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Autor: Lortz, Joseph

Buch: Die Reformation in Deutschland

Titel: Die Reformation in Deutschland

Stichwort: Reformation - Voraussetzungen; Geschichte - Ursache; devotio moderna

Kurzinhalt: ... die Geschichte ist eine objektive Sichtbarmachung der innern Konsequenz der einmal ausgesprochenen Ideen und gesetzten Tatsachen und auch eine objektive Sichtbarmachung des Willens Gottes

Textausschnitt: 4. Damit ist schon angedeutet, daß der Begriff der Ursachen, denen wir nachspüren wollen, nichts zu tun haben kann mit schulmeisterlicher Enge. Vielmehr muß er in umfassender Bedeutung genommen werden. Die erwähnte 'Sinnerfülltheit' besagt, daß eine historische Erscheinung sich in eine erkennbar planmäßige Entwicklung einreiht und sich insofern aus ihr erklärt. Das heißt aber wiederum, daß der Begriff der historischen Ursache weit hinausgreift über die eigentliche und unmittelbare Verursachung; er erweitert sich zum Begriff der Grundlegung, Vorbedingung, Vorbereitung. (Fs)

5b In dieser umfassenden Bedeutung reicht der Begriff dann wieder wesentlich hinaus über die strenge Nachweisbarkeit und vor allem auch über das Bewußtsein des Zusammenhanges zwischen Ursache und Verursachtem. Ich will sagen: eine sogar grundlegende und umfassende historische Ursache kann vorliegen, ohne daß die Träger eines von ihr abhängenden historischen Vorganges sich dieses Zusammenhanges bewußt sind und ohne daß der Historiker in der Lage wäre, die direkte Verbindung zwischen Ursache und Wirkung aufzudecken, den Kanal bloßzulegen, durch den die Wirkung ihren Lauf nahm. So zieht etwa Luther in seinem eigenen Werden wie im Aufbau seiner Kirche und deren Ausbreitung Nutzen von einer Menge früherer Vorgänge und Vorläufer, mit denen er und seine Zeit zunächst keine bewußte Verbindung mehr hatten. (Fs)

5 c Denn viel tiefer als die bewußt aufgenommene Anregung reichen jene ursächlichen Verkettungen, die in der weniger genau kontrollierbaren Anregung des blutsmäßigen Erbes und des geistigen Milieus gegeben sind. Solche unsichtbare Anregung scheidet aber deswegen nicht aus der wissenschaftlichen Betrachtung aus. Der tiefste Grund: die Geschichte ist eine objektive Sichtbarmachung der innern Konsequenz der einmal ausgesprochenen Ideen und gesetzten Tatsachen und auch eine objektive Sichtbarmachung des Willens Gottes; die Geschichte, aufs Große gesehen, ist, trotz des entscheidenden Einflusses des Genies, dem Wollen und Wünschen der Menschen weithin enthoben. (Fs) (notabene)

6a Infolgedessen kann es wissenschaftlich berechtigt sein, große Tatsachen, die ganze Jahrhunderte gekennzeichnet haben, in die Ursachenreihe einer späteren Erscheinung einzureihen, auch wenn ein unmittelbarer oder durch Zwischenglieder genau belegbarer Zusammenhang nicht nachweisbar ist, vorausgesetzt, daß eine starke innere Verwandtschaft der beiderseitigen geistig-seelischen Struktur vorliegt und daß die in Frage stehende Entwicklung im gleichen geistigen Räume verläuft. (Fs)

Konkret gesprochen: Wenn aus einer vollkommen an die römische Kirche gebundenen Haltung der abendländischen Völker des 12. Jahrhunderts im 16. Jahrhundert eine großenteils unabhängige, ja widersetzliche geworden ist, dann zwingt diese Verlagerung, zu ihrer Erklärung als Ursachen heranzuziehen alle Etappe markierenden Ereignisse, die jene Gebundenheit gelockert, diese Freiheit gefördert haben. (Fs)

6b Der Begriff 'Ursache' ist auch schärfstens abzusetzen von der Vorstellung, als ob die Wirkung oder auch nur die Hauptwirkung einer Idee oder Wirklichkeit immer entscheidend gemessen werden müßten an dem Bild, das die Schöpfer dieser Idee von ihr in sich tragen. Inhaltlich gesehen ist z. B. der kirchentreue Reformeifer der 'devotio moderna' (s. unten S. 121) das volle Gegenteil zur häretischen Reformation. Aber dadurch, daß jener Reformeifer sich kräftig und erfolgreich gegen den überhandnehmenden Formalismus (den 'Judaismus', wie Erasmus und Luther sagen werden) stemmten und die Bedeutung des Einzelgewissens hervorhoben und stärkten, wurde sie ganz gegen ihren Willen zu einer wichtigen »Ursache' der Reformation. Sie verbreitete eine geistige Haltung, die formale Ähnlichkeit mit derjenigen Luthers hatte, und so von diesem mit seinem Inhalt gefüllt werden konnte, was ohne jene Wirkung nicht in dem Umfang innerhalb kirchlicher Kreise möglich gewesen wäre. (Fs)

6c Die Frage geht also auch nicht etwa dahin, zu erklären, wie die persönliche Entwicklung Luthers möglich wurde, sondern es soll gezeigt werden, wie es kommen konnte, daß dieser Mann einen Großteil der abendländischen Völker mit sich reißen konnte, daß also die Reformation als welthistorische, die ganze damalige und folgende Zeit religiös-kirchlich und darüber hinaus prägende Erscheinung möglich wurde. (Fs)

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