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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Notion der Objektivität; erfahrungsmäßige Objektivität; das Gegebene: unbezweifelbar, diffus, unbestimmt; Bestimmung des Gegebenen vom Erkenntnisstreben aus

Kurzinhalt: Ebenso ist das Gegebene unbezweifelbar. Was bezweifelt werden kann, ist die Antwort auf eine Frage nach Reflexion ...

Textausschnitt: 4. Die erfahrungsmäßige Objektivität

441a Der dritte Aspekt der Objektivität ist der erfahrungsmäßige. Er ist das Gegebene als gegebenes. Er ist das Feld der Materialien, über die man die Untersuchung anstellt, in denen man die Erfüllung der Bedingungen für das Unbedingte findet, zu denen der Erkenntnisprozeß immer wieder zurückkehrt, um die Reihe der Untersuchungen und Reflexionen zu schaffen, welche die Menge der Urteile ergeben, die den Kontext ausmachen. (Fs)

441b Ferner, das Gegebene ist unbestreitbar und unbezweifelbar. Was durch die Antwort auf Fragen konstituiert wird, kann durch andere Fragen umgeworfen werden. Das Gegebene aber ist unabhängig vom Fragen konstituiert; es bleibt dasselbe, was immer das Resultat des Fragens sein mag; es ist unbestreitbar in dem Sinne, daß es außerhalb der Erkenntnisebenen liegt, welche sich durch Fragen und Antworten [382] konstituieren. Ebenso ist das Gegebene unbezweifelbar. Was bezweifelt werden kann, ist die Antwort auf eine Frage nach Reflexion; ein "Ja" oder ein "Nein". Aber das Gegebene ist nicht die Antwort auf irgendeine Frage; es geht jeder Frage voraus und ist unabhängig von jeglicher Antwort. (Fs)

441c Ferner, das Gegebene ist residual und von sich aus diffus. Es ist möglich, im Gegebenen Elemente auszuwählen und diese klar und präzise anzugeben. Die Auswahl und die Angabe aber sind das Werk von Einsicht und Formulierung, und das Gegebene ist das Residuum, das übrigbleibt, wenn man vom Angegebenen

(1) den instrumentellen Akt der Bedeutung, mit dem man angibt;
(2) die Begriffe, die durch diesen instrumentellen Akt ausgedrückt werden;
(3) die Einsichten, auf denen die Begriffe beruhen, wegnimmt. (Fs)

Weil nun das Gegebene einfach das Residuum ist, weil es nur durch intellektuelle Handlungen ausgewählt und bezeichnet werden kann, ist es von sich aus diffus; das Feld des Gegebenen enthält Unterschiede, aber insofern diese einfach in diesem Felde liegen, sind die Unterschiede unbestimmt. (Fs) (notabene)

442a Ferner, das Feld des Gegebenen ist in all seinen Teilen in gleicher Weise gültig, in seinen verschiedenen Teilen aber verschieden bedeutsam. (Fs)

Es ist in gleicher Weise gültig in all seinen Teilen in dem Sinne, daß es vor der Untersuchung keine Auswahl gibt. Die Auswahl ist die Frucht der Untersuchung. Sie findet statt, erst wenn die Untersuchung begonnen hat. (Fs)

442b Es ist in seinen verschiedenen Teilen von verschiedener Bedeutung in dem Sinne, daß einige Teile für einige Abteilungen der Erkenntnis bedeutsam sind und andere für andere. Der Physiker hat abzusehen von dem, was er sich bloß in seiner Phantasie vorstellt, sich erträumt oder aus seinem persönlichen Beobachtungsfehler ableitet. Der Psychologe hat die Vorstellungen der Phantasie, die Träume und die persönlichen Beobachtungsfehler zu erklären. Wenn also die Untersuchung begonnen hat, dann besteht der erste Schritt in der Auswahl des relevanten Feldes des Gegebenen. (Fs)

442c Wir verwenden den Terminus "Gegebenes" in einem sehr breiten Sinne. Er schließt nicht nur die mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Lieferungen der äußeren Sinne mit ein, sondern auch Bilder der Phantasie, Träume, Illusionen, Halluzinationen, persönliche Beobachtungsfehler, subjektive Befangenheit und so fort. Zweifellos wäre eine engere Verwendung des Terminus erwünscht, wenn wir vom beschränkten Gesichtspunkt der Naturwissenschaft sprächen. Wir arbeiten hier jedoch an einer allgemeinen Theorie der Objektivität und haben deshalb nicht nur die Materialien, welche die Naturwissenschaft untersucht, als gegeben anzuerkennen, sondern auch die Materialien, über die der Psychologe oder Methodologe oder Kulturhistoriker Untersuchungen anstellt. (Fs)

[383] Es gibt einen tieferen Grund. Unsere Erklärung des Gegebenen ist äußerlich. Sie schließt keine Beschreibung des Stromes des sinnlichen Bewußtseins mit ein. Sie schließt keine Theorie dieses Stromes mit ein. Sie erörtert weder den Beitrag des empirisch bewußten Subjektes noch den Beitrag anderer "äußerlicher" Wirkursachen. Sie bemerkt einfach, daß Reflexion und Urteil ein Verstehen voraussetzen, daß Untersuchen und Verstehen Materialien für die Untersuchung und etwas, das verstanden werden soll, voraussetzen. Solche vorausgesetzten Materialien sind unbestreitbar und unbezweifelbar, insofern sie nicht durch Antworten auf Fragen konstituiert sind. Sie sind residual und diffus, weil sie das sind, was übrigbleibt, wenn die Erträge des Untersuchens und Reflektierens von den Erkenntnisinhalten abgezogen werden. (Fs)

442d Nun müssen solche unbestreitbaren und unbezweifelbaren, residualen und diffusen Materialien für die Untersuchung und die Reflexion als in allen ihren Teilen in gleicher Weise gültig angesehen werden. Wären sie alle ungültig, dann könnte es weder eine Untersuchung noch eine Reflexion geben, und so könnte auch nicht vernünftig behauptet werden, daß sie ungültig sind. Wären einige gültig und andere ungültig, dann müßte es ein vernünftig bejahtes Selektionsprinzip geben; ein solches Prinzip kann aber nur erfaßt und vernünftig bejaht werden, wenn die Untersuchung einmal begonnen hat. Vor der Untersuchung kann es keine intelligente Unterscheidung und keine vernünftige Zurückweisung geben. (Fs)

443a Es gibt einen noch tieferen Grund. Warum muß das Gegebene äußerlich definiert werden? Weil alle Objektivität auf dem uneingeschränkten, unparteiischen und uneigennützigen Streben nach Erkenntnis beruht. Dieses Streben stellt die kanonischen Prinzipien für die normative Objektivität auf. Dieses Streben läßt die absolute Objektivität aufkommen, die im Urteil impliziert ist. Dieses Streben ergibt die Konstellation der Urteile, die implizit die Hauptnotion voneinander unterschiedener Objekte im Universum des Seins definieren, von denen einige andere erkennen. Die erfahrungsmäßige Objektivität muß auf derselben Basis beruhen, und so wird das Gegebene nicht unter Bezugnahme auf den sinnlichen Prozeß definiert, sondern durch das reine Erkenntnisstreben, das den Strom des empirischen Bewußtseins als die Materialien für seine Handlungen betrachtet. (Fs) (notabene)

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