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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Notion der Objektivität; Hauptnotion; Problem der Transzendenz

Kurzinhalt: Sechstens, die Hauptnotion der Objektivität löst das Problem der Transzendenz. Wie geht das erkennende Subjekt über sich selbst hinaus auf ein Erkanntes zu?

Textausschnitt: XIII. Kapitel DIE NOTION DER OBJEKTIVITÄT

434a Das menschliche Erkennen ist zyklisch und kumulativ. Es ist zyklisch, insofern der Erkenntnisprozeß von der Erfahrung durch Untersuchung und Reflexion zum Urteil fortschreitet, nur um sich von neuem der Erfahrung zuzuwenden und seinen Aufstieg zu einem anderen Urteil wiederzubeginnen. Es ist kumulativ, nicht nur insofern das Gedächtnis Erfahrungen speichert und der Verstand Einsichten sammelt, sondern auch weil die Urteile sich zu jenem Kontext verbinden, der Wissen oder Mentalität genannt wird. (Fs)

434b Die Komplexität unseres Erkennens zieht eine parallele Komplexität in unserer Notion der Objektivität nach sich. In ihrer Hauptbedeutung ist die Notion der Objektivität in einem Kontext von Urteilen gemäß einem bestimmten Schema enthalten, die als implizite Definitionen der Termini Objekt und Subjekt dienen. Aber neben dieser Haupt- und vollständigen Notion gibt es auch partielle Aspekte oder Komponenten, die innerhalb des Erkenntnisprozesses entstehen. So gibt es einen erfahrungsmäßigen Aspekt der Objektivität, der der Sinneserfahrung und dem empirischen Bewußtsein eigen ist. Es gibt einen normativen Aspekt, der im Kontrast zwischen dem unvoreingenommenen und uneingeschränkten Erkenntnisstreben einerseits und den rein subjektiven Wünschen und Ängsten andererseits enthalten ist. Schließlich gibt es einen absoluten Aspekt, der in den einzelnen und für sich selbst genommenen Urteilen enthalten ist, insofern jedes Urteil auf einem Erfassen des Unbedingten beruht und ohne Vorbehalte gesetzt wird. (Fs)
1. Die Hauptnotion


434c Die Notion der Objektivität ist nach ihrer Hauptbedeutung im Kontext eines bestimmten Schemas von Urteilen enthalten. Denn man kann als Objekte jedes A, B, C, D, ... definieren, wobei A, B, C, D, ... ihrerseits durch die Korrektheit folgenden Satzes von Urteilen definiert werden:

A ist; B ist; C ist; D ist; ...
A ist weder B noch C noch D noch ...
B ist weder C noch D noch ...
C ist weder D noch ...

435a Ferner, man kann ein Subjekt wie jegliches Objekt definieren, z. B. A, wobei es wahr ist, daß A sich als erkennendes Subjekt bejaht in dem Sinne, wie es im Kapitel über Selbstbejahung erklärt wurde. (Fs)
Das unabdingbar Wesentliche der Notion der Objektivität wird erreicht, wenn [376] wir den schon diskutierten Urteilen, nämlich: "Ich bin ein erkennendes Subjekt" und "Dies ist eine Schreibmaschine", das weitere Urteil hinzufügen: "Ich bin nicht diese Schreibmaschine". Eine unbegrenzte Anzahl weiterer Objekte kann hinzugefügt werden, indem wir die entsprechenden weiteren positiven und negativen Urteile fällen. Insofern man schließlich die Existenz anderer erkennender Subjekte außer einem selbst intelligent erfassen und vernünftig bejahen kann, kann man der Liste die Objekte anfügen, die auch Subjekte sind. (Fs)

435b Die Eigenschaften der Hauptnotion der Objektivität müssen nun vorgestellt werden. Erstens, wie schon bemerkt wurde, liegt die Notion in einem Kontext von Urteilen; ohne eine Mehrzahl von Urteilen, die einem bestimmten Muster genügen, entsteht die Notion gar nicht. Zweitens, ein unmittelbares Korollarium folgt: Die Hauptnotion der Objektivität, so wie sie definiert worden ist, ist nicht in einem Einzelurteil enthalten und noch weniger in irgendeinem erfahrungsmäßigen oder normativen Faktor, der im Erkenntnisprozeß vor dem Urteil vorkommt. Drittens, die Gültigkeit der Hauptnotion der Objektivität ist dieselbe wie die Gültigkeit des Satzes von Urteilen, die diese Notion enthalten; wenn die Urteile korrekt sind, dann ist es korrekt, daß es Objekte und Subjekte im definierten Sinne gibt; denn der definierte Sinn ist einfach die Korrektheit des geeigneten Schemas von Urteilen. (Fs)

435c Viertens, um uns nun gewissen weitreichenderen Aspekten der Hauptnotion zuzuwenden, werden Urteile nach dem angegebenen Muster gefällt, und sie werden gemeinhin als korrekt betrachtet. Es folgt, daß die Menschen gemeinhin Objekte und Subjekte erkennen und sich wundern, wenn jemand daran zweifeln sollte. Andererseits folgt daraus nicht, daß die Menschen gemeinhin fähig sind, eine klare Rechenschaft über ihre Erkenntnis von Objekten und Subjekten abzulegen. Denn die klare Rechenschaft verwendet die etwas verborgene Kunst der impliziten Definition, während die Menschen geneigt sind, zur Konklusion zu springen, daß eine so evidente Sache wie die Existenz von Objekten und Subjekten doch auf etwas so Evidentem und Naheliegendem beruhen müsse, wie es der Erfahrungsaspekt der Objektivität ist. Deshalb werden sie einerseits sagen, die Schreibmaschine sei ein Objekt, weil sie es sehen oder betasten; andererseits aber werden sie zugeben, daß sie die Schreibmaschine nicht als Objekt betrachten würden, wenn sie wüßten, daß es wahr ist, daß entweder gar keine Schreibmaschine da war oder daß das, was sie eine Schreibmaschine nannten, identisch mit jedwedem anderen Ding war. (Fs)

436a Fünftens, die Hauptnotion der Objektivität ist eng mit der Notion des Seins verwandt. Das Sein ist das, was durch die Gesamtheit der korrekten Urteile zu erkennen ist. Die Objektivität ist in ihrer Hauptbedeutung das, was durch jeden [377] beliebigen Satz von Urteilen erkannt wird, die einem bestimmten Muster genügen. Kurzum, es gibt Objektivität, wenn es mehrere Seiende gibt, von denen manche sowohl sich selbst als auch andere als andere erkennen. Die Notion von Sein erklärt zudem, warum die Objektivität in ihrer Hauptbedeutung nur durch ein Muster von Urteilen zu erreichen ist. Die Notion des Seins wird nämlich nur bestimmt, insofern Urteile gefällt werden; vor dem Urteil kann man über das Sein denken, aber es nicht erkennen; und jedes Einzelurteil ist nur ein minimaler Zuwachs im Prozeß, es zu erkennen. Ferner, das Sein ist von innen her aufgeteilt; denn außer dem Sein gibt es nichts; es folgt, daß es kein Subjekt geben kann, das außerhalb des Seins steht und von dort das Sein anschaut. Das Subjekt muß sein, ehe es auf das Sein hinschauen kann; und wenn es ist, dann ist es nicht außerhalb des Seins, sondern entweder das Ganze oder ein Teil davon. Wenn es das Ganze des Seins ist, dann ist es das einzige Objekt. Wenn es lediglich ein Teil ist, dann muß es eine Vielfalt von Teilen zu erkennen beginnen (A ist; B ist; A ist nicht B) und hinzufügen, daß ein Teil andere erkennt ("Ich bin A"). (Fs)

436b Sechstens, die Hauptnotion der Objektivität löst das Problem der Transzendenz. Wie geht das erkennende Subjekt über sich selbst hinaus auf ein Erkanntes zu? Die Frage ist, wie ich meine, irreführend. Sie setzt voraus, daß das Erkennende sich selbst kennt und fragt, wie es etwas anderes erkennen könne. Unsere Antwort enthält zwei Elemente. Einerseits behaupten wir, daß das erkennende Subjekt, während es sich selbst erfahren oder ohne Urteil über sich nachdenken kann, sich selbst doch nicht erkennt, so lange es nicht die korrekte Bejahung vornimmt: "Ich bin"; erst dann erkennt es sich selbst Seiendes und als Objekt. Andererseits behaupten wir, daß andere Urteile ebenso möglich und vernünftig sind, so daß durch Erfahrung, Untersuchung und Reflexion eine Erkenntnis von anderen Objekten sowohl als Seienden, wie auch als vom erkennenden Subjekt verschiedenen Seienden entsteht. Wir setzen deshalb die Transzendenz nicht im Hinausgehen über ein erkanntes erkennendes Subjekt, sondern in einer Bewegung auf das Sein hin, innerhalb dessen es positive Unterschiede gibt, und unter diesen Unterschieden auch der Unterschied zwischen Objekt und Subjekt. Insofern solche Urteile vorkommen, gibt es tatsächlich Objektivität und Transzendenz; und ob solche Urteile korrekt sind oder nicht, ist eine andere Frage, die gelöst werden muß gemäß den Richtlinien, die in der Urteilsanalyse aufgestellt worden sind. (Fs)

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