt mit dem Ruf an Abraham: »Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus« (Gen 12,1); sie beginnt mit einem Kulturbruch. Ein solcher Bruch mit der eigenen Vorgeschichte, ein solches Ausziehen wird immer am Beginn einer neuen Stunde der Glaubensgeschichte stehen. Aber dieser neue Anfang erweist sich dann als eine Kraft der Heilung, die eine neue Mitte schafft und alles wahrhaft Menschengemäße, wahrhaft Gottgemäße an sich zu ziehen vermag. »Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle an mich ziehen« (Joh 12,31) - dieses Wort des erhöhten Herrn gehört auch in unseren Zusammenhang herein: Das Kreuz ist zuerst Bruch, Ausgestoßenwerden, von der Erde weg Erhöhtsein, aber gerade so wird es zum neuen, nach oben ziehenden Gravitationspunkt der Weltgeschichte, zur Sammlung des Getrennten. (Fs) (notabene)

59a Wer in die Kirche eintritt, muß sich bewußt sein, daß er in ein eigenes Kultursubjekt mit einer eigenen historisch gewachsenen und vielfältig geschichteten Interkulturalität eintritt. Ohne einen gewissen Exodus, einen Umbruch des Lebens in all seinen Bezügen kann man nicht Christ werden. Der Glaube ist ja nicht ein Privatweg zu Gott; er fuhrt in das Volk Gottes und in seine Geschichte hinein. Gott hat sich selbst an eine Geschichte gebunden, die nun auch die seinige ist und die wir nicht abstreifen können. Christus bleibt Mensch in Ewigkeit, behält Leib in Ewigkeit; Menschsein und Leibsein schließen aber Geschichte und Kultur ein, diese ganz bestimmte Geschichte mit ihrer Kultur, ob es uns gefallt oder nicht. Wir können nicht den Vorgang der Inkarnation beliebig in dem Sinn wiederholen, daß wir sozusagen immer wieder Christus sein Fleisch wegnehmen und ihm ein anderes statt dessen anbieten. Christus bleibt er selbst, auch seinem Leibe nach. Aber er zieht uns an sich. Das bedeutet: Weil das Volk Gottes kein einzelnes Kulturgebilde ist, sondern aus allen Völkern versammelt wird, daher hat auch die erste Identität, auferstehend aus dem Bruch, in ihm Platz und nicht nur das, sie ist notwendig, um die Menschwerdung Christi, des Logos, zu ihrer ganzen Fülle kommen zu lassen. Die Spannung der vielen Subjekte in dem einen Subjekt gehört wesentlich zum unabgeschlossenen Drama der Menschwerdung des Sohnes. Sie ist die eigentliche innere Dynamik der Geschichte und steht freilich auch immer unter dem Zeichen des Kreuzes, das heißt sie hat immer auch mit dem entgegengesetzten Schwergewicht der Abschließung und der Verweigerung zu kämpfen. (Fs) (notabene)

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