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Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - der rationalistische Aspekt

Kurzinhalt: Neben die Reduktion der (notwendig anzunehmenden) Lehre trat deren Verflachung und Umdeutung, die sie den Menschen plausibel machen sollte, indem sie das Mysterium zurückdrängte oder auflöste.

Textausschnitt: Die Appelle an die Emotionen

30a Wer die Massen in Bewegung setzen will, muß ihnen Parolen liefern, die an ihre Emotionen rühren. Denn sie werden stärker von Gefühlen als von Einsichten bestimmt. Diese Beobachtung zeigt sich deutlich in der protestantischen Bewegung. Ihre Urheber und Vorkämpfer verstanden sich meisterhaft auf die Psychologie der Massen. (Fs)

1. Der rationalistische Aspekt

30b Ein wesentlicher Faktor, der zu dem Erfolg der protestantischen Bewegung beitrug, war der rationalistische Aspekt derselben. Darunter ist die Berufung auf das angeblich Vernunftgemäße und Verstandesmäßige, auf die sogenannte Wissenschaft und die vermeintliche Klarheit zu verstehen, die bei Luther und seinen Anhängern üblich war. Man behauptete, die "Kirche" habe die Laien absichtlich in Unwissenheit gehalten, aus der sie nun durch Luther befreit würden. Es ist verständlich, daß diese Parole willig aufgegriffen wurde. (Fs)

30c Schon in seiner Schrift "Eine Freiheit des Sermon päpstlichen Ablasses und Gnade belangend" von 1518 erklärte Luther, er nehme (nur das) an, "was der Heilige Vater mit Schrift oder Vernunft beweist". Mit diesem Satz wurde implizit die kirchliche Autorität vernichtet und an ihre Stelle die Hoheit der Schrift, ja in letzter Linie der (eigenen) Vernunft als deren Interpretin etabliert. Luther trat mit dem (hybriden) Anspruch auf, nach Jahrhunderten falscher Interpretation der Bibel die richtige Auslegung zu bringen. Die "Vernunft" war es, die nach ihm über die Schriftauslegung entscheidet. Die Exegese untersteht der Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist. "Die Schriftauslegung wird damit zum weltlichen Geschäft, dem kühlen Wind der kritischen Vernunft hingegeben, der Forderung auf Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit ausgesetzt" (Heiko A. Oberman). (Fs) (notabene)

30d Aus dieser Auslegung erwuchs schon unter der Hand Luthers eine Reduktion der Lehre. Der Protestantismus verwarf Glaubensgegenstände, die nach dem katholischen Glauben als von Gott geoffenbart anzunehmen sind. Ich erinnere nur an so fundamentale Wahrheiten wie die von der hierarchischen Verfassung der Kirche und von dem Weihepriestertum. Eine inhaltlich verringerte und dadurch einfachere Lehre pflegt nun die Menschen mehr anzusprechen als eine materialreiche und formal komplizierte Lehre. Diese Beobachtung erklärt bekanntlich die Erfolge der Propaganda des Islam gegenüber der Mission der Kirche. Ähnlich war es aber auch im Verhältnis von Protestantismus und katholischem Glauben im 16. Jahrhundert. Die rationalistische Neigung im Menschen mußte an Luthers Verfahren Befriedigung finden. Die Beseitigung zahlreicher Lehren und Einrichtungen der Kirche, die Luther vornahm, konnte dem auf Einfachheit und Übersichtlichkeit ausgehenden Denken einleuchtend erscheinen. Die Zurückdämmung des sakramentalen Lebens durch die Leugnung von fünf Sakramenten vermochte den Beifall rationalistischen Empfindens zu finden. (Fs)

31a Neben die Reduktion der (notwendig anzunehmenden) Lehre trat deren Verflachung und Umdeutung, die sie den Menschen plausibel machen sollte, indem sie das Mysterium zurückdrängte oder auflöste. Luther bediente sich geschickt auch hier bis zu einem gewissen Grade des Rationalismus, um sich Anhang zu verschaffen. In seiner Sakramentenlehre, vor allem bei seiner Ablehnung der Wesensverwandlung und des Opfercharakters der Messe, räumte er Glaubenswahrheiten aus, die dem Verstehen Schwierigkeiten bereiten, und kam so der latenten Tendenz im Menschen, das Nichtzuverstehende zurückzudrängen, entgegen. Es mußte dem Kalkül schmeicheln, wenn Luther erklärte, im Altarssakrament vollziehe sich keine Verwandlung, sondern Christus sei lediglich unter dem Brot und Wein gegenwärtig. Die Leugnung des Opfercharakters der hl. Messe beseitigte Denkschwierigkeiten, die im 16. Jahrhundert noch nicht vollends aufgearbeitet waren. Einzelne seiner Anhänger gingen bekanntlich noch weiter. König Ferdinand I. schrieb am 31. Mai 1527 aus Prag an seinen Bruder Karl, man sage öffentlich, daß das Altarssakrament bloßes Brot und daß Gott darin nicht enthalten sei, eher der Teufel. Der Zwinglianismus, der dem Rationalismus umfangreichere Zugeständnisse machte als das Luthertum, mußte für dieses eine ernste Konkurrenz bedeuten. Selbstverständlich betrat der Protestantismus mit seiner angeblich verstandesmäßigen Kritik an katholischen Lehren eine schiefe Ebene. Es ist ja kein Grund ersichtlich, weshalb die menschliche Vernunft bei der Bibel stehenbleiben und warum sie nicht diese selbst der Kritik unterziehen soll. Dennoch ist an dem Erfolg solchen Vorgehens nicht zu rütteln. Die rationalistische Reduktion der Geheimnisse des Glaubens führte dem Protestantismus zweifellos nicht wenige Anhänger zu. Schwarmgeister und Freidenker begrüßten die Bewegung. Voltaire und Rousseau haben ebenfalls große Eroberungen unter den Geistern gemacht, weil eben der Deismus für viele verführerisch war und sie ihn dem Offenbarungsglauben vorzogen. (Fs)

31b Neben Reduktion und Uminterpretation unaufgebbarer katholischer Lehren räumte Luther auch auf dem Gebiet der religiösen Praxis mit vielen katholischen Einrichtungen und Übungen auf. Der Protestantismus hatte den Dünkel, die Religion von angeblich abergläubischen Gebräuchen reinigen zu müssen. Dazu rechnete er u. a. Prozessionen und Wallfahrten, vor allem die Verehrung des sakramental gegenwärtigen Herrn. So beliebt diese Übungen des gläubigen Volkes einerseits waren, so angreifbar waren sie für ehrfurchtslose und vor allem für ungläubige Geister. Die Neigung, die Existenz von etwas zu leugnen, dessen Daseinsweise man nicht versteht, ist ja latent in jedem Menschen. Jetzt wurde sie von Theologen und (ehemaligen) Priestern gefördert und bestätigt. Auch die Vernichtung der hohen Ideale, die mit dem Ordensleben verbunden waren, mußte einem flachen Verstand eingehen. Denn er sah eben das Auswirken der körperlichen Kräfte, also auch des Sexualtriebs, als das Naturgegebene und Normale an. (Fs)

32a In den Kreis der rationalistischen Komponente in der protestantischen Bewegung gehört das Pochen Luthers auf seine Würde als theologischer Doktor. Luther war Theologe, Doktor und Professor, und er wußte dies ins Spiel zu bringen. Was er vortrug, galt als Wissenschaft, und es ist bekannt, wie leicht Nichtwissenschaftier bereit sind, etwas anzunehmen, was ihnen im Namen der Wissenschaft vorgelegt wird. So bildete sich der Schein, als stehe in seinem Kampf Wissenschaft gegen Hierarchie. Rationalistisch war auch die Meinung Luthers, er habe recht gegen die ganze Kirche, weil seine Ansicht besser begründet sei. (Fs)

32b Die rationalistische Komponente in der lutherischen Bewegung erklärt zum erheblichen Teil den Dünkel und die Arroganz ihrer Anhänger. Ein geradezu unheimliches Selbstgefühl und eine kaum normale Überheblichkeit prägten schon Luther; er vermittelte beides dem Protestantismus. Dieser verstand es, seiner Gefolgschaft das Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Katholiken einzupflanzen; diese wurden als abergläubisch und rückständig gegenüber den aufgeklärten und modernen Protestanten ausgegeben. Indem protestantische Lehrer bestimmte katholische Lehren unter Berufung auf die Vernunft verwarfen, verschafften sie jenen ihrer Anhänger, bei denen diese Argumentation verfing, das wohltuende Bewußtsein geistiger Stärke. Wenn man die Schwierigkeiten der Rekatholisierung und den Widerstand gegen sie darstellt, muß man sich zur Erklärung auch an das Gefühl der Überlegenheit, das die Prädikanten ihren Anhängern eingeimpft hatten, sowie an die Geringschätzung der Katholiken, die sie ihrer Gefolgschaft beigebracht hatten, erinnern. Es war kein Wunder, daß die Parteigänger der neuen Lehre von dem angeblich höheren Niveau nicht auf ein niederes herabsteigen wollten. (Fs)

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