Datenbank/Lektüre


Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Sein - Bestimmungen: Wesen? Ar, Gattung, Differenz? Definition? analog, univok?

Kurzinhalt: Insofern die Notion von Sein allen anderen Erkentnnisinhalten vorausgeht, ist sie wie eine Gattung, die auf eine Teilung durch Hinzufügung von Differenzen wartet. Insofern aber die Notion des Seins alle anderen Inhalte vorwegnimmt, durchdringt ...

Textausschnitt: 417b Bevor wir uns nun anderen Erklärungen der Notion des Seins zuwenden, ist es angebracht, eine Reihe von Rätseln zu behandeln, die eine gemeinsame Quelle zu haben scheinen. Wie andere Begriffe auch, wird die Notion des Seins vertreten durch instrumentelle Akte, die in diesem Fall durch das Substantiv Sein und das Verb sein sind. In falscher Analogie wird nun abgeleitet, daß die Notion des Seins den Begriffen in ihren anderen Aspekten ähnlich sei. Tatsächlich ist aber die [360] Notion des Seins einzigartig; denn sie ist der Kern aller Akte der Bedeutung; und sie untermauert, durchdringt und übersteigt alle anderen Erkenntnisinhalte. Es ist deshalb müßig, die Notion des Seins charakterisieren zu wollen, indem man sich auf die gewöhnlichen Regeln oder Gesetze der Begriffe beruft. Was erfaßt werden muß, ist ihre Abweichung von solchen Regeln und Gesetzen, und um uns nun den Details zuzuwenden, werden wir eine Reihe von Fragen einer kurzen Betrachtung unterziehen. (Fs)

418a Erstens, resultiert die Notion des Seins aus dem Ausdruck oder der Formulierung eines Verstehensaktes?

Andere Begriffe resultieren aus einer Einsicht entweder in die Verwendung ihrer Namen, oder in die Dinge-für-uns, oder in die Dinge-selbst. Die Notion des Seins durchdringt alle anderen Inhalte und ist deshalb in der Formulierung jedes Begriffes präsent. Sie kann nicht aus einer Einsicht in das Sein resultieren; denn eine solche Einsicht wäre ein Verstehen von Allem über Alles, und wir haben kein solches Verstehen erreicht. Sie ist, wie wir sagten, die Ausrichtung des intelligenten und rationalen Bewußtseins auf ein uneingeschränktes Zielobjekt hin. (Fs)

418b Zweitens, hat die Notion des Seins eine Essenz, oder ist sie eine Essenz?

Weil andere Begriffe aus Verstehensakten resultieren und weil Verstehensakte im Erfassen dessen bestehen, was unter einem bestimmten Gesichtspunkt essentiell ist, sind andere Begriffe Essenzen. Ferner, weil andere Begriffe vor der Frage nach Reflexion vollständig sind, die fragt, ob es eine solche Essenz gibt, sind andere Begriffe bloß Essenzen und sehen von der Existenz oder Aktualität ab. Die Notion des Seins aber resultiert nicht aus einem Verstehen von Sein; sie beruht nicht auf dem Erfassen dessen, was unter einem bestimmten Gesichtspunkt essentiell ist; und so ist die Notion des Seins nicht die Notion einer Essenz. Außerdem, die Notion des Seins bleibt auf der Ebene der Intelligenz unvollständig; sie geht über den Begriff hinaus zu den Fragen nach Reflexion; sie geht über Einzelurteile hinaus zur Gesamtheit der korrekten Urteile; und deshalb sieht sie nicht von der Existenz und der Aktualität ab. (Fs) (notabene)

418c Drittens, kann die Notion des Seins definiert werden?

Sie kann nicht auf eine der gewöhnlichen Weisen definiert werden, weil sie den Inhalt jeder Definition untermauert und durchdringt und über ihn hinausgeht. Trotzdem besitzt sie einige bestimmte charakteristische Eigenschaften. Sie bezieht sich nämlich auf das uneingeschränkte Zielobjekt unseres Erkennens, das konkrete Universum, die Gesamtheit all dessen, was ist. Sie ist zudem bestimmt, insofern die Struktur unseres Erkennens bestimmt ist, und sie kann deshalb auf einer zweite Stufe definiert werden, indem man sagt, daß sie sich auf alles bezieht, was durch intelligentes Erfassen und vernünftiges Bejahen erkannt werden kann. Andererseits [361] legt diese Definition nicht fest, welche Fragen für unser Erkennen passend sind, oder welche Antworten korrekt sind. Sie läßt es dem Materialisten offen zu behaupten, daß Sein Materiell-Sein bedeutet. Ebenso erlaubt sie es dem Empiristen zu behaupten, daß Sein Erfahren-Sein bedeutet, und dem Idealisten darauf zu bestehen, daß Sein Gedacht-Sein bedeutet, und dem Phänomenalisten zu erklären, daß Sein Erscheinen bedeutet, und so weiter. (Fs) (notabene)

419a Viertens, wie kann eine Notion derart verschiedene Bedeutungen haben?

Weil sie nur auf einer zweiten Stufe bestimmt ist. Die Notion des Seins ist die Notion dessen, was durch korrekte Urteile bestimmt wird. Wenn die strategischen korrekten Urteile besagen, daß es Materie gibt, und daß es nichts gibt außer Materie, dann hat der Materialist recht. Wenn die strategischen korrekten Urteile sind, daß es Erscheinung und nichts als Erscheinung gibt, dann hat der Phänomenalist recht. Ähnlich, wenn die Aussagen, die andere Ansichten ausdrücken, korrekt sind, dann ist das Sein so, wie es diese Ansichten haben wollen. Die Notion des Seins bestimmt nicht, welche Position korrekt ist; sie bestimmt lediglich, daß das intelligent Erfaßte und vernünftig Bejahte Sein ist. (Fs)

419b Fünftens, hat die Notion von Sein irgendwelche Voraussetzungen oder Eigenschaften?

Andere Begriffe sind bestimmte Essenzen, und sie haben als solche Voraussetzungen und Implikationen. Wenn X kein Lebewesen ist, dann ist X kein Mensch. Wenn X ein Mensch ist, dann ist X sterblich. Aber die Notion des Seins ist nicht die Notion irgendeiner Essenz. Sie wird bestimmt, nur indem korrekte Urteile gefällt werden, und sie erreicht ihre volle Bestimmung nur, wenn die Gesamtheit der korrekten Urteile vollzogen wird. Das Fällen der Urteile ist allerdings ein bestimmter Prozeß, und man braucht nicht alle Urteile zu fällen, um die Natur dieses Prozesses zu erfassen. Diese Tatsache macht den Erkenntnisprozeß zu einer Basis für Operationen zur Bestimmung der allgemeinen Struktur des konkreten Universums. (Fs)

419c Sechstens, ist die Notion von Sein univok oder analog?

Von Begriffen wird gesagt, sie seien univok, wenn sie in all ihren Anwendungen dieselbe Bedeutung haben, und sie werden analog genannt, wenn ihre Bedeutung systematisch variiert, indem man sich von einem Bereich der Anwendung zu einem anderen begibt. Die Notion des Seins kann als univok bezeichnet werden, insofern sie alle anderen Inhalte untermauert; denn in dieser Hinsicht ist sie das eine Streben nach Erkenntnis und es bezieht sich auf ein uneingeschränktes Zielobjekt, welches das konkrete Universum ist. Die Notion des Seins kann aber auch als analog bezeichnet werden, insofern sie alle anderen Inhalte durchdringt; so kann gesagt werden, daß esse viventium est vivere - das Sein der lebenden Dinge ist Lebendig-Sein. Schließlich kann auch gesagt werden, die Notion von Sein sei weder univok noch analog, weil diese Unterscheidung sich auf Begriffe bezieht, während die Notion des Seins die anderen Inhalte sowohl untermauert wie auch über sie [362] hinausgeht. Es soll allerdings bemerkt werden, daß das, was oft unter der Analogie des Seins verstanden wird, genau das ist, was wir meinen, wenn wir sagen, die Notion des Seins untermauere, durchdringe und gehe über andere Inhalte hinaus. (Fs)

420a Siebtens, ist die Notion des Seins abstrakt?

Soll eine Notion abstrakt sein, dann muß sie einen bestimmten Inhalt besitzen und von anderen Inhalten abstrahieren. Die Notion des Seins abstrahiert von überhaupt nichts. Sie ist allumfassend. Ihr Inhalt wird bestimmt durch die Gesamtheit der korrekten Urteile. (Fs)
420b Es gibt nun aber eine noch größere Gesamtheit möglicher Urteile; innerhalb dieser Gesamtheit gibt es strategische Sätze von Urteilen, die dazu dienen, den allgemeinen Charakter des konkreten Universums in Übereinstimmung mit den variierenden Gesichtspunkten der verschiedenen Philosophien zu definieren. Solche strategische Sätze sind schon erläutert worden, z. B., es gibt Materie und nichts als Materie, oder es gibt die Erscheinung und nichts als die Erscheinung, oder es gibt das Denken und nichts als das Denken, oder die Struktur unserer Erkenntnis ist bestimmt, und somit ist die Struktur des unserer Erkenntnis proportionierten Seins bestimmt. (Fs)

420c Kraft solcher strategischer Sätze von Urteilen ist es nun möglich, zwischen dem allgemeinen Charakter des konkreten Universums einerseits und dem konkreten Universum in all seinen Einzelheiten andererseits zu unterscheiden. Eine Bestimmung des allgemeinen Charakters des konkreten Universums ist offenkundig eine abstrakte Sicht vom Sein; denn sie betrachtet nicht das Ganze des Seins als ein Ganzes, sondern das Ganze des Seins als festgelegt durch einen strategischen Teil oder Aspekt. (Fs)

420d Auf diese Weise gelangt man zu einer allgemeinen Bedeutung für die Redewendung "Sein als Sein". Um aber zu bestimmen, was Sein als Sein in einer bestimmten Philosophie ist, muß man die strategischen Urteile dieser Philosophie überprüfen; und um zu auszumachen, welches die korrekte Bedeutung von Sein als Sein ist, muß man die strategischen Urteile der korrekten Philosophie überprüfen. (Fs)

420f Achtens, ist die Notion von Sein eine Gattung oder eine Art oder eine Differenz?

Insofern die Notion von Sein allen anderen Erkentnnisinhalten vorausgeht, ist sie wie eine Gattung, die auf eine Teilung durch Hinzufügung von Differenzen wartet. Insofern aber die Notion des Seins alle anderen Inhalte vorwegnimmt, durchdringt und einschließt, unterscheidet sie sich von der Gattung, die ein bestimmter Inhalt ist, der vom Inhalt ihrer Differenzen völlig verschieden ist. Das Sein kann so etwa in rote, grüne und blaue Seiende eingeteilt werden; und die Farbe kann in rote, grüne und blaue Farben eingeteilt werden. Aber der Begriff von Rot hat einen Inhalt oder ein Inhaltselement, die im Begriff der Farbe nicht vorkommen, und so differenziert er die Gattung, indem er ihr etwas von außen her hinzufügt. Andererseits hat der Begriff von Rot keinen Inhalt und kein Inhaltselement, die in der Notion des Seins nicht vorkämen; er kann das Sein nicht differenzieren, indem er ihm etwas von außen her hinzufügt; denn ohne Sein, außer dem [363] Sein, gibt es einfach nichts. Schließlich untermauert und durchdringt die Notion des Seins nicht nur alle anderen Inhalte, sondern sie vervollständigt sie auch, insofern das "Ja" des Urteils sie als eigentlich erkenntnismäßig konstituiert und sie so mit einer wirklichen objektiven Referenz versieht. (Fs)

421a Neuntens, wenn man denkt, aber noch nicht urteilt, denkt man entweder an das Sein oder an das Nichts. Denkt man an das Sein, so braucht man nicht zu urteilen, um das Sein zu erkennen. Denkt man an das Nichts, so muß alles Denken identisch sein, weil es immer mit demselben Nichts zu tun hat. (Fs)
Wenn man denkt, betrachtet, annimmt, oder definiert, so tut man das im Hinblick auf das Sein. Wir akzeptieren deshalb die erste Alternative: Das, worüber man denkt, ist Sein. Das Sein zu denken, ist nun eine Sache, das Sein zu erkennen, eine andere. Das Sein zu denken bedeutet, auf der zweiten Ebene des Erkenntnisprozesses zu handeln; es bedeutet, auf dem Weg zu einem vollständigen Erkenntniszuwachs zu sein; aber es bedeutet nicht, irgendetwas erreicht zu haben, was mehr wäre als ein Teilzuwachs, der nur durch ein Urteil vervollständigt werden kann. (Fs)

421b Zehntens, die Notion von Sein ist die Notion des konkreten Universums. Universelle Aussagen sind nun aber abstrakt, und trotzdem können sie in Urteilen bejaht werden. Das Urteil ist also entweder nicht über das Sein, oder aber das Sein ist nicht konkret. (Fs)
Die Notion von Sein ist die Notion des Konkreten in derselben Weise, wie sie die Notion des Universums ist. Sie ist Notion des Universums, weil die Fragen nur dann zu einem Ende gelangen, wenn es nichts mehr zu fragen gibt. Sie ist Notion des Konkreten, weil stets weitere Fragen übrig bleiben, bis das Konkrete erreicht ist. Deshalb kommt nicht das Einzelurteil, sondern die Gesamtheit der korrekten Urteile dem konkreten Universum gleich, welches das Sein ist. (Fs)

421c Das Problem der allgemeinen Aussage kann angegangen werden, indem man zwischen den formalen und den materiellen Aspekten der analytischen Aussage unterscheidet. Formal ist eine analytische Aussage
(1) ein Bedingtes, das
(2) mit seinen Bedingungen durch die Gesetze verbunden ist, welche die Vereinigung der partiellen instrumentellen Bedeutungen von Wörtern in die komplette instrumentelle Bedeutung des Satzes leiten, und zwar so, daß
(3) seine Bedingungen erfüllt werden durch die Bedeutungen oder Definitionen der verwendeten Wörter.

422a Materiell unterscheiden sich die analytischen Aussagen, insofern für die verwendeten Termini und Relationen [364]
(1) erkannt werden kann, daß sie in konkreten Tatsachenurteilen vorkommen,
(2) nicht erkannt werden kann, daß sie in konkreten Tatsachenurteilen vorkommen, oder
(3) erkannt werden kann, daß sie nicht in konkreten Tatsachenurteilen vorkommen. (Fs)

422b Formal bezieht sich jede analytische Aussage auf das konkrete Universum, insofern syntaktische Gesetze tatsächliche Aspekte der Vereinigung partieller Bedeutungen in komplette instrumentelle Bedeutungen sind. Materiell beziehen sich einige analytische Aussagen auf das konkrete Universum entweder tatsächlich, wie im ersten Falle, oder versuchsweise, wie im zweiten. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt