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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Krisen der Kirche; Luther; Bulle Exsurge, Domine Nr. 29; Nichtertragen der Autorität

Kurzinhalt: Um mich mit den Wendungen der Scholastik auszudrücken: id quo intelligitur hat den Vorrang vor id quod intelligitur.

Textausschnitt: 18. Weitere Überlegungen zur Häresie Luthers. Die Bulle »Exsurge, Domine«

24a Der Keim des durch Luther ausgelösten gewaltigen Umschwungs liegt gänzlich in den 41 Artikeln, die Leo X. mit der Bulle Exsurge, Domine vom 25. Juni 1520 verurteilte. Gewiß ahnte der Papst nicht, wie sehr der Setzling menschlichen Denkens emporwachsen würde. In der Tat ist, wie bereits gesagt, das Prinzip des eigenständigen Prüfens in jeder Häresie mitenthalten, und selbst wenn die Kirche es nicht ausdrücklich zu Fall bringt, so tut sie dies dennoch implizit, wann immer sie gegen ein dem Glauben widersprechendes Theologumenon angeht. Hier jedoch finden wir, wenigstens in einem der verurteilten Artikel, das Prinzip des eigenständigen Prüfens ausdrücklich formuliert. (Fs)

24b In dieser Folge von verurteilten Sätzen läßt sich kaum ausmachen, welche Sätze genau die Bulle als häretisch zu brandmarken beabsichtigt. Hier werden nämlich, wie in der römischen Kurie üblich, zunächst die 41 Artikel aufgelistet und dann ohne jede Unterscheidung samt und sonders verurteilt »respektive als häretisch oder skandalös oder falsch oder fromme Ohren beleidigend oder geeignet, einfache Geister zu verführen«1. Diese mangelnde Unterscheidung erschwert den Durchblick, wie sich die Zensuren verteilen, und ebnet den Weg für Streitgespräche der Theologen. Eine häretische, das Dogma angreifende Behauptung ist jedenfalls eine Angelegenheit für sich, doch etwas ganz anderes bedeutet das einfältige Menschen verführende Wort, weil dies Sünde gegen die Klugheit und die Nächstenliebe, doch nicht gegen den Glauben ist. (Fs)

24c Die Sätze enthalten, ausführlich dargelegt, die Lehre Luthers über die Buße, deren sakramentale Wirkung gänzlich auf dem Dafürhalten des Gläubigen, daß er losgesprochen worden sei, beruht. Einige Artikel schwächen den freien Willen ab, der voll und ganz von der Gnade bewegt werde und nur noch eine Sache des bloßen Namens sei. Andere Artikel betreffen den Vorrang des Konzils vor dem Papst, die Nichtigkeit der Ablässe, das Unvermögen der guten Werke, die Todesstrafe für Häretiker, die als gegen den Willen des Heiligen Geistes gerichtet befunden wird. (Fs)

25a Darunter ist jedoch ein Artikel, Nr. 29, in dem die Häresie von Luther offen bekannt wird, und zwar die Auswahl des zu Glaubenden aufgrund persönlicher Eingebung. Einzig dieser Artikel, der das eigentliche Prinzip der gesamten Bewegung verkündet, erweist sich als die wirklich denkwürdige These: »Ein Weg ist uns gegeben, die Autorität der Konzile zu entkräften und ihren Akten frei zu widersprechen und alles, was wahr erscheint, zuversichtlich zu bekennen«2. Hier zeigt sich die tiefste Wurzel und das Kriterium, über das hinauszugehen nicht gegeben ist: die persönliche Eingebung, die all jenem, das wahr erscheint, Geltung verleiht. Von den beiden Seiten des Erkenntnisvorgangs, bei dem der Verstand das objektive Sein durch einen eigenen subjektiven Akt erkennt, herrscht nicht mehr das erkannte objektive Sein, sondern das Erkennen selbst vor. Um mich mit den Wendungen der Scholastik auszudrücken: id quo intelligitur hat den Vorrang vor id quod intelligitur. Wenn Luther ferner mit Artikel 27 der Kirche das Festlegen der Glaubensartikel und der Sittengesetze aus der Hand nimmt, ist dies nichts anderes als die Übertragung des Artikels 29 vom individuellen Bereich auf die gesellschaftliche Funktion der Religion. (Fs) (notabene)

25b Abschließend sei festgestellt, daß letztendlich nicht Ablaß, Messe, Papsttum, Priesterzölibat, Prädestination und Rechtfertigung des Sünders Luther zum Abfall bewegten. Die Triebfeder war vielmehr jenes dem Menschengeschlecht verhaftete, ihm zutiefst innewohnende Unvermögen, das offen zu bekennen Luther sich erdreistete: das Nichtertragen der Autorität. Die Kirche, der einende Leib des Gottmenschen in der Geschichte, bezieht ihre organische Einheit aus dem göttlichen Prinzip. Wie kann der Mensch, in einen solchen Vergleich einbezogen, etwas anderes darstellen als das in Bindung an das Prinzip und im Gehorsam gegenüber dem Prinzip lebende Glied? Wer dieses Band zerreißt, kommt zwangsläufig vom Gestaltungsprinzip der Religion ab. (Fs)

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