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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Sein - Theorien: Heinrich von Ghent, Duns Scotus, Cajetan (Sein als Proportion von Essenz zu Existenz);

Kurzinhalt: Auf diese Weise ererbte die mittelalterliche Scholastik ein Problem: Ist die Notion des Seins eine oder viele? ... Duns Scotus behauptete, daß es außer der Einheit des Namens auch eine Einheit des Inhaltes gebe.

Textausschnitt: 426a Auf diese Weise ererbte die mittelalterliche Scholastik ein Problem: Ist die Notion des Seins eine oder viele? Wenn sie eine ist, ist ihre Einheit dann die Einheit eines einzigen Inhaltes, oder ist sie die Einheit einer Funktion von variablen Inhalten?
Heinrich von Ghent scheint die Ansicht vertreten zu haben, daß die Einheit des Seins bloß die Einheit eines Namens sei. Gott ist, und ich bin. In beiden Fällen wird das Sein bejaht. Aber die bejahten Realitäten sind schlechthin disparat. (Fs)

426b Duns Scotus behauptete, daß es außer der Einheit des Namens auch eine Einheit des Inhaltes gebe. Auch wenn kein Teil oder Aspekt von Dir identisch mit einem Teil oder einem Aspekt von mir ist, ist doch keiner von uns nichts. Es gibt also einen gewissen minimalen Begriffsinhalt, der positiv das ausmacht, was negativ [368] durch die Negation von nichts ausgedrückt wird. Was es ist, kann nicht erklärt werden, indem man sich auf andere positive Inhalte bezieht; denn es ist eines der schlechthin letzten Atome des Denkens; es ist einfach einfach. Man kann sich ihm aber annähern, indem man bemerkt, daß Sokrates Mensch voraussetzt, Mensch tierisches Lebewesen voraussetzt, tierisches Lebewesen lebende, materielle Substanz voraussetzt, und Substanz etwas voraussetzt, das noch weniger bestimmt und noch weniger ausschließend ist. Der Begriff des Seins ist der Begriff mit dem geringsten Inhalt und dem größten Umfang. Er ist zudem wesentlich abstrakt. Was er bezeichnet ist nie nur Sein, sondern entweder der unendliche oder irgendein endlicher Modus des Seins, wobei der Modus nicht als ein weiterer und besonderer Inhalt aufzufassen ist, sondern eher als eine innere Variation des unbestimmten Grundinhaltes1. (Fs)

426c Thomas de Vio Caietanus war mit der Scotistischen Sicht nicht zufriedener, als Scotus selbst mit der des Heinrich von Ghent zufrieden gewesen war. Wenn ein einzelner Name ohne eine einzelne Bedeutung nicht genügt, genügt auch eine einzelne Bedeutung nicht, die als einzelne auf die Ordnung des Denkens beschränkt zu sein scheint. Infolgedessen arbeitete Cajetan seine Theorie der Einheit einer Funktion von variablen Inhalten aus. Wie "doppelt" unterschiedslos die Relation von 2 zu 1, 4 zu 2, 6 zu 3 und so weiter bezeichnet, so bezeichnet "Sein" unterschiedslos die Proportion von Essenz zu Existenz, oder, wie wir sagen würden, die Proportion zwischen dem, was durch das Denken formuliert wird, und dem, was ihm durch ein Urteil hinzugefugt wird. Gemäß dieser Position schließt die Notion des Seins immer einen Begriffsinhalt mit ein, aber dieser kann jeglicher Inhalt sein; ferner, das Sein im Akt kann nie ohne irgendein bejahendes Urteil erkannt werden; aber das Bejahen ist nie nur bloßes Bejahen oder das Bejahen eines unbestimmten Inhaltes; es ist immer das Bejahen eines bestimmten Inhaltes, wobei jeglicher bejahbare, bestimmte Inhalt dazu dient. Kurz, Cajetan kann einräumen, daß die atomischen, begrifflichen Inhalte viele und disparat sind; er kann die Scotistische Sicht bestreiten, daß es einen gemeinsamen Faktor, ein positives Gegenstück des "nicht nichts" gibt, das einen absolut allgemeinen Umfang hat; und doch kann er anhand seiner Theorie der Einheit einer Funktion von variablen Inhalten nicht nur über einen einzigen Namen, Sein, und eine einzige Notion des Seins verfügen, sondern auch über eine einzige Notion, die auf alles angewendet werden kann, von dem wir tatsächlich wissen, daß es existiert.1 (Fs)

427a Es soll bemerkt werden, daß, während Scotus für die Parmenideischen und Platonischen Annahmen steht, von denen sich Aristoteles nicht befreite, Cajetan für die Hauptausrichtung des aristotelischen Denkens steht; aber dies gelang ihm nur, indem er über es hinausging. Wenn begriffliche Inhalte Produkte der Verstehensakte [369] sind, die Formen in den sinnlichen Vorstellungen erfassen, so wird man wohl von solchen Inhalten erwarten, daß sie eine disparate Vielfalt sind. Daher beantwortete Aristoteles die Frage "Was ist Sein?" nicht, indem er einen Begriffsinhalt angab, sondern indem er den Grund des Seins im allgemeinen Objekt des Verstehens, der Form, angab. Weil es viele Formen gibt, folgt, daß der Grund des Seins eine Variabel ist; es folgt weiter daß, wenn die Notion des Seins eine sein soll, dann ihre Einheit die Einheit einer Funktion von variablen Inhalten sein muß. Welches sind nun die Variablen innerhalb der einzelnen Funktion? Eine von ihnen ist die Form. Auf den ersten Blick ist die naheliegende Kandidatin für die andere die Materie. Würde sie indes ausgewählt, folgte daraus, daß Aristoteles' immaterielle Substanz nicht zum Universum des Seins gehören würde. Um Aristoteles' Position in ihrer Integrität aufrechtzuerhalten, war es notwendig, das virtuell Unbedingte, das im reflektierenden Verstehen erfaßt und im Urteil bejaht wird, zur zweiten Variabel zu machen. Im allgemeinen Fall ist das die Existenz, die Aktualität, die Tatsache, welche sich mit der reinen Form kombiniert, oder mit der Verbindung von Form und Materie, um ein Seiendes im Akt auszumachen. (Fs) (notabene)

428a Wenn sie auch brillant ist, hat Cajetans Position doch ihre Unzulänglichkeiten. Sie faßt ein Aggregat konkreter Seienden ins Auge, von denen jedes aus Essenz und Existenz besteht. Sie sieht die Einheit der Notion des Seins in der Relation oder Proportion dessen, was begriffen wird, zu dem, was bejaht wird. Aber sie klärt nicht, wie diese Relation als eine einzige Notion in unserer Erkenntnis zustandekommt; und sie liefert keinen Hinweis zur Erklärung des Faktums, daß wir unter "Sein" nicht nur dies und jenes Seiende verstehen, sondern alles, die Gesamtheit, das Universum. Kurz, Cajetan scheint mehr an einer Erklärung der Einheit der Notion des Seins interessiert gewesen zu sein als an der Notion selbst. (Fs)

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