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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Nachkonzilszeit; der neue Mensch; Abbé de Lamennais; Vokablel "neu" - Gnade, creare (erschaffen, ins Dasein rufen)

Kurzinhalt: ... daß die katholische Theologie, oder besser, die katholische Glaubensgewißheit, nur drei von Grund auf neue Situationen kennt, die die Menschheit zu erneuern und gleichsam in eine andere Natur überzuführen vermögen:

Textausschnitt: 52. Weiteres zur Nachkonzilszeit. Der neue Mensch. GS 30. Die Tragweite des Wandels

113a Eine durch alle Jahrhunderte führende Untersuchung der Bewegungen, die die Kirche erschütterten, progressive wie regressive, wird ergeben, wie oft katastrophale darunter sind, d.h. solche, die die Kirche und durch sie die gesamte Menschheit radikal umgestalten wollen. Sie entstehen aus dem Geist der Unabhängigkeit, der die Bindungen an die Vergangenheit zu lösen trachtet, um ohne Rücksicht (s. die eigentliche Wortbedeutung) vorzustürmen. Also keine Reform innerhalb der im Wesen der Kirche selbst vorfindbaren Grenzen und gemäß bestimmten Institutionen, die man als grundlegend erhalten hat, sondern ein Hin zur Palingenese, zur Wiedergeburt, eine Bewegung, die das Wesen der Kirche und des Menschen erfindet, indem sie beidem eine andere Grundlage und andere Grenzen zuweist. Auch nicht etwas Neues innerhalb der Institution, sondern neue Institutionen. Ebensowenig eine in bedingter Unabhängigkeit verlaufende Entwicklung, verstanden als organisches Wachsen in Abhängigkeit von der Vergangenheit, die ihrerseits abhängig ist von einem Fundament, das einmal für immer vorgegeben ist. Nein, hier handelt es sich um Unabhängigkeit schlechthin, die heute als kreativ bezeichnet wird. (Fs)

113b Für ein solches Unterfangen gibt es Präzedenzien. Ich möchte mich nicht allzusehr mit Belegen verzetteln und diese auch nicht den häretischen Diesseits-Eschatologien entnehmen, die ein drittes Zeitalter, das des Heiligen Geistes, ankündigen. Es mag der Hinweis auf die Züge genügen, die die katholische Erneuerung im letzten Jahrhundert im leidenschaftlichen Denken des Abbé de Lamennais annahm, ersichtlich aus den unveröffentlichten Briefen, deren Herausgabe Charles Périn besorgte1. Dem bretonischen Geistlichen schien es unmöglich, daß die Kirche nicht bald große Reformen und tiefgreifende Umwandlungen durchmachen werde. So todsicher diese Umwandlungen auch einträten, so unvorhersehbar wären sie in ihren Konturen. Auf jeden Fall stünde eine neue Beschaffenheit der Kirche und eine neue Ära bevor, deren Grundmauern Gott selbst mit einer neuen Offenbarung legen werde. Ich möchte mich auch nicht über den Beweis verbreiten, daß die Kreierung eines neuen Menschen, typisch für die moderne Revolution, auf dasselbe hinausläuft, was der Nationalsozialismus in esoterischer Tönung diesbezüglich kundtat. Nach Hitler neigt sich die solare Periode des Menschen ihrem Ende zu, ein neues Menschentum beginnt sich abzuzeichnen, das mit neuer Wesensart emporwachsen und die alte Menschheit unter das Joch zwingen wird2. (Fs)

114a In diesem Zusammenhang enthält GS 30 eine ganz außergewöhnliche Textstelle. Zu den moralischen Hauptpflichten des (wie es heißt) heutigen Menschen zähle die gesellschaftliche Solidarität, die durch Ausüben und Verbreiten der Tugend zu pflegen sei, »dann werden sie mit der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade wahrhaft neue Menschen und Erbauer einer neuen Menschheit«3. (Fs)

114b Die Vokabel »neu« fällt im II. Vatikanum zweihundertzwölfmal, - eine unverhältnismäßig hohe Frequenz gegenüber jedem anderen Konzil. Bei dieser Häufigkeit kommt »neu« oft im naheliegenden Sinne einer relativen Neuheit, die auf die Eigenschaften oder die akzidentellen Bestimmungen der Sache einwirkt. So ist dort (natürlicherweise) die Rede vom Neuen Testament, von neuen Kommunikationsmitteln, neuen Hindernissen für die Glaubenspraxis, neuen Umständen, neuen Problemen und so fort. Jedoch wird die Vokabel im gerade zitierten Text (und vielleicht auch im Dekret über die Missionstätigkeit, Ad Gentes 1, die Formulierung »nova exsurgit humanitatis condicio« -»für die Menschheit entsteht eine neue Situation«) im engsten und strengsten Sinne aufgefaßt. So gesehen ist das eine Neuheit, kraft der im Menschen keine neue Qualität oder Vollkommenheit entsteht; vielmehr wird die menschliche Basis selbst umgewandelt, und es ergibt sich eine neue Kreatur im ureigentlichen Sinne. (Fs)

115a Paul VI. verkündete wiederholt die Neuheit des konziliaren Denkens: »Die wichtigen Worte des Konzils sind »novità« (Neuheit, neue Lage, Neuartigkeit/Anm. d. Übers.) und aggiornamento (Anpassung an das Heute, Verheutigung/Anm. d. Übers.) (...) Das Wort »novità« ist uns wie ein Befehl, wie ein Programm gegeben worden« (OR, 3. Juli 1974). (Fs)

115b An dieser Stelle sollte betont werden, daß die katholische Theologie, oder besser, die katholische Glaubensgewißheit, nur drei von Grund auf neue Situationen kennt, die die Menschheit zu erneuern und gleichsam in eine andere Natur überzuführen vermögen:
1. die defektive: Der Mensch ist infolge der Ursünde vom Zustand der Unversehrtheit und Übernatur abgefallen. (Fs)

2. die wiederherstellende und vervollkommnende: Die Gnade Christi ersetzt den Urzustand und erhebt ihn dazu noch über seine ursprüngliche Beschaffenheit. (Fs)
3. die die Gesamtordnung vollendende: Am Ende der Zeiten wird dem begnadigten-begnadeten Menschen in höchster Angleichung des Geschöpfes an den Schöpfer gar die Glückseligkeit und Glorie zuteil, - eine Angleichung, die sowohl nach der Schule des hl. Thomas von Acniin als auch nach der Schule des Duns Scotus ebender Endzweck des Universums ist. (Fs)
115c Es ist also nicht möglich, sich eine neue Menschheit vorzustellen, die noch während ihres Daseins in der jetzigen Weltordnung die neue Seinsweise, in die der Mensch durch die Gnade Christi versetzt ist, überschreiten würde. Ein solches Hinüberschreiten ist tatsächlich vorgesehen, allerdings so, wie es die Tugend der Hoffnung beinhaltet; es soll nämlich im jüngsten Augenblick aller Geschöpfe geschehen, wenn es eine neue Erde und einen neuen Himmel geben wird. (Fs)

116a Die Heilige Schrift verwendet für die Gnade das Verb »creare« (erschaffen, ins Dasein rufen) in dessen eigentlichstem Sinne, denn der Mensch erhält von der Gnade keine neue Fähigkeit, keine neue Qualität, sondern eine neue Existenz und etwas, das sein Wesen berührt. So wie ja die Erschaffung (»creatio«) der Schritt vom Nicht-Sein zum natürlichen Sein ist, so ist die Gnade der Schritt vom Nicht-Sein zum übernatürlichen Sein, ohne Kontinuität mit ersterem und ganz ursprünglich, so daß eine Neuschöpfung (II. Kor. 5,17) und ein neuer Mensch (Eph. 4,24) konstituiert worden sind4. Dieses der Seelensubstanz während des Erdenlebens eingegebene Neue erfaßt das gesamte geistige Leben und wird auch das körperliche Leben in der abschließenden Metamorphose der Welt erfassen. Außerhalb dieses Neuen aber, das dem Menschen eine neue Existenz verleiht, eine moralische wie auch ontologische (dank jenes realen göttlichen Etwas, das sich im Ich des Menschen regt), kennt die katholische Religion weder Erneuerung noch Regeneration, noch Hinzufügung von Sein. Daraus ist zu folgern, daß die novi homines, die neuen Menschen, des Konzils nicht im absoluten Sinne einer Wesensveränderung zu begreifen sind, sondern im abgeschwächten Sinne einer großen Erneuerung des Lebens im Bereich der Kirche und der menschlichen Gesellschaft. Statt dessen ist die Wendung oft in jenem unzulässigen engen Sinne verstanden worden und hat einen Hauch von Mehrdeutigkeit und Utopie über die Nachkonzilszeit gebracht. (Fs)

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