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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: 3. Versuchung Jesu; Berg, Golgotha; Jesus Barabbas; Petrus

Kurzinhalt: Aber was hat Jesus dann eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Was hat er gebracht. ... Die Antwort lautet ganz einfach: Gott.

Textausschnitt: 67a Kommen wir zur dritten und letzten Versuchung, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte. Der Teufel führt den Herrn visionär auf einen hohen Berg. Er zeigt ihm alle Königreiche der Erde und deren Glanz und bietet ihm das Weltkönigtum an. Ist das nicht genau die Sendung des Messias? Soll er nicht der Weltkönig sein, der die ganze Erde in einem großen Reich des Friedens und des Wohlstands vereinigt? Wie es zur Brotversuchung zwei merkwürdige Gegenstücke in der Geschichte Jesu gibt, die Brotvermehrung und das Letzte Abendmahl, so ist es auch hier. (Fs)

67b Der auferstandene Herr versammelt die Seinen "auf dem Berg" (Mt 28,16). Und nun sagt er tatsächlich: "Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden" (28,18). Zweierlei ist hier neu und anders: Der Herr hat Macht im Himmel und auf Erden. Und nur wer diese ganze Macht hat, hat die wirkliche, die rettende Macht. Ohne den Himmel bleibt irdische Macht immer zweideutig und brüchig. Nur Macht, die sich unter das Maß und unter das Gericht des Himmels, das heißt Gottes stellt, kann Macht zum Guten werden. Und nur Macht, die unter dem Segen Gottes steht, kann verlässlich sein. (Fs)

68a Dazu kommt das andere: Jesus hat diese Macht als Auferstandener. Das heißt: Diese Macht setzt das Kreuz voraus, setzt seinen Tod voraus. Sie setzt den anderen Berg voraus - Golgotha, wo er, von den Menschen verspottet und von den Seinigen verlassen, am Kreuz hängt und stirbt. Das Reich Christi ist anders als die Königreiche der Erde und ihr Glanz, den Satan vorführt. Dieser Glanz ist, wie das griechische Wort doxa besagt, Schein, der sich auflöst. Solchen Glanz hat Christi Reich nicht. Es wächst durch die Demut der Verkündigung in denen, die sich zu seinen Jüngern machen lassen, die getauft werden auf den dreifaltigen Gott und die seine Gebote halten (Mt 28,19t). (Fs)

68b Aber kehren wir zurück zur Versuchung. Ihr wahrer Gehalt wird sichtbar, wenn wir sehen, wie sie die Geschichte hindurch immer neue Gestalt annimmt. Das christliche Kaisertum versuchte alsbald, den Glauben zum politischen Faktor der Reichseinheit zu machen. Das Reich Christi soll nun doch die Gestalt eines politischen Reiches und seines Glanzes erhalten. Der Ohnmacht des Glaubens, der irdischen Ohnmacht Jesu Christi soll durch politische und militärische Macht aufgeholfen werden. In allen Jahrhunderten ist in vielfältigen Formen diese Versuchung immer neu aufgestanden, den Glauben durch Macht sicherzustellen, und immer wieder drohte er gerade in den Umarmungen der Macht erstickt zu werden. Der Kampf um die Freiheit der Kirche, der Kampf darum, dass Jesu Reich mit keinem politischen Gebilde identisch sein kann, muss alle Jahrhunderte geführt werden. Denn der Preis für die Verschmelzung von Glauben und politischer Macht besteht zuletzt immer darin, dass der Glaube in den Dienst der Macht tritt und sich ihren Maßstäben beugen muss. (Fs)

69a In der Passionsgeschichte des Herrn erscheint die Alternative, um die es hier geht, in erregender Gestalt. Auf dem Höhepunkt des Prozesses stellt Pilatus Jesus und Barabbas zur Wahl. Einer von beiden wird freigegeben werden. Wer aber war Barabbas? Wir haben gewöhnlich nur die Formulierung des Johannes-Evangeliums im Ohr: "Barabbas aber war ein Räuber" (18,40). Aber das griechische Wort für Räuber konnte in der politischen Situation von damals in Palästina eine spezifische Bedeutung bekommen. Es besagte dann so viel wie "Widerstandskämpfer". Barabbas hatte an einem Aufstand teilgenommen (Mk 15,7) und war darüber hinaus - in diesem Zusammenhang - des Mordes angeklagt (Lk 23,19.25). Wenn Matthäus sagt, Barabbas sei ein "berühmter Gefangener" gewesen, so zeigt dies, dass er einer der herausragenden Widerstandskämpfer, wohl der eigentliche Anführer jenes Aufstands gewesen ist (27,16). (Fs)

69b Mit anderen Worten: Barabbas war eine messianische Figur. Die Wahl Jesus - Barabbas ist nicht zufällig; zwei messianische Gestalten, zwei Formen des Messianismus stehen sich gegenüber. Das wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, dass Bar-Abbas "Sohn des Vaters" heißt. Es ist eine typisch messianische Benennung, der Kultname eines herausragenden Anführers der messianischen Bewegung. Der letzte große messianische Krieg der Juden im Jahr 132 wurde von Bar-Kochba - "Sternensohn" - geführt. Das ist dieselbe Namensbildung; dieselbe Absicht wird dargestellt. (Fs)

70a Von Origenes erfahren wir noch ein weiteres interessantes Detail: In vielen Handschriften der Evangelien bis ins 3. Jahrhundert hieß der Mann, um den es geht, "Jesus Barabbas" - Jesus Sohn des Vaters. Er stellt sich als eine Art Doppelgänger zu Jesus dar, der freilich den gleichen Anspruch auf eine ganz andere Weise auffasst. Die Wahl steht also zwischen einem Messias, der den Kampf anführt, der Freiheit und das eigene Reich verspricht, und diesem geheimnisvollen Jesus, der das Sich-Verlieren als Weg zum Leben verkündet. Ist es ein Wunder, dass die Massen Barabbas den Vorzug gaben? (Ausführlicher dazu Vittorio Messori in seinem wichtigen Buch Gelitten unter Pontius Pilatus?, deutsche Ausgabe: Adamas, Köln 1997, S. 64-76.)

70b Wenn wir heute zu wählen hätten, hätte da Jesus aus Nazareth, der Sohn Marias, der Sohn des Vaters eine Chance? Kennen wir Jesus überhaupt? Verstehen wir ihn? Müssen wir ihn gestern wie heute nicht ganz neu kennenzulernen uns mühen? Der Versucher ist nicht grob genug, uns direkt die Anbetung des Teufels vorzuschlagen. Er schlägt uns nur vor, uns für das Vernünftige zu entscheiden, für den Vorrang einer geplanten und durchorganisierten Welt, in der Gott als Privatangelegenheit seinen Platz haben mag, aber in unsere wesentlichen Absichten uns nicht dreinreden darf. Solowjew schreibt dem Antichristen ein Buch zu, Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt, das sozusagen die neue Bibel wird und die Anbetung des Wohlstands und der vernünftigen Planung zum eigentlichen Inhalt hat. (Fs)

71a Die dritte Versuchung Jesu erweist sich so als die grundlegende - die Frage danach, was ein Heiland der Welt tun muss. Sie durchzieht das ganze Leben Jesu. Sie tritt an einer entscheidenden Wende seines Weges noch einmal offen hervor. Petrus hatte im Namen der Jünger das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias-Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, gesprochen und damit jenen Glauben formuliert, der die Kirche aufbaut und die neue, auf Christus gegründete Gemeinschaft des Glaubens eröffnet. Aber gerade an dieser entscheidenden Stelle, an der gegenüber der "Meinung der Leute" die scheidende und ent-scheidende Erkenntnis Jesu hervortritt und so sich seine neue Familie zu bilden anfängt, steht der Versucher da - die Gefahr, alles ins Gegenteil zu verkehren. Der Herr erklärt sofort, dass der Begriff des Messias von der Ganzheit der prophetischen Botschaft aus zu verstehen ist, dass er nicht weltliche Macht meint, sondern Kreuz und die durch das Kreuz hindurch entstehende ganz andere Gemeinschaft. (Fs) (notabene)

71b So hatte aber Petrus es nicht verstanden: "Da nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe; er sagte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen!" Wenn wir diese Worte auf dem Hintergrund der Versuchungsgeschichte lesen - als ihre Wiederkehr im entscheidenden Augenblick -, dann erst verstehen wir die unglaublich harte Antwort Jesu: "Weg mit dir, Satan! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,22f). Aber sagen wir nicht alle immer wieder zu Jesus, dass seine Botschaft zum Widerspruch mit den herrschenden Meinungen führt und so der Misserfolg, das Leiden, die Verfolgung droht? Das christliche Kaisertum oder die weltliche Papstmacht sind heute keine Versuchungen mehr; aber Christentum als Rezept für den Fortschritt zu deuten und allgemeinen Wohlstand als das eigentliche Ziel aller Religion und so auch der christlichen anzuerkennen, das ist die neue Gestalt derselben Versuchung. Sie kleidet sich heute in die Frage: Was hat denn Jesus gebracht, wenn er nicht die bessere Welt heraufgeführt hat? Muss das nicht der Inhalt messianischer Hoffnung sein. (Fs)

72a Im Alten Testament gehen zwei Hoffnungslinien noch ungeschieden ineinander über: die Erwartung der heilen Welt, in der der Wolf beim Lamm liegt (Jes 11,6), in der die Völker der Welt sich auf den Weg zum Berg Zion machen und in der gilt: "Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Messern und Winzermesser aus ihren Lanzen" (Jes 2,2-4; Mi 4,1-3). Daneben aber steht die Aussicht auf den leidenden Gottesknecht, einen Messias, der durch Verachtung und Leiden hindurch rettet. Während seines ganzen Weges und von Neuem in den nachösterlichen Gesprächen musste Jesus seinen Jüngern zeigen, dass Mose und die Propheten von ihm, dem äußerlich Machtlosen, dem Leidenden, dem Gekreuzigten, dem Auferstandenen redeten; er musste zeigen, dass gerade so die Verheißungen sich erfüllen. "O ihr Unverständigen, wie schwer fällt es euch mit eurem schwerfälligen Herzen, all das zu glauben, was die Propheten sagten" - so redet der Herr die Emmausjünger an (Lk 24,25), und so muss er auch zu uns immer wieder sagen alle Jahrhunderte hindurch, denn immer wieder meinen wir, er hätte das Goldene Zeitalter bringen müssen, wenn er der Messias sein wollte. (Fs)

73a Aber Jesus sagt auch zu uns, was er dem Satan entgegengehalten hat und was er zu Petrus gesagt und was er den Jüngern von Emmaus von Neuem erläutert hat: dass kein Reich dieser Welt das Reich Gottes ist, der Heilszustand der Menschheit schlechthin. Menschenreich bleibt Menschenreich, und wer behauptet, er könne die heile Welt errichten, der stimmt dem Betrug Satans zu, der spielt ihm die Welt in die Hände. (Fs)

73b Da steht nun freilich die große Frage auf, die uns durch dieses ganze Buch hindurch begleiten wird: Aber was hat Jesus dann eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Was hat er gebracht. (Fs) (notabene)

73c Die Antwort lautet ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht. Er hat den Gott, dessen Antlitz zuvor sich von Abraham über Mose und die Propheten bis zur Weisheitsliteratur langsam enthüllt hatte - den Gott, der nur in Israel sein Gesicht gezeigt hatte und der unter vielfältigen Verschattungen freilich in der Völkerwelt geehrt worden war -, diesen Gott, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den wahren Gott, hat er zu den Völkern der Erde gebracht. (Fs) (notabene)

73d Er hat Gott gebracht: Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen. Nun kennen wir den Weg, den wir als Menschen in dieser Welt zu nehmen haben. Jesus hat Gott gebracht und damit die Wahrheit über unser Wohin und Woher; den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. Nur unserer Herzenshärte wegen meinen wir, das sei wenig. Ja, Gottes Macht ist leise in dieser Welt, aber es ist die wahre, die bleibende Macht. Immer wieder scheint die Sache Gottes wie im Todeskampf zu liegen. Aber immer wieder erweist sie sich als das eigentlich Beständige und Rettende. Die Reiche der Welt, die Satan damals dem Herrn zeigen konnte, sind inzwischen alle versunken. Ihre Herrlichkeit, ihre "Doxa", hat sich als Schein erwiesen. Aber die Herrlichkeit Christi, die demütige und leidensbereite Herrlichkeit seiner Liebe, ist nicht untergegangen und geht nicht unter. (Fs)

74a Im Kampf gegen Satan hat Jesus gesiegt: Der verlogenen Vergöttlichung der Macht und des Wohlstands, der verlogenen Verheißung einer durch Macht und Wirtschaft allen alles gewährenden Zukunft hat er das Gottsein Gottes entgegengestellt - Gott als das wahre Gut des Menschen. Der Einladung, die Macht anzubeten, setzt der Herr ein Wort aus dem Deuteronomium entgegen - demselben Buch, das auch der Teufel zitiert hatte: "Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen" (Mt 4,10; Dtn 6,13). Das Grundgebot Israels ist auch das Grundgebot für die Christen: Gott allein ist anzubeten. Wir werden bei der Betrachtung der Bergpredigt sehen, dass gerade dieses unbedingte Ja zur ersten Tafel des Dekalogs auch das Ja zur zweiten Tafel - die Ehrfurcht vor dem Menschen, die Liebe zum Nächsten - mit einschließt. Wie bei Markus, so schließt auch bei Matthäus die Versuchungsgeschichte mit der Aussage: "Engel kamen und dienten ihm" (Mt 4,11; Mk 1,13). Nun erfüllt sich Psalm 91,11: Die Engel dienen ihm; er hat sich als der Sohn erwiesen, und deswegen steht über ihm, dem neuen Jakob, dem Stammvater eines universal gewordenen Israel, der Himmel offen (Joh 1,51; Gen 28,12). (Fs)

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