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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Moderne Lyrik (Bauelaire, Rimbaud); Goethe (Einheit: Welt - Wort); Hugo Friedrich: Exodus der Wirklichkeit (L'art pour l'art)

Kurzinhalt: In dieser Lyrik ist "die Wirklichkeit aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgeholt und den Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind: ...

Textausschnitt: 426a "Das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen" - dies ist eine der Maximen und Reflexionen J. W. von Goethes. Man muß die ganze Reihe der aufgezählten Weisen, in denen der Mensch die Welt erfahren kann, präzis durchdenken, um zu begreifen, was da mit dem erfaßten Wort "unmittelbar zusammentreffen" soll. Es wird hier ein Bekenntnis abgelegt zur Einheit von Welt und Wort, die im Ich des Menschen geschieht, weil er schaut, erfährt, denkt und vorstellt. Das Bekenntnis gründet im Vertrauen auf die prästabilierte Harmonie in der Trias Welt-Wort-Ich, die das Vorausgesetzte dafür ist, daß sie in geistiger Aktivität zutage kommt. Goethe ist "vorgedrungen bis in die Sphäre, wo die ganze Wahrheit der Sprache erst im Vieldeutigen, Unergründlichen, im Geheimnis sich erschöpft, wo die Sprache so tief ist wie die Welt und jedes Wort mit dem Ganzen der Welt verbunden..." (W. Schadewaldt, 1932). Die Wahrheit der Sprache ist zu leisten, sie ist dem alltäglichen Verfall der Sprache abzuringen und aus der vorrevolutionären Nomenklatur herauszuholen. Was aber noch immer nicht erst hervorzubringen ist, das ist "das Ganze der Welt". Es ist gewiß kritisch zu untersuchen, ob "der antike Geist auf antiken Geist in Goethe stieß", ob Goethe wirklich "sein ganzes Leben im deutschen Wortlaut 'griechisch' gesprochen" hat, wie der Gräzist meint. Aber so bedeutsam es auch ist, das klassizistische Mißverständnis aufzudecken, wichtiger ist das Bewußtsein Goethes, in der Tiefe - trotz aller Worte gegen den historischen Ballast, den Napoleon und Amerika abgeworfen haben - doch der geschichtlichen Kontinuität verbunden zu sein. Was dieses Bewußtsein bedeutet, ist rund 50 Jahre nach seinem Tod zu ermitteln, als dieses Bewußtsein verbraucht war. Auch Goethes Suche nach dem idealen Bauplan der Pflanzenwelt, nach der "Urpflanze", ist - von rückwärts her betrachtet - deshalb zu bedenken, weil die "Urpflanze" Goethes nicht der "entlegene, schöpfungsursprüngliche Punkt" ist, sondern eine vielleicht auffindbare konkrete Realität. (Fs)

427a Die modernen Lyriker seit Baudelaire sind nicht mehr jene romantischen "Neueren", die sich ins Unendliche warfen, um im Glücksfall auf einen beschränkten Punkt zurückzukehren, und gegen die Goethe einen abgründigen Verdacht hegte, gegen die er die "Alten" aufbot, die "ohne weiteren Umweg sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt fühlten" (auch hier kann es auf sich beruhen bleiben, wie behaglich und für wen es die antike Polis war). Freilich hat die moderne Lyrik des späten 19. Jahrhunderts ihre Vorgeschichte, die bis auf Rousseaus Phantasierung der vorhandenen Wirklichkeit zurückreicht, ein Prozeß, der sich in der Romantik intensiviert, in des Novalis Auffassung von der Welt als einer Ansammlung von Materialien, aus denen erst die Poesie die wirkliche Welt macht. Aber immer noch ist diese romantische Lyrik Ich-Dichtung, Ausdruck einer individuellen Gestimmtheit, deren Dunkel freilich das Ich versinken zu lassen beginnt. Und auch für die Passivität gegenüber der Sprache, die selbst die Wahrheit spricht - Niederschlag auch der philosophierenden Sprachforschung des 18. und mehr noch des frühen 19. Jahrhunderts -, ist der Bezug auf den göttlichen Logos als die Ursprache eine Barriere gegen die Sprachmagie, eine Barriere freilich, die in der Erfahrung, "daß Gott tot ist", wenig und nicht lange Halt bietet. Vollends hat jene Absonderung der poetischen Sprache von der gesellschaftlichen Sprache, die in ihrer Radikalität kategorial anderer Art ist als die dichterische Unterscheidung zu jeder Zeit, eine Isolierung der Lyrik bewirkt, die nicht nur bedeutsam ist für die Stellung der Dichtung in der Gesellschaft, sondern für die Dichtung selbst. Die dichterische Wirklichkeit ist eine in toto von der industriegesellschaftlichen geschiedene Wirklichkeit (vgl. dazu unten). (Fs)

427a Hugo Friedrich hat die "Struktur der modernen Lyrik" in einer sowohl formalen wie inhaltlichen Analyse bloßgelegt, den nicht nur aus historischen Gründen berechtigten Akzent auf die französischen Dichter Charles Baudelaire "(1821-1867), Arthur Rimbaud (1854-1891), Stéphane Mallarmé (1842-1898) und Paul Valéry (1871-1945) gesetzt und in einer verstehenden Distanz den Sachverhalt deutlicher gemacht, als es der nur hinnehmenden Anempfindung möglich ist. In dieser Lyrik ist "die Wirklichkeit aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgeholt und den Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind: zwischen schön und häßlich, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Licht und Schatten, zwischen Freude und Schmerz, zwischen Erde und Himmel". Es ist in einem Versuch, die Geschichte des Selbst- und Weltverständnisses seit der Revolution zu skizzieren, nachdrücklich zu bedenken, wie es zu dieser Emanzipation von den Notwendigkeiten der normalen Weltorientierung kommt, was da geschehen ist in der zeitgenössischen Normalität, welche Momente in ihr die dichterische Deutung hinaustreiben und was in der Dichtung geschieht, wenn sie diesen Exodus antritt. Kaum irgendwo hat das mißverstandene "L'Art pour l'Art"-Prinzip zu so oberflächlichen Meinungen geführt wie angesichts der modernen Lyrik; dieses Prinzip wurde vom "gesunden Menschenverstand" entwendet, der natürlich mit Recht argumentieren konnte, dies alles sei für ihn unverständlich, der sich aber zu Unrecht damit beruhigte, dies sei nun eben die Geheimsprache der modernen Dichter, ohne danach zu fragen, was denn die der normalen Weltorientierung und der aus ihr ausgebrochenen poetischen Weltdeutung gemeinsamen Momente dieser alarmierenden gegenseitigen Entfremdung sind. Daß eine Abstimmung eine dikatorische Mehrheit für den gesunden Menschenverstand ergebe, rechtfertigt dann auch noch die Theorie vom "Sozialistischen Realismus". (Fs) (notabene)

428a Kann man sagen, die "kommunikative Wohnlichkeit", die noch in der romantischen Innerlichkeit aufzufinden war, weil es eine Gemeinsamkeit des Gemütes gab, sei in der modernen Lyrik "vermieden" worden? Es muß wohl etwas geschehen sein, wenn einer in diese Wohnlichkeit gar nicht mehr einkehren kann, nicht irgendein Anormaler (die psychiatrische Interpretation ist auch eine Ausflucht). Gewiß, es sind "Randexistenzen" - aber warum existieren sie, die nicht von modischen Literatencliquen gemacht wurden (dies ist dann das Glück der Epigonen), sondern die dennoch die legitimen Sprecher sind, am Rande? (Fs) (notabene)

428b Das moderne Gedicht "sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom 'Erlebnis', vom Sentiment, ja vielfach sogar vom persönlichen Ich des Dichters. Dieser ist an seinem Gebilde nicht als private Person beteiligt, sondern als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt" (H. Friedrich). Die Problematik spitzt sich zu: Primat der Phantasie gegenüber dem Stoff, gegenüber den in ihrer Erscheinung bedeutungsarm gewordenen Dingen - Entpersonalisierung des Dichters, der zur anonymen Intelligenz, zum Medium eines Es geworden ist (das mit dem "Zeitgeist" der Gesellschaft scheinbar nichts gemein hat) - Operateur der Sprache, der das Wort nicht im Sinne Goethes "erfaßt", das Wort, das mit dem Geschauten, dem Gedachten, dem Erfahrenen "möglichst unmittelbar" zusammentrifft, sondern sich von ihm erfassen läßt. (Fs)


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