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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisungen; Resumee; Friedrich Nietzsche (Moral des Christentums);

Kurzinhalt: Dem weiten Blick Jesu wird eine saftige Diesseitigkeit entgegengestellt - der Wille, die Welt und die Angebote des Lebens jetzt auszuschöpfen, den Himmel hier zu suchen und sich dabei von keinen Skrupeln hemmen zu lassen.

Textausschnitt: 127a Nach diesem Versuch, etwas tiefer in die innere Vision der Seligpreisungen einzudringen - das hier nicht angesprochene Thema der "Barmherzigen" wird im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter behandelt werden -, müssen wir uns kurz noch zwei Fragen stellen, die zum Verständnis des Ganzen gehören. Bei Lukas folgen auf die vier Seligpreisungen, die er überliefert, vier Wehe-Rufe: Weh euch, die ihr reich seid ... Weh euch, die ihr jetzt satt seid ... Weh euch, die ihr jetzt lacht ... Weh euch, wenn euch alle Menschen loben ... (Lk 6,24-26). Diese Worte erschrecken uns. Was sollen wir davon halten?

127b Nun, zunächst kann man feststellen, dass Jesus damit dem Schema folgt, das wir auch in Jer 17 und Psalm 1 finden: Der Schilderung des rechten Weges, der den Menschen ins Heil führt, wird die Warntafel gegenübergestellt, die falsche Verheißungen und Angebote demaskiert und den Menschen davon abhalten soll, sich auf einen Pfad zu begeben, der in einem tödlichen Absturz enden müsste. Dasselbe werden wir wieder in dem Gleichnis vom reichen Prasser und dem armen Lazarus finden. (Fs)

127c Wer die Wegweiser der Hoffnung recht verstanden hat, die uns in den Seligpreisungen begegnet sind, erkennt hier einfach die gegenteiligen Haltungen, die den Menschen ins Scheinbare, ins Vorläufige, in den Verlust seiner Höhe und Tiefe und so in den Verlust Gottes und der Nächsten hinein fixieren und damit verderben. So aber wird auch die eigentliche Absicht dieser Warntafel verständlich: Die Weherufe sind keine Verdammungen; sie sind kein Ausdruck von Hass oder Neid oder Feindseligkeit. Es geht nicht um Verurteilung, sondern um Warnung, die retten will. (Fs)

128a Aber nun steht die Grundfrage auf: Stimmt denn die Richtung, die der Herr uns in den Seligpreisungen und in den entgegengesetzten Warnungen zeigt? Ist es denn wirklich schlimm, reich zu sein - satt zu sein - zu lachen - gelobt zu werden? Friedrich Nietzsche hat seine zornige Kritik des Christentums gerade an diesem Punkt angesetzt. Nicht die christliche Lehre sei es, was man kritisieren müsse: Die Moral des Christentums müsse man als "Kapitalverbrechen am Leben" bloßstellen. Und mit "Moral des Christentums" meint er genau die Richtung, in die uns die Bergpredigt weist. "Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach 'Wehe denen, die hier lachen!'?" Und den Verheißungen Christi entgegen sagt er: Wir wollen gar nicht das Himmelreich. "Männer sind wir worden - so wollen wir das Erdenreich."

128b Die Vision der Bergpredigt erscheint als eine Religion des Ressentiments, als der Neid der Feigen und Untüchtigen, die dem Leben nicht gewachsen sind und sich dann mit der Seligpreisung ihres Versagens und der Beschimpfung der Starken, der Erfolgreichen, der Glücklichen rächen wollen. Dem weiten Blick Jesu wird eine saftige Diesseitigkeit entgegengestellt - der Wille, die Welt und die Angebote des Lebens jetzt auszuschöpfen, den Himmel hier zu suchen und sich dabei von keinen Skrupeln hemmen zu lassen. (Fs)

128c Vieles von alledem ist ins moderne Bewusstsein eingegangen und bestimmt weithin das Lebensgefühl von heute. So stellt die Bergpredigt die Frage nach der christlichen Grundoption, und als Kinder dieser Zeit spüren wir den inneren Widerstand gegen diese Option - auch wenn die Preisung der Milden, der Erbarmenden, der Friedensstifter, der lauteren Menschen uns dennoch anrührt. Nach den Erfahrungen der totalitären Regime, nach der brutalen Art, mit der sie Menschen zertreten, die Schwachen verhöhnt, geknechtet, geschlagen haben, verstehen wir auch wieder die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden; entdecken wir die Seele der Trauernden und ihr Recht auf Tröstung wieder. Angesichts des Missbrauchs ökonomischer Macht, angesichts der Grausamkeiten eines Kapitalismus, der den Menschen zur Ware degradiert, sind uns auch die Gefährdungen des Reichtums aufgegangen und verstehen wir wieder neu, was Jesus mit der Warnung vor dem Reichtum, vor der den Menschen zerstörenden Gottheit Mammon meinte, die große Teile der Welt in ihrem grausamen Würgegriff hält. Ja, die Seligpreisungen stehen unserem spontanen Daseinsgefühl, unserem Hunger und Durst nach Leben entgegen. Sie verlangen "Bekehrung" - eine innere Umkehr von der spontanen Richtung, in die wir gehen möchten. Aber in dieser Umkehr kommt das Reine und Höhere zum Vorschein, ordnet sich unser Dasein recht. (Fs)

129a Die griechische Welt, deren Lebensfreude in den homerischen Epen so wundervoll erscheint, hat doch tief darum gewusst, dass die eigentliche Sünde des Menschen, seine tiefste Gefährdung, die Hybris ist - die anmaßende Selbstherrlichkeit, in der der Mensch sich zur Gottheit erhebt, selbst sein eigener Gott sein will, um das Leben ganz und gar zu besitzen und auszuschöpfen, was es nur immer zu bieten hat. Dieses Bewusstsein, dass die wahre Bedrohung des Menschen in der auftrumpfenden Selbstherrlichkeit liegt, die zunächst so einleuchtend erscheint, ist in der Bergpredigt von der Gestalt Christi her zu seiner ganzen Tiefe geführt. (Fs)

130a Wir haben gesehen, dass die Bergpredigt eine verborgene Christologie ist. Hinter ihr steht die Gestalt Christi, des Menschen, der Gott ist, aber gerade darum absteigt, sich entäußert, bis zum Tod am Kreuz. Die Heiligen haben von Paulus über Franz von Assisi bis zu Mutter Teresa diese Option gelebt und uns damit das rechte Bild des Menschen und seines Glücks gezeigt. Mit einem Wort: die wahre "Moral" des Christentums ist die Liebe. Und die steht freilich der Selbstsucht entgegen - sie ist Auszug aus sich selber, aber gerade auf diese Weise kommt der Mensch zu sich selber. Dem versucherischen Glanz von Nietzsches Menschenbild entgegen erscheint dieser Weg zunächst als armselig, geradezu unzumutbar. Aber er ist der wirkliche Höhenweg des Lebens; nur auf dem Weg der Liebe, deren Pfade in der Bergpredigt beschrieben sind, erschließt sich der Reichtum des Lebens, die Größe der menschlichen Berufung. (Fs)

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