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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Moderne Lyrik; Rilke: Unfähigkeit zur Liebe u. Transzendenz

Kurzinhalt: ... diese Zeilen aus den "Elegien" bezeichnen nicht die Unfähigkeit zur "Transzendenz", sondern die trotz aller "Zuwendung" geradezu bestürzende Unfähigkeit zur Welt,

Textausschnitt: 431a Es ist offenkundig nicht leicht, nach dem Zweiten Weltkrieg den Gedichten Rainer Maria Rilkes (1875-1926) gerecht zu werden, nicht den frühen, deren Schwächen offenkundig genug sind, sondern den "Duineser Elegien" und den "Sonetten an Orpheus", die nach mehr als zehnjähriger "Unproduktivität" des Dichters 1923 erschienen sind (die "Elegien" wurden 1912 auf Schloß Duino begonnen). Die "Lebenskrisen" (A. Rimbaud, H. von Hofmannsthal, P. Valéry), die ins übernommene Schweigen oder ins Verstummen führen, sind nicht bloß biographische Unfälle, sondern gründen jenseits aller individuellen Schicksale in dem, was an der Zeit ist. Das Feminine in Rilkes Natur liegt zutage; aber um was es geht, ist nicht etwa der Mangel des Maskulinen, sondern die innere Unfähigkeit zur Liebe, sosehr die "Liebenden" dichterisch gepriesen werden. Daß Gott "nur eine Richtung der Liebe, kein Liebesgegenstand" sein kann, sagen viele; für Rilke bezeichnend aber ist die Zufügung, daß von Gott "keine Gegenliebe zu fürchten" sei. "Und wir: Zuschauer, immer, überall, / Dem allen zugewandt und nie hinaus!" - diese Zeilen aus den "Elegien" bezeichnen nicht die Unfähigkeit zur "Transzendenz", sondern die trotz aller "Zuwendung" geradezu bestürzende Unfähigkeit zur Welt, zur Welt des Menschen zumal (die "Elegien" könnten ebensogut vor dem Weltkrieg geschrieben sein, nichts ist passiert), aber auch die Unfähigkeit zur Welt der Dinge. Den Verlust der Dinge teilt Rilke mit den anderen; aber man meint, diesen Verlust seiner Ich-Verschlossenheit anlasten zu müssen, nicht der offenen Erfahrung, daß sich die Dinge entziehen. Aber so artistisch auch die Sprache Rilkes vom Anfang bis zum Ende bleibt (immer hat er sich "in das dünne Sprachgehäuse seiner Jugend zurückgezogen, wenn er vor lebendiger Sprache erschrak"; W. Vernetz), eine "Sprachmagie" gibt es bei ihm nicht, der sich selbst unter den "Enterbten" in der "dumpfen Umkehr der Welt" befindet, "denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört", und der "die Bewahrung der noch erkannten Gestalt" dem Interimsdasein als Aufgabe zuschreibt. Rilke hat im Schrecken vor dem "Erzengel", dem "Gefährlichen", keine Magie geübt. Freilich, die Götter Hölderlins sind weit, und man wird auch beim Rilke der "Elegien" nie den Verdacht los, es mangele an einer letzten Aufrichtigkeit (die moderne Lyrik ist durchaus eine Sache der Moral). (Fs)

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