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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Anpassung (David Riesman); Opportunismus, Selbstauslöschung, Konsumpflicht; Weltethik



Kurzinhalt: Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse haben heutzutage eine Übermacht, die dazu nötigt, den Begriff der Anpassung einzuführen, wenn man das Verhalten der Menschen beschreiben will.

Textausschnitt: 1. Anpassungen

41b In die bisher gewonnenen Umrisse lassen sich nun eine Reihe von Feststellungen eintragen, die uns dazu dienen sollen, den Tiefgang und Umfang der eingetretenen Veränderungen nun auch von innen her, unter soziologischem und sozialpsychologischem Gesichtspunkt zu ermessen. (Fs)

41c Die seit Jahrhunderten steigende und mit der Industrialisierung noch großartig weitergetriebene Komplizierung des sozialen Aufbaus und Gefüges hat eine sehr große Zahl von Menschen nicht nur von der Urproduktion abgeschichtet und zu Städtern gemacht, sie hat sie darüber hinaus in so hochgradig indirekte, verwickelte und überspezialisierte Funktionen hineingenötigt, daß die moralische und geistige Anpassung an diese Situation, man möchte sagen: daß die Erhaltung des sozialen Gleichgewichtes im einzelnen zu einer schwer lösbaren Aufgabe geworden ist. Dabei ist es bemerkenswert, daß die Selbstverständlichkeit, mit der in sozialpsychologischen Untersuchungen der Begriff »Anpassung« sich durchsetzte, nicht schon längst mehr Aufmerksamkeit erregte. Dieser Begriff setzt ja die Vorstellung unbeeinflußbarer Bedingungen der Außenwelt voraus, denen sich ein Organismus nicht entziehen, die er aber auch andererseits nicht umgestalten kann. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Verhältnisse haben heutzutage eine Übermacht, die dazu nötigt, den Begriff der Anpassung einzuführen, wenn man das Verhalten der Menschen beschreiben will. Die großen Superstrukturen der neuen Zivilisation verselbständigen und »entfremden« (Hegel, Marx) sich*, sie zwingen das innere und äußere Verhalten der Menschen in die Form der Anpassung, ein Vorgang, der nur zum Teil willkürlich und kontrolliert vor sich geht, zum größeren Teil aber unbewußt - und dies vor allem dann, wenn er in einer Veränderung der Auffassungsweisen, der Denkformen, ja der Bewußtseinsstrukturen selbst besteht und nicht bloß in dem Zwang, immer neue Inhalte aufnehmen und bewältigen zu müssen. Die vorhin beschriebene Primitivisierung (II, 3) unserer Denkweise, die in der Aufnahme technischer Modelle besteht, schlägt sich zwar im Bewußtsein nieder, sie erfolgt aber »von selbst«, unwillkürlich und ohne beachtet zu werden. (Fs)

42a So liegen denn auch schon Versuche vor, die Anpassung zum Grundbegriff der ganzen systematischen Psychologie zu machen*, und erst neuerdings wird man in den Vereinigten Staaten, wo jener Vorgang mit der größten Selbstverständlichkeit empfohlen wurde, in dieser Hinsicht skeptisch: für David Riesman* ist der voll Angepaßte eben damit bereits der »Überangepaßte« (overadjusted), und »das Verhalten in der bloßen sozialen Konformität wird als ein defizienter Verhaltenstyp bestimmt«.* (Fs)

42b Die Komplizierung der zivilisatorischen Superstrukturen ist in der Tat groß, die Verhältnisse sind so undurchsichtig, daß eine eigene Wissenschaft zu ihrer Erforschung und Beschreibung notwendig geworden ist - eben Soziologie, die mit Mühe versucht, jene Verhältnisse in der Vorstellung konkreter Bedingungen und Folgen zu übersehen. Alle Planung hängt an der Voraussetzung, daß man sie wenigstens noch berechnen kann. Für den einzelnen hat dies zunächst die Folge, daß seine Begriffe von dem, was er tut, und von dem, was ihm widerfährt, nicht mehr zusammenhängen: er tut z. B. ordentlich seine Arbeit und wird durch eine irgendwo auf dem Erdball ausgelöste, ihm völlig unverständliche Krise arbeitslos. Als Reaktion gibt es kaum ein anderes Verhalten als das des Primitiven, der auch nicht verstehen kann, warum er krank wird - er findet einen »Schuldigen«, und dies ist immer der, der schon aus anderen Gründen unbeliebt ist. (Fs)

43a Die tiefere Vernünftigkeit des Verhaltens wird überhaupt offenbar schwieriger. Denn jedes arbeitsteilig hochspezialisierte Handeln, wie es die Industriekultur überall außer im Bereiche der Landwirtschaft und gewisser schon vorindustrieller Handwerke verlangt, trennt sich vom Resultat und damit von der Kontrolle am Erfolg oder Mißerfolg. Es wird damit leicht leerlaufend, steril und, in unbemerkter Zweckwidrigkeit weiter betrieben, imaginär. Dies gilt besonders dort, wo die großen disponierenden Tätigkeiten in Wirtschaft, Politik, Verwaltung mit unvollständiger Kenntnis der Operationsbedingungen und mangelhaften oder unscharfen Informationen arbeiten müssen und wo die Frage, ob überhaupt Erfolge erreicht wurden, ihrerseits wieder nur an Hand ebensolcher Informationen zu beantworten ist; es gilt auch in hohem Grade für den gesamten Lehr- und Unterrichtsbetrieb, wo die Prüfungen und Examina doch nur sehr zufällig feststellen, was überhaupt ankam, und wie. »Ein Professor kann im Irrtum leben und sein ganzes Leben darin verharren, er kann tausend, zehntausend Intelligenzen vernichten, er hält doch seinen guten Platz und bezieht einen angenehmen Ruhestand. Aber ein Bauer, der es zweimal hintereinander mit der Saat versieht, ist ruiniert.«* Dieses Beispiel kann für sehr viele hoch bedingte und indirekte Berufe gelten, und die Spezialisten und Funktionäre aller Gebiete kommen leicht in die Lage, daß der Mangel einer unmittelbaren und anschaulichen Sanktion ihres Denkens und Handelns ihnen die Möglichkeit nimmt, sich durch nachdrücklich erlebte Rückwirkung ihrer Fehler zu disziplinieren. Dieser letztere Vorgang ist aber nach der Meinung eines bekannten Anthropologen »der früheste und wirksamste disziplinierende Beitrag, den alle kulturellen Tätigkeiten für die Steuerung des menschlichen Verhaltens liefern«.* Niemals bisher gab es die heute häufige Erscheinung, daß die Propaganda, mit der irgendeine öffentliche Sache durchgesetzt werden soll, in ihrer Erbitterung und Intoleranz schon die eigene Ahnung durchklingen läßt, sie werde an dem ungreifbaren, aber unüberwindlichen Widerstand der Verhältnisse oder der Menschen scheitern. (Fs)

44a Die Spezialisierung wird allgemein als systemnotwendig begriffen und ebenso allgemein beklagt, besonders von leitenden Funktionären jeder Art, die die Vielseitigkeit ihrer Aufgaben und die abnehmende Wahrscheinlichkeit kennen, jüngere Kräfte dazu heranzubilden. Das Problem ist ebensowohl ein moralisches, denn nur ein entwickelbares, an Erfolgen sich anreicherndes, an vielen Fronten sich exponierendes und Erfahrungen und Rückschläge sich einverleibendes Handeln kann dazu führen, auch tiefere und persönlichere Motivgruppen ins Spiel zu bringen und den moralischen Kern der Person zu beanspruchen. Aber die spezialisierten Leistungen, die das industriell-bürokratische System so zahlreich benötigt, haben sehr oft nicht Plastik und inneren Gehalt genug, um zur Selbstwertsättigung sich abzurunden, sie sind nicht mehr nach allen Seiten »offen« und daher keine »in sich selbst genußreichen Erfahrungen« (experiences enjoyable in themselves, J. Dewey)*. So werden die gesellschaftlichen Funktionen von sehr vielen Menschen eigentlich weniger gelebt als geleistet, und dafür ist ein bezeichnendes Symptom, wie im Sprachgebrauch die Worte »Träger« und »Inhaber« um sich greifen: die Person blaßt zum Träger oder Inhaber von Qualifikationen, Ansprüchen, Merkmalen, Leistungen, Rechten usw. ab, von abstrakten und kategorisierbaren Restimmungen. Als neueste Frucht dieser wortschöpferischen Gedankenlosigkeit kann man den Ausdruck »Sonderbedarfsträger« antreffen. (Fs)

44b Die Anpassung an geistig unbegreifliche, moralisch inkommensurable und dabei doch übermächtige Verhältnisse kann in sehr verschiedener Weise geschehen. Einmal als Opportunismus, als Selbstauslieferung an die wechselnden Umstände - eine so naheliegende und häufige Reaktionsform, daß man im Gegenzug dazu in völliger Verkennung der eigentlich wirksamen Faktoren die Gesinnungszurechnung weit überspannt hat. Eine unbeirrbare Gesinnung zu haben, sie durch alle wechselnden und so oft ungünstigen Konstellationen hindurch solange zu behaupten, bis irgendeine zufällig günstige (auf deren Erscheinen man zudem noch keinerlei Einfluß hat) sie endlich honoriert - das ist ein Lebensplan, den man wohl nur Menschen zumuten kann, die zum Heroismus oder Fanatismus bereit sind, also nicht sehr vielen. Eine andere, auch nicht selten zu beobachtende Form der Anpassung ist die Selbstauslöschung, die Flucht in die Unauffälligkeit, der Totstellreflex. Eine dritte sehr wichtige besteht in einer Art Feminisierung, in der Entwicklung der Konsumenteneinstellung und einer neuartigen Passivität. Von Feminismus kann deswegen gesprochen werden, weil wenigstens bisher der ganz vorbehaltlose, mit dem besten Gewissen betriebene Konsum, zumal Luxuskonsum, ein Privileg der Frauen gewesen ist.* (Fs) (notabene)

45a Diese Einstellung verallgemeinert sich jedoch jetzt, sie wird durch eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern und eine immerhin beachtliche durchschnittliche Mittelausstattung so wirksam aufoktroyiert, daß man schon von einer »Konsumpflicht« (H. Schelsky)* sprechen kann. Die große soziologische Analyse der Konsumentenkultur von D. Riesman* wählt dabei als Bezugssystem die ausgebildete Industriewirtschaft und Bevölkerungen von geringer Wachstumsrate, und insbesondere ist es nach den Untersuchungen Mackenroths nicht zweifelhaft, daß die unwiderstehliche Suggestion von Aufwandsstilen und Aufwandsnormen bis in den Bevölkerungsvorgang selbst, nämlich bis in die Geburtenkontrolle durchgreift.* Den Nachweis, daß die Verbraucherhaltung zu einer vorherrschenden Einstellung geworden ist, liefert Riesman siegreich bis in die Beziehungen der Geschlechter und bis in die Erscheinungen hinein, die Sport oder Politik heute bieten. (Fs)

45b Zum Verständnis der Verbraucherhaltung genügen jedoch die angegebenen Daten nicht ganz: weder eine zahlenmäßig stagnierende Industriegesellschaft noch das gehäufte Warenangebot oder das Sichvordrängen der suggestiven Aufwandsstile würden zureichende Erklärungsgründe sein, wenn nicht, wie Riesman in meisterhafter Intuition darlegt, die »Innensteuerung« des Verhaltens aufhörte.* Das heißt, es werden Menschen selten, die aus persönlichen, verinnerlichten Werthaltungen heraus »nach Prinzipien« handeln, die es gestatten, eine Gesamtorientierung über den zufälligen Wechsel der Situationen hinaus festzuhalten. Aber warum werden diese Menschen selten? Doch offenbar deswegen, weil die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen »Großwetterlagen« geistig unbegreiflich und moralisch unausfüllbar werden, und weil sie in zu schnellem Tempo wechseln. Man muß sich einmal in Ruhe überlegen, was es heißt, wenn selbst der ethische, spezifisch dauerbezogene Wert der Treue umetikettiert wird:

»In den Jahren 1936 bis 1945 bezeichnete das Wort >Loyalisten< in England, in Frankreich, in Skandinavien und in Amerika selbstverständlich die Republikaner aller Schattierungen einschließlich der Kommunisten, die gegen Franco kämpften. 1945 zogen die Regierungen der westlichen Welt auf Betreiben Washingtons ihre Botschafter aus Madrid zurück. Noch im Dezember 1947 bezeichnete >Time< die berühmte >fünfte Kolonne< des Franco-Generals Mola als eine der Kolonnen des Massenverrats. Aber im Jahre 1954, nachdem Bündnis- und Stützpunktverträge mit Franco abgeschlossen wurden, zählte zu den Vergehen, deren Robert Oppenheimer beschuldigt wurde, daß er 1937 bis 1939 so viele Dollars an links-spanische Hilfskomitees gezahlt hatte, und ein außenpolitisch genau orientierter Amerikaner bezeichnete mit dem Ausdruck >Spanish Loyalists< nun ganz selbstverständlich die Anhänger Francos.«*

46a In einer Welt, die so etwas bietet, ist der Glaube an orientierende und haltgebende Prinzipien in der Gefahr, auf jenes Minimum an Außenbestätigung verzichten zu müssen, ohne das er auf die Dauer nicht leben kann - es sei denn, er bezöge sich als religiöser Glaube in letzter Instanz auf außerempirische und daher erfahrungsmäßig auch nicht widerlegbare Inhalte. (Fs)

46b Aus den hier wiedergegebenen Prämissen heraus lassen sich nun Erscheinungen verstehen, die das zeitgenössische geistige und moralische Klima charakterisieren, aber doch im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen. Daß nämlich die moderne nachaufklärerische Kultur der Religion wieder mehr in die Hände arbeitet, als die vorindustrielle Epoche des 18. Jahrhunderts, das deuteten wir oben schon anläßlich einer Bemerkung über die abstrakte Kunst an.* Ist die These richtig, daß wir in ein Zeitalter der Nachaufklärung und damit der geistigen »Kristallisation« hineingehen, so würde sie zuerst an einem »Neodogmatismus« zu belegen sein, wofür ja einiges spricht. (Fs)

46c Andererseits würde man mit gleicher Wahrscheinlichkeit Versuche erwarten müssen, aus der Massenhaftigkeit des sozialen Beieinanderseins als solcher moralische Maßstäbe zu nehmen, also aus der bloßen Menschlichkeit Leitbilder zu entwickeln. Diese Leitbilder sollten stark gefühlsbetont und begrifflich unpräzise sein, um von dem unvorhersehbaren Wechsel der Umstände nicht gleich desavouiert zu werden, und auch um gegebenenfalls der Rolle einer übernationalen, überkonfessionellen Verkehrsmoral in der sehr klein gewordenen, nahe zusammengerückten Welt gewachsen zu sein. Diesen Forderungen entspricht in der Tat die Welle eines neuen Humanitarismus* mit ihren sehr zahlreichen Symptomen, die von der Bewegung der moralischen Aufrüstung bis zu weltweit verbreiteten »human-relations-Studien« reichen. Das dabei vorausgesetzte Ideal ist das einer spannungslosen, harmonischen Symbiose, die eigentlich grundlegende Kategorie ist die der »acceptance« - d. h. einen Menschen nehmen, wie er ist, mit allen seinen guten und schlechten Eigenschaften. Man kann das nicht tun, ohne auch die Kultur, aus der er stammt, mit allen ihren Eigenschaften zu akzeptieren, und insofern kann man in dem Begriff »acceptance« den Keimpunkt einer Weltethik sehen, welche den geistigen und moralischen Herrschaftsanspruch des Europäertums von vornherein ausklammert. (Fs)

47a Angesichts aller dieser zuletzt moralischen Probleme und Schwierigkeiten ist endlich noch das Umschwenken in die Passivität verständlich, die ja inhaltlich nur mit Konsum, mit physischer oder geistiger Reizzufuhr, dann also mit »Anregungen« und »Erlebnissen« ausgefüllt werden kann. Die zugeordnete Moral würde gleichfalls die Richtung auf Entspannung, Verharmlosung haben, sie würde rigorose und prinzipielle Alternativen ausschließen und wahrscheinlich durchaus mit der eben skizzierten »Weltethik« verträglich sein. Eine Untersuchung wie die vorliegende kann zeigen, wie die Technik und die Wirtschaftsformen, die Künste und Wissenschaften, die Moral und die Bewußtseinsgehalte einer Zeit gegenseitig aufeinander hinweisen, sie kann darüber hinaus fühlbar machen, daß alle diese Erscheinungen, wie aus einer gemeinsamen, einzigen Quelle herausströmend, demselben Element angehören: dem, aus welchem das 20. Jahrhundert gemacht ist. Versuchte man dagegen, hier nach Ursachen und Folgen zu trennen, so käme man sehr bald an die Grenzen sinnvoller Behauptungen. Die Betrachtungsart nach Ursachen und Folgen ist den Ereignissen ganz großer Dimensionen nicht angemessen. (Fs)

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