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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Nachkonzilszeit; Anschwärzen der Vergangenheit (Beispiele); das radikal Neue - Verlust der Sicht der Kontinuität

Kurzinhalt: Da hingegen das radikal Neue in die Kirche eingezogen und deren geschichtliche Kontinuität dahin ist, schwinden Respekt und Reverenz der historischen Kirche gegenüber, ...

Textausschnitt: 55. Das Anschwärzen des geschichtlichen Erscheinungsbildes der Kirche

122a Die heute zu erlebende Anschwärzung der kirchlichen Vergangenheit durch Klerus und Laien steht im krassen Gegensatz zur festen und selbstbewußten Haltung, die der Katholizismus in den vergangenen Jahrhunderten gegenüber seinen Gegnern einnahm. In der Tat wurde die Existenz von Gegnern und mehr noch, von Feinden der Kirche, klar erkannt, und die Katholiken taten beides: gegen den Irrtum zu Felde ziehen und dem Feind Nächstenliebe erweisen. Wenn aber die Wahrheit es verwehrte, menschliche Schwächen mehr als recht zu verteidigen, gebot es die Hochachtung, die Blöße zu bedecken, wie Sem und Japhet bei ihrem Vater Noah getan. Da hingegen das radikal Neue in die Kirche eingezogen und deren geschichtliche Kontinuität dahin ist, schwinden Respekt und Reverenz der historischen Kirche gegenüber, statt dessen regen sich Mißbilligung und Ablehnung der Vergangenheit. (Fs)

122b Respekt und Reverenz haben nun einmal ihren Ursprung im Gefühl einer Abhängigkeit von dem, was gewissermaßen der Primärfaktor für uns oder das Dasein ist, wie Eltern und Vaterland, oder für existentielle Wohltaten, wie die Erzieher. Dieses Gefühl enthält in sich zugleich auch das Bewußtsein von einer Kontinuität zwischen dem, der achtet, und dem, der geachtet wird. Das von uns Verehrte ist ein Teil von uns selbst, und wir verdanken ihm in mancher Hinsicht unsere Existenz. Wenn aber die Kirche für sich selbst absterben und mit ihrer Vergangenheit brechen muß, um als Neugeschaffene wieder zu erstehen, braucht man die Vergangenheit offensichtlich nicht mehr einzubeziehen und zu beleben, sondern muß sie im Gegenteil ausschalten und von sich weisen. Somit werden Respekt und Reverenz ihr gegenüber enden. Schon allein in den Wörtern »Respekt« und »Reverenz« steckt die Vorstellung vom »Sich-Umschauen«, wozu eine auf die Zukunft hin projektierte Kirche, deren Vergangenheit zu zerstören auch noch als Voraussetzung für deren Wiedergeburt angesehen wird, keine Veranlassung mehr hat. Ein gewisser Kleinmut bei der Verteidigung der kirchlichen Vergangenheit - und dies ist eine der heidnischen constantia (Festigkeit, Beständigkeit, Beharrlichkeit) sowie dem christlichen Starkmut entgegengesetzte Untugend - hatte bereits auf dem Konzil Symptome gezeigt, danach aber konnte sich schnell das Syndrom entwickeln. Ich übergehe, was aus der Geschichtsschreibung der Neuerer zum Thema Luther, Kreuzzüge, Inquisition, Franziskus von Assisi ersichtlich ist. Die großen Heiligen des Katholizismus werden ausgesucht, um als Vorläufer des Neuen zu dienen, oder sie bedeuten nichts. Ich komme jetzt darauf zu sprechen, wie man die Kirche anschwärzt und wie sehr die Außenstehenden geschätzt sind. (Fs) (notabene)

123a Die Anschwärzung der Kirche ist ein Gemeinplatz in den Äußerungen des nachkonziliaren Klerus geworden. Gedankliche Ungenauigkeit (»Circiterismus«), gepaart mit Anpassung an die Meinungen der Zeit, führt zum Vergessen, daß man nicht nur dem Gegner, sondern auch sich selbst gegenüber zur Wahrheit verpflichtet ist und nicht ungerecht gegen sich selbst zu sein braucht, um anderen gerecht zu werden. (Fs)
123b Der französische Bischof Mgr. Ancel schreibt die Irrtümer der modernen Welt dem Versagen der Kirche zu, weil »wir, was die wirklichen Probleme anbelangt, nur unzureichende Antworten erteilen«1. Zunächst einmal wäre zu klären, für wen dieses Pronomen »wir« steht: Wir Katholiken? Die Kirche? Wir Hirten? Zum andern ist es nach katholischem Verständnis falsch zu sagen, die Irrtümer der modernen Welt entstünden mangels zufriedenstellender Lösungen, denn Irrtümer koexistieren stets sowohl mit den Problemen als auch mit den wahren Lösungen, die die für die Heilsbestimmung des Menschen wesentlichen Dinge betreffen, welche die Kirche besitzt und beständig lehrt. Zudem ist es merkwürdig, daß jemand, der erst den Irrtum als notwendig für die Wahrheitsfindung erachtet, dann eine Kehrtwendung macht und feststellt, der Irrtum sei der Wahrheitsfindung hinderlich. Im übrigen besteht bei Irrtum Selbstverantwortlichkeit, und verantwortlich darf nicht derjenige gemacht werden, der nicht im Irrtum ist. (Fs)
124a Pierre Pierrard lehnt all die Polemik ab, die die Katholiken im 19. Jahrhundert gegen den Antiklerikalismus austrugen, und stellt dazu noch fest, das früher für teuflisch gehaltene Motto »Le cléricalisme, voilà l'ennemi« (»der Klerikalismus, das ist der Feind«) übernähmen heute die Priester, denn jene Vergangenheit der Kirche sei eine Verneinung des Evangeliums gewesen2. (Fs)

124b Der Franziskaner Nazzareno Fabretti, der in der »Gazzetta del popolo« vom 23. Januar 1970 den kirchlichen Zölibat mit vielen theologischen Circiterismen behandelt, klagt die gesamte Kirchengeschichte des Verbrechens an, wenn er schreibt, Jungfräulichkeit, Zölibat und Abtötung des Fleisches bedeuteten, »da sie jahrhundertelang Millionen Seminaristen und Priestern ohne dementsprechende Überzeugung und tatsächliche Wahlmöglichkeit einfach aufgezwungen worden sind, einen der gewaltigsten Übergriffe, die die Geschichte kennt«. Mgr. G. Martinoli, Bischof von Lugano, behauptet, die Religion trage die Schuld am Marxismus, und der atheistische Sozialismus wäre nicht gekommen, wenn die Katholiken anders gehandelt hätten3. Ferner stellt der nämliche Mgr. Martinoli fest: »Die christliche Religion tritt mit einem neuen Antlitz in Erscheinung: Sie besteht nicht mehr aus engherzigen Praktiken, Äußerlichkeiten, großen Festen und viel Wirbel; die christliche Religion steht wesenhaft in Verbindung mit Jesus Christus«4. Mgr. G. Leclercq will es scheinen, daß die Verantwortlichen für den massenhaften Abfall der Menschen die Priester seien, die sie getauft haben5. (Fs)

124c Kardinal Garrone schließlich bemerkt im OR vom 12. Juli 1979: »Wenn die moderne Welt entchristlicht ist, dann nicht deshalb, weil sie Christus ablehnen würde, sondern weil wir ihn ihr nicht gegeben haben«. Auf dem italienischen Kirchentag des Jahres 1976 kam der Hauptreferent Prof. Bolgiani zu einem ganz und gar negativen Schluß, was die jüngere Vergangenheit der Kirche in Italien angeht. Er stellt eine völlige Unzulänglichkeit des Episkopats fest, ein Kompromißverhalten gegenüber der politischen Macht und eine Ablehnung jeder Erneuerung (OR, 3.-4. November 1976). Kardinal Léger, der Erzbischof von Montreal, brachte in einem Interview für ICI, Nr. 287 (1. Mai 1967), sogar folgendes vor: »... wenn die religiöse Praxis zurückgeht, ist dies kein Zeichen dafür, daß man den Glauben verliert, denn meiner bescheidenen Meinung nach hatte man ihn nie besessen, ich will damit sagen: einen persönlichen Glauben«. Nach Meinung des Kardinals gab es in der Vergangenheit im christlichen Volk keinen echten Glauben. Welch falsche Glaubensauffassung solchen Erklärungen zugrunde liegt, wird weiter unten verdeutlicht. Schließlich und endlich schreibt S. Barreau, der Verfasser des Buches La reconnaissance, ou qu'est-ce que la foi: »Meinerseits glaube ich, daß es seit dem 13. Jahrhundert wenig Evangelisierung in der Kirche gibt« (ICI, Nr. 309,1. April 1968). (Fs)

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