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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Mangel an Führereigenschaften

Kurzinhalt: Sie schauten nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, änderten ihr bisheriges Leben nicht, sondern suchten es aufrechtzuerhalten. Immer noch waren sie bestrebt, möglichst viele Pfründen an sich zu ziehen, ...

Textausschnitt: 2. Der Mangel an Führereigenschaften

86a Führen heißt die Ziele einer Bewegung angeben und andere auf sie hinlenken. Ein Führer muß also an erster Stelle befehlen können. Im Augenblick der Entscheidung muß er einen klaren Entschluß fassen, daran festhalten und ihn notfalls anderen aufzwingen. Selbstverständlich müssen sich führende Persönlichkeiten beraten lassen. Die zu treffenden Entscheidungen setzen häufig Spezial- und Detailkenntnisse voraus, über die sie nicht verfügen können. Aber die Beratung darf nicht die Führung ersetzen; aus Beratern dürfen nicht Entscheidende werden. Diese Beobachtung läßt sich aber bei nicht wenigen Bischöfen machen. Sie waren von ihren Räten nicht nur bei der Einholung von Wissen abhängig, sondern auch beim Fassen des Entschlusses; sie wurden aus führenden zu vollstreckenden Persönlichkeiten. Zu viele Bischöfe hatten keine Begabung, zu regieren, und sie haben diese Fähigkeit auch nie erworben. Das Regierungstalent anderer war für normale Zeiten ausreichend; aber den außerordentlichen Geschehnissen, die sich seit 1517 abspielten, waren sie nicht gewachsen. (Fs)

86b Führende Persönlichkeiten haben die Gabe der Vorausschau nötig. Sie müssen in der Lage sein, die Kräfte und die Bewegungen der Gegenwart zu analysieren und daraus auf die wahrscheinliche Entwicklung in der Zukunft zu schließen. Den meisten Bischöfen des 16. Jahrhunderts fehlte die Weitsicht. Sie waren nicht fähig, den Gang der Dinge vorauszusehen und die Folgen von Maßnahmen abzuschätzen. Sie schauten nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, änderten ihr bisheriges Leben nicht, sondern suchten es aufrechtzuerhalten. Immer noch waren sie bestrebt, möglichst viele Pfründen an sich zu ziehen, um so ihre Einkünfte aufzubessern. Inmitten der furchtbaren Not ihrer Diözesen ergötzten sie sich an den Witzen und Streichen von Hofnarren. Wer an dem Nürnberger Reichstag 1522 teilnahm, konnte die traurige Beobachtung machen, daß Bischöfe sich an Bällen und öffentlichen Belustigungen beteiligten. Sie hätten sich darüber klar sein müssen, daß die Wittenberger Irrlehre dank ihrer populären Forderungen und ihrer bequemen Seiten fortschreiten werde und daß daher alles, aber wirklich alles aufgeboten werden müsse, um sie zu überwinden. Die Gegenwart bietet für den Mangel an Voraussicht treffliches Vergleichsmaterial. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den sogenannten katholischen Ökumenismus eröffnet. Seine Durchführung besteht darin, daß beinahe alle Schranken gegen die Irrlehren niedergerissen werden und daß die Kirche von einem gigantischen Prozeß der Protestantisierung erfaßt ist. (Fs)

87a Wer führt, muß weiter Menschen einsetzen können; das vermag er aber nur, wenn er sie richtig einzuschätzen vermag. Ein Führer muß Menschenkenntnis besitzen. Vielen Bischöfen fehlte sie. Sie durchschauten lange Zeit nicht die Gefährlichkeit und die Entschlossenheit, die Bosheit und die Tücke der Aufrührer, sie wußten aber auch nicht um die Schwäche und die Unselbständigkeit, die Verführbarkeit und das Mitläufertum der meisten Menschen. Sie vertrauten Versprechungen, die nicht ernst und nicht ehrlich gemeint waren, und sie beruhigten sich bei Zusagen, deren Fadenscheinigkeit schon in dem Augenblick erkennbar war, da sie gemacht wurden. Es fehlte ihnen das gesunde Mißtrauen gegenüber der Brüchigkeit des Menschen. Die Bischöfe verstanden es häufig nicht, den richtigen Mann an den richtigen Platz zu stellen und andere rechtzeitig abzulösen; sie ließen sich vom Schein und von gleisnerischen Worten blenden, statt hinter die Fassade zu blicken. (Fs)

87b Die Bischöfe begriffen auch nicht, daß eine großangelegte Strategie die Bildung von Schwerpunkten und die Konzentration der Kräfte verlangt. Im Kriege hat nur das Einfache Aussicht auf Erfolg. Im Kampf um Sein oder Nichtsein hat allein die rücksichtslose Ausschöpfung aller Hilfsquellen eine Verheißung. Angesichts der ungeheuren Drohung, die vom Protestantismus ausging, wäre es angebracht gewesen, alle Händel, Bestrebungen und Kränkungen, die einer Zusammenfassung der Mittel entgegenstanden, zu vergessen und hintanzustellen. Aber viele Bischöfe verstanden nicht, daß jetzt keine Zeit mehr war für fürstliches Kunstmäzenatentum, sondern daß die Kräfte und Mittel auf die Erhaltung der heiligen Religion konzentriert werden mußten. Mitten in einem beispiellosen Existenzkampf der Kirche wollten sie ihr glänzendes Leben als Fürsten fortsetzen. Statt die Einkünfte zur Stützung des bedrohten Glaubens zu verwenden, gaben sie es für Hofhaltung, Bauten und Geschenke aus. Sie machten keine Anstalten, die Temporalien der Kirche in einer gewaltigen Sammlung der Kräfte für die Unterdrückung der Neuerung einzusetzen. Man konnte sich nicht entschließen, irgendwo ganze Arbeit zu leisten. Zu wenige Bischöfe begriffen den Grundsatz, daß, wer alles schützen will, nichts retten kann. Es hätten eben große kulturelle Werte hingegeben werden müssen, um die heilige Religion zu verteidigen. "Wer also Alles schützen wollte, mußte verlieren, wer gemäßigt den Mittelweg schritt, war zu verständig und eben darum zu kalt, um wirken und um sich behaupten zu können, wo Leidenschaften aufgeregt waren" (Gustav Adolf Harald Stenzel). (Fs)

87c So manchem Bischof waren sodann wegen seiner körperlichen Verfassung, also wegen Alter, Krankheit oder Gebrechlichkeit, eine energische und ausgreifende Tätigkeit und erst recht der Kampf wirklich oder angeblich nicht möglich. Es zeigte sich, daß auf einen Bischofsstuhl nur Männer gehören, die physisch den Anforderungen des Amtes gewachsen sind. Viele Bischöfe waren freilich mit der Pflege ihrer Leiblichkeit mehr als tunlich beschäftigt. Sie schonten sich, weil sie kränklich oder hypochondrisch waren, und fielen damit für energisches Durchgreifen, z. B. bei und durch Visitationen, aus. In Zeiten des Kampfes auf Leben und Tod ist jedoch eigene Schonung unangebracht, ja macht schuldig. (Fs)

88a Ein Regent, der sein Amt zum Wohl der ihm Anvertrauten ausüben will, kommt weiter um unpopuläre Entscheidungen und Maßnahmen nicht herum. Dieses Erfordernis ergibt sich aus mehreren Überlegungen. Die Notwendigkeiten der Zukunft stehen häufig in einem Gegensatz zu den Erwartungen der Gegenwart. Wer regiert, muß für das Morgen sorgen, auch wenn die große Menge lediglich an dem Heute interessiert ist. Die Sorge für das Ganze bedingt Opfer der einzelnen. Die Masse der Menschen denkt nur an sich und nicht an das Ganze; sie selbst will entlastet, die anderen sollen belastet werden. Wer regiert, muß sich dagegen notfalls auch gegen die Mehrheit entscheiden. Die meisten Menschen lieben das bequeme Kompromiß; Konsequenz ist bei ihnen nicht gefragt. Wer kraftvoll regieren will, darf vor einschneidenden Maßnahmen nicht zurückschrecken. Den meisten Bischöfen fehlte der Mut, sich durch entschiedene, durchgreifende Aktionen unpopulär zu machen. Die Eigenliebe war bei ihnen größer als die Liebe zum Kreuz. "Nichts macht uns feiger und gewissenloser als der Wunsch, von allen Menschen geliebt zu werden" (Marie von Ebner-Eschenbach). (Fs)

88b Zu viele humanistisch gebildete Bischöfe waren schließlich mehr für das Reden als für das Handeln gerüstet. Sie waren im Reich des Gedankens zu Hause, nicht in dem der Tat. Lesen, schreiben, disputieren, das war ihr Metier. Nun sollten und mußten sie handeln. Dafür fehlte ihnen die Kraft. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Reich des Geistes und der Welt des Tuns. Die Qualitäten für das eine gehen häufig nicht zusammen mit den Eigenschaften für das andere. Soweit die Bischöfe aufrichtig und ehrbar waren, waren sie geschaffen, in friedlichen Zeiten zu leben. Die Anforderungen einer Epoche wie jener der Religionsneuerung gingen über ihre Kraft; sie hatten selbst Führung, Unterstützung und Aufrichtung nötig, die sie anderen vermitteln sollten. In einer scheinbar oder wirklich aussichtslosen Lage zeigt es sich, was in einer führenden Persönlichkeit ist, ob sie die Stärke besitzt, bis zum Untergang zu kämpfen, oder ob sie sich zurückzieht, um für sich selbst noch ein paar friedliche Jahre herauszuholen. Es braucht gewiß eine große Kraft, um auf verlorenem Posten auszuharren, aber von führenden Menschen muß sie erwartet werden. Aussichtslosigkeit ist keine Entschuldigung für Untätigkeit. Wenn man die Bischöfe des 16. Jahrhunderts mit führenden Persönlichkeiten anderer Gebiete vergleicht, wird man feststellen müssen, daß es mehr überdurchschnittliche und tatkräftige politische und militärische Führer gab als Bischöfe. (Fs)

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