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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Nachkonzilszeit; Allseitigkeit des Wandels: Glaube, Hoffnung, Liebe, Sinnesapparat; Wesen - Akzidenz

Kurzinhalt: Obwohl im Leben der Kirche akzidentelle Bestandteile vorhanden sind, darf nicht alles, was ein Akzidens darstellt, von der Kirche wahllos angenommen oder aufgegeben werden

Textausschnitt: 51. Grundzüge der Nachkonzilszeit. Die Allseitigkeit des Wandels

109c Die Nachkonzilszeit ist in erster Linie gekennzeichnet durch einen allgemeinen Wandel, der sämtliche Realitäten der Kirche sowohl innen wie außen erfaßt. Vom II. Vatikanum ging in dieser Hinsicht eine so beherrschende geistige Macht aus, daß ihm unter den Konzilen eine ungewöhnliche Stellung zuzuweisen ist. Dieser allumfassende Charakter des vollzogenen Wandels läßt zudem die Frage aufkommen, ob es sich womöglich um eine substantielle Veränderung (s. §§ 33-35) handle, die der in der Biologie als Idiovariation bezeichneten entspricht. Es fragt sich, ob man nicht dabei ist, von einer Religion in eine andere überzugehen, wie von vielen, seien es Geistliche, seien es Laien, ohne Zaudern verkündet wird. Wenn dem so wäre, brächte das Entstehen des Neuen den Tod des Alten mit sich, wie in der Biologie und der Metaphysik. Das Jahrhundert des II. Vatikanum wäre dann ein großer Wendepunkt der Geschichte, der Endpunkt einer der Windungen des menschlichen Geistes in seinem ewigen Verwickeln in sich selbst. Man kann die Frage auch anders stellen: Liefert das Jahrhundert des II. Vatikanum möglicherweise den Beweis für die reine Geschichtlichkeit der katholischen Religion oder, was das gleiche ist, für ihre Nicht-Göttlichkeit? (Fs) (notabene)

110a Vom Ausmaß des Wandels kann man fast sagen, daß er nichts ausspart1. Unangetastet und tendentiell unverändert blieb nicht eine der drei das Resümee der Religion darstellenden Verhaltensklassen, d.h. die Einstellung zu den Dingen, die zu glauben, zu erhoffen und zu lieben sind. So erfährt der Glaubensbegriff, noologisch gesehen, seine Umstellung. Aus dem Glauben als Akt des Verstandes wird ein Akt des Personsubjekts, aus Zustimmung zu geoffenbarten Wahrheiten ein vitales Streben, womit er also in die Sphäre der Hoffnung rückt (§ 164-166). Die Hoffnung stuft ihr Objekt hinab, denn ihr Sinnen und Trachten geht jetzt auf irdische Befreiung und Umwandlung aus (§ 168). Die Liebe, die wie der Glaube und die Hoffnung ein eindeutig übernatürliches Objekt hat (§ 169), stuft gleichermaßen ihr Endziel hinab, indem sie sich dem Menschen zuwendet. Wir erlebten ja bereits in der Schlußrede des Konzils, daß der Mensch als Vorbedingung für die Gottesliebe proklamiert wurde. (Fs)

111a Aber nicht nur diese drei Klassen menschlichen Verhaltens, die den Geist betreffen, hat die Neuerung erfaßt, sondern sozusagen auch den Sinnesapparat des religiösen und gläubigen Menschen. Der Gesichtssinn trifft auf veränderte Formen der liturgischen Gewänder und Geräte, der Altäre, des Baustils, der Lichtquellen und der Gestik. Für den Tastsinn ist das große Novum, das anfassen zu dürfen, was die Ehrfurcht vor dem Heiligen unberührbar gemacht hatte. Dem Geschmackssinn wird das Leeren des Kelches gewährt. Dem Geruchssinn dagegen ist - jedenfalls weithin - der Wohlgeruch des Weihrauchs verwehrt, der Lebende und Tote in den heiligen Riten ehrte. Der Gehörsinn schließlich hat die nachhaltigste und weitestreichende Neuerung erfahren, die in sprachlicher Beziehung jemals auf dieser Erde wirksam wurde, denn die Liturgiereform brachte für eine halbe Milliarde Menschen eine andere Kultsprache mit sich, wandelte außerdem melodische Töne in perkussive und verbannte aus der Kirche die Gregorianik, die seit Jahrhunderten den Menschen »die Töchter des Gesangs« (Ecclesiastes XII, 4) angenehm gemacht und die Herzen bezwungen hatte. (Fs)

111b Ich nehme hier nicht vorweg, was sonst noch festzustellen sein wird, wenn ich auf die Neuerungen in den Strukturen der Kirche eingehen werde, in den rechtlichen Gegebenheiten, den Bezeichnungsweisen der Dinge, in der Philosophie und Theologie, der Koexistenz mit der bürgerlichen Gesellschaft, der Auffassung über die Ehe und schließlich generell in den Beziehungen zwischen Religion und Kultur. (Fs)

111c Hier wäre die schwierige Erörterung über das Verhältnis zwischen der Essenz und den akzidentellen Teilen einer Sache, der Essenz der Kirche und ihren Akzidenzien, einzufügen. Können womöglich all diese von uns aufgezeichneten Dinge und Gattungen von Dingen in der Kirche neugestaltet werden, und würde die Kirche dann sich selbst gleichbleiben?
111d In der Tat. Allerdings sollte dreierlei beachtet werden. Erstens: Es gibt auch das, was die Scholastiker absolute Akzidenzien nannten, solche also, die mit der Substanz des Gegenstandes nicht identisch sind, doch ohne die der Gegenstand nicht existieren kann. So verhält es sich mit der Quantität in der körperlichen Substanz und mit dem Glauben in der Kirche. (Fs)

112a Zweitens: Obwohl im Leben der Kirche akzidentelle Bestandteile vorhanden sind, darf nicht alles, was ein Akzidens darstellt, von der Kirche wahllos angenommen oder aufgegeben werden. Wie nämlich jeder Gegenstand bestimmte Akzidenzien hat und bestimmte andere nicht hat (ein Schiff mit einem Ausmaß von hundert Stadien ist laut Aristoteles kein Schiff mehr) und wie der Körper z.B. einen Umfang und kein Gewissen besitzt, so verfügt auch die Kirche über bestimmte Akzidenzien und andere nicht. Ebenso gibt es solche, die mit ihrer Essenz unvereinbar sind und sie zerstören. Der endlose geschichtliche Kampf der Kirche richtete sich gegen akzidentelle Formen, die, im Begriff von innen einzuschleichen oder ihr von außen aufgedrängt zu werden, die Essenz der Kirche zerstört hätten. War beispielsweise der Monophysitismus etwa keine akzidentelle Weise, die Gottheit Christi zu verstehen? Und war Luthers privater Geist - die persönliche Auffassung des Einzelnen - etwa keine akzidentelle Weise, das Wirken des heiligen Geistes zu verstehen?

112b Drittens: Die Dinge und die Gattungen von Dingen, die der nachkonziliare Wandel erfaßt hat, sind freilich Akzidenzien im Leben der Kirche, doch dürfen Akzidenzien nicht als belanglos angesehen werden, als könnten sie sein oder nicht sein, so oder so sein, ohne daß die Essenz der Kirche dadurch verändert würde. Hier ist gewiß nicht der Ort, die Metaphysik einzuflechten und auf die Schrift De ente et essentia des hl. Thomas von Aquin aufmerksam zu machen. Allerdings muß daran erinnert werden, daß die Substanz der Kirche nur in deren Akzidenzien präsent ist und daß eine unausgeprägte Substanz, der also die Akzidenzien fehlen, eine nichtige Substanz, ein Nicht-Seiendes ist. Das gesamte geschichtliche Dasein eines Individuums ist anhand seiner Erkenntnis- und Willensakte erfaßbar: Sind nun aber diese Vorgänge des Erkennens und Wollens etwas anderes als akzidentelle Realitäten, die accidunt /zufallen, kommen und gehen, entstehen und vergehen? Gleichwohl hängt das dem Sittengesetz gemäße Ziel, Heil oder Verdammnis, gerade von jenen Akzidenzien ab. So ist auch das gesamte geschichtliche Leben der Kirche ihr Leben in ihrem akzidentellen Bestand und ihren Kontingenzen. Wie kann man verkennen, daß ihre akzidentelle Bestandteile bedeutend, ja von substantieller Bedeutung sind? Und sind die in den akzidentellen Formen erfolgenden Veränderungen nicht auch - akzidentelle und geschichtliche - Veränderungen der unwandelbaren Essenz der Kirche? Sollten sich alle akzidentellen Bestandteile verändern, wie könnten wir dann die kirchliche Substanz selbst als unverändert ansehen? Was bliebe von einem Menschen, wenn all das, was ihn akzidentell und historisch umfängt, gewandelt würde? Was bleibt von Sokrates übrig ohne seine Ekstasis vor Potidäa, ohne die Gespräche auf der Agora, die Fünfhundert und den Schierlingsbecher? Was bleibt von Campanella ohne die fünf Torturen, die Verschwörung von Kalabrien, ohne Verrat und Leid? Was von Napoleon ohne das Konsulat, Austerlitz und Waterloo? Dennoch sind all diese Dinge die Akzidenzien des Menschen. Die Platoniker trennten die Essenzen von der Geschichte, um sie im Hyperuranium - über dem Himmelsgewölbe - wiederzufinden. Wo aber werden wir sie wiederfinden?

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