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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Primitivisierung; Ästhetisierung der Bildung

Kurzinhalt: Wieder eine andere Variante des Primitivismus gehört bisweilen geradezu zum Programm, zur ideologischen Eigenauslegung, nun aber im Sinne der formlosen, unterschiedslosen Menschlichkeit.

Textausschnitt: 35a Die bisher beschriebene Entsinnlichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen qualifiziert insbesondere diejenigen Produktionen, die aus Neuansätzen, Neukonzeptionen hervorgegangen sind und die insofern als »fortschrittlich« und »repräsentativ« gelten können, denn in der zeitgenössischen Kultur geht von dem jeweils Neuesten eine Normsuggestion aus. Anstrebenswerte Vorbilder sind die Neuerer, die Toreöffner und Entdecker, die Revolutionäre auf allen Kulturgebieten. Immerhin gilt das Gesetz der Phasenverschiebung im Tempo, nach dem die Kultur jeweils aus langsamer oder schneller sich weiterbewegenden Sektoren besteht, auch innerhalb eines einzelnen Sektors. Wenn im Ganzen der Kultur z. B. die Technik und die Naturwissenschaften die größte Veränderungsrate in der Zeiteinheit haben, während die Gesetzgebung sehr viel langsamer fortschreitet, die sozialen Wertungen und Prestigevorstellungen wiederum sich nur in sehr langen Fristen verändern, so beobachtet man dieselbe Erscheinung auch innerhalb eines einzelnen Gebietes. So können sich die geschichtlichen und philologischen Wissenschaften der Sache nach nicht so weitgehend vom Anschaulichen lösen, wie die Soziologie, Nationalökonomie und sogar die Psychologie, man verhält sich also dort traditionalistischer. Ähnlich liest nach wie vor der wohl bei weitem überwiegende Teil des Publikums Fontane, Rilke oder Hemingway lieber als James Joyce, Ezra Pound oder Benn, so wie es auch eine unerschütterliche Anhänglichkeit sehr vieler Menschen an die alten großen Meister der Musik gibt. (Fs)

35b Dieses Nebeneinander eines kulturellen Konservativismus mit einer praktischen Fortschrittlichkeit in denselben Kreisen, die keine technisch-industrielle Neuerung so leicht vernachlässigen, ist sehr bemerkenswert. Es bedeutet nämlich eine Ästhetisierung der Bildung, ihre Übersetzung ins Folgenlose und auch moralisch Unverbindliche - man verhält sich praktisch innerhalb eines völlig anderen Bezugssystems, als man es in seinen Bildungsinteressen tut. Die unendliche Mannigfaltigkeit der subjektiven Interessen, der individuellen Neigungen und persönlichen Varianten findet in den Bildungsmaterien der Wissenschaften und Künste ihre Chancen der Erlebnisanreicherung, wobei die »Reize« von einer geradezu staunenswerten Fülle und Differenziertheit sind - die entlegensten Kulturen werden zu diesem Zwecke exhumiert und ihre Reste in großen Wanderausstellungen herumgefahren. Völlig zusammenhanglos damit gehen dieselben Menschen ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen nach, und die hier zutage tretenden Einstellungen sind bedeutend weniger verfeinert, sondern im Gegenteil recht handgreiflich und leicht übersehbar. Im Vergleich zu heute war vor hundert Jahren das geistige Niveau der politischen Diskussion staunenswert hoch, und das war die Zeit, als dieselben Leute politisierten, die noch an die moralische Fruchtbarkeit der Wissenschaften und an die Möglichkeit eines einheitlichen, wissenschaftlich begründeten Weltbildes glaubten. Heute liegt das ganz anders. Die traditionelle Kultur im alten Sinne streift ihre Verbindlichkeit ab und nötigt zu einem Pseudo-Konservativismus, die »fortschrittliche« neue treibt in die Isolierung, wenn man sie ernst nimmt, und in Grenzfällen in die Sprachlosigkeit. Die gesellschaftliche Wirklichkeit geht abseits davon ihre eigenen Wege. (Fs)

36a Die kulturellen Massenmedien, das Kino und der Rundfunk, sind nun einer von vielen Seiten kritisierten Primitivisierung gefolgt, die aber aus finanziellen Gründen kaum vermeidbar ist. Denn diese Industrie muß Umsätze machen und wirklich in Breite ankommen, die investierten Kapitalien sind z. T. enorm und vertragen keine Risiken. Ein künstlerisch beachtlicher, sensibler und kluger Film könnte durchaus einmal ein Erfolg werden, aber das Experiment ist zu riskant, während das gebildete Nachtprogramm des Rundfunks sich noch eher mitziehen läßt, als ein geistvoller Film, der durchfällt. Die hier gemeinte Primitivität besteht eigentlich in dem niederen Durchschnitt des Anspruchs an sich selbst und an die Situationen, die man aufsucht, doch gibt es auch die sehr andersartige »zweite Primitivität« der Kultivierten, nämlich die Neigung zu überstarker Dosierung und zu krassen Erregungen. Der Einfluß der Neger- und Papua-Plastiken auf die Malerei, schon vor dem Ersten Weltkrieg, ist notorisch, und insbesondere der frühe Expressionismus wollte durchschlagende und schockierende Effekte. Kontrastreich stehen Klees hypersensible, hauchzarte Träume neben Kirchners schreienden Farbenschocks. Übrigens schließt dieser Neo-Primitivismus ebenso wie die Entsinnlichung und Abstraktheit die Kunst von der Popularität aus.* (Fs)

37a Wieder eine andere Variante des Primitivismus gehört bisweilen geradezu zum Programm, zur ideologischen Eigenauslegung, nun aber im Sinne der formlosen, unterschiedslosen Menschlichkeit. Ein entschiedener Vertreter der neuen Architektur wie S. Giedion sagt z.B.: »Es scheint als ob eine neue Kulturphase sich zu bilden beginnt, in der der Mensch als solcher, der nackte, hüllenlose Mensch, der Mensch, weder begrenzt durch eine bestimmte soziologische Schicht, Religion oder Rasse, direkte Ausdrucksmittel in Formen und Symbolen niederlegt, die Widerhall seines inneren Empfindens sind, die ihn seelisch berühren.«* Das ist dann wohl der von der Versiegelung und Unzugänglichkeit der Kultur im Stiche gelassene Mensch, der hier als geschichtlich ungeformter beschrieben wird, mit anderen Worten: gemeint sind die Großstadtmassen, die gern von der Architektur als ideologische Partner in Anspruch genommen werden. (Fs)

37b Die oben erwähnte vorsätzliche Primitivisierung kann man auch an der Plastik beobachten. Dort stehen neben abstrakten Plastiken von oft entschiedener Schönheit oder neben den bizarren »Mobiles« von Calder*, die Sartre* kommentierte, die brutalen Vereinfachungen von Moore oder Brancusi. Sie erinnern in dem Klobigen und in der Häßlichkeit durchaus an Bildwerke aus der Zeit Konstantins des Großen, nur fehlt die antike Härte und Wucht darin, sie sind aufgedunsener. Jacob Burckhardt wollte jene Erscheinung aus einer »Ausartung der Rasse« erklären, aus dem Auftreten von Menschen »mit wahrhaft abschreckenden Zügen«, gibt aber wenige Seiten später selbst zu, daß man »die tiefste Ursache dieser Erscheinung wohl nie ergründen oder in Worte fassen könne«.* Nach den heutigen Parallelen erscheint es eher als wahrscheinlich, daß es sich damals schon um eine bewußte, eine tendenziöse Primitivisierung handelte, um einen elaborierten Stil, der sich zur Deckung mit einer Zeittendenz bringen wollte, wie heute. (Fs)

37c Unter dem Stichwort Primitivisierung ist schließlich noch eine auffallende Erscheinung des modernen Kulturlebens zu beschreiben, nämlich der Verfall der subtilen Denkkultur im sprachlichen Bereich (nicht im mathematischen). Für andeutungsreiche, beziehungsvolle Denkfiguren, für den Ausdrucksreichtum des Nichtgesagten, für stilistische Feinheiten, für trennscharfe begriffliche Distinktionen mit ihren Obertönen fehlt es heute in sehr weiten Kreisen an Organen, alles muß eingängig, einprägsam und gestanzt geboten werden. Es ist sehr schwer vorstellbar, daß die Schriften Kants einmal in gebildeten Kreisen wirklich gelesen wurden, und besonders die Hochschullehrer der Geisteswissenschaften klagen nicht selten über die Unansprech-barkeit so vieler Studierender für Gedankenreihen, sobald sie einen sehr niedrigen Schwierigkeitsgrad übersteigen. Auch hier sollte man nicht sich zu schnell mit naheliegenden soziologischen Erklärungen beruhigen, vielleicht gilt jetzt ebenfalls das Wort Burckhardts, daß man die tiefste Ursache dieser Erscheinung wohl nie ergründen oder in Worte fassen könne. Wir würden sie in einer schon angedeuteten Richtung suchen: das Zeitalter der Aufklärung ist zu Ende und mit ihm das des Glaubens an die Notwendigkeit von immer mehr und immer schärferer abstrakter Begrifflichkeit. Damit steht der Selbstwert, das Selbstgeltungspathos der Wissenschaft in Gefahr - nicht, daß dieser Selbstwert offen bestritten würde: das ist nicht der Weg, auf dem die Dinge sich entwickeln. Sondern der Trieb nach Einfachheit, Bildhaftigkeit des Wißbaren, der damit zusammenhängende nach Anwendung und Praxis, das sind die Impulse, welche die stolze Selbstgenügsamkeit der begrifflichen Meisterschaft sozusagen unterlaufen und hinter sich lassen. (Fs)

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