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Autor: Hazard, Paul

Buch: Die Krise des europäischen Geistes

Titel: Die Krise des europäischen Geistes

Stichwort: Leibniz, Bossuet: Alter; Scheitern des Versuches einer konfessionellen Einigung; Ruinen; Swift (Zitat über Christentum)

Kurzinhalt: Swift ... Es ist gefährlich, schreibt er, es ist unvorsichtig, gegen die Abschaffung des Christentums zu argumentieren zu einer Zeit, da alle Parteien einhellig entschlossen sind, es auszurotten, ...

Textausschnitt: 272b Nun ist es soweit; er hat zu lange gelebt, ist zu alt. Gerade die, welche ihn stützen sollten, verlassen ihn. Er leidet an Steinen, er stöhnt und schreit. Wenn sein Leiden ihm eine Atempause gewährt, läßt er sich in seine Sänfte setzen und macht sich auf den Weg zum König, bei dem er ehemals Kraft und Mut zurückgewann: aber der König, der selbst im Abstieg ist, kann das Wunder nicht vollbringen, die zu verjüngen, die auf dem Weg zum Grabe sind. (Fs)

273a Sich gegen das Leiden straffend, das ihn peinigt, und sich »mit Mühe auf den Beinen haltend«, versucht er mit rührender Ungeschicklichkeit dem höchsten Herrn seine Aufwartung zu machen. Er fällt auf in Versailles, und die Höflinge machen sich lustig über den großen, gebrechlichen Greis, der ein wenig lächerlich wirkt und überall im Wege ist. »Will er denn am Hof sterben?« murmelt die wenig barmherzige Madame de Maintenon. Als er 1703 an der Prozession zu Maria Himmelfahrt teilnimmt, bietet er einen traurigen Anblick, der seine Freunde betrübt, bei den Gleichgültigen Mitleid erweckt und die Höflinge zum Spott herausfordert. »Mut, Monsieur de Meaux«, sagt Madame ihm den ganzen Weg entlang, »wir werden das Ende erreichen.« Andere sagen: »Der arme Monsieur de Meaux!« Wieder andere: »Er hat sich tapfer gehalten.« Die Mehrzahl: »Er soll doch nach Hause gehen zum Sterben1!«

273b Leibniz hat es nicht viel besser. Er hängt seinen Träumen nach; man müßte China bekehren, nicht, indem man den Chinesen nachweist, daß sie sich irren, sondern indem man die Analogien, die zwischen ihrer und unserer Religion bestehen, und welche auf die im Wesen des menschlichen Geistes begründete Einheit zurückzuführen sind, hervorhebt... Aber die Realität hat ihn enttäuscht; sie ist keine Materie, die man nach seinem Belieben modeln kann; sie leistet unerschütterlichen Widerstand. Keine »universelle Charakteristik«, keine Einigung der Kirchen; alles eitle Projekte, unfaßbare Schatten. Als Fontenelle vor der Académie des Sciences in Paris sein Porträt zeichnet, schildert er ihn als Triumphator: »Gewissermaßen jenen Alten gleichend, welche die Geschicklichkeit besaßen, bis zu acht nebeneinander gespannte Pferde zu lenken, beherrschte er gleichzeitig alle Wissenschaften.« Aber Fontenelle kennt auch seine menschlichen Seiten: »Zu Hause war er der absolute Herr; denn er aß immer allein. Er richtete seine Mahlzeiten nicht nach bestimmten Stunden. Er führte keine Wirtschaft, er ließ von einem Restaurateur das erste beste holen ... Oft schlief er nur auf einem Stuhl sitzend und erwachte deshalb nicht weniger frisch um sieben oder acht Uhr morgens. Er begann sofort wieder zu arbeiten und hat oft ganze Monate lang seinen Stuhl nicht verlassen ...« Je älter Leibniz wird, um so mehr wird dies Bild von ihm das wahre. Er ist allein. Die Mächtigen dieser Welt, auf die er für sein Wirken gerechnet hatte, haben ihn im Stich gelassen. Nachdem der Kurfürst von Hannover im Juni 1714 König von England geworden war, hat man die Dienste des kränklichen Greises zurückgewiesen. Da er nicht in die Kirche geht und das Abendmahl nicht nimmt, hält man ihn für einen Ungläubigen, und die Pfarrer sind gegen ihn. Er stirbt am 14. November 1716. Man begräbt ihn ohne feierliches Leichenbegängnis, ohne Geleit, ohne Teilnahme: »eher wie einen Wegelagerer als wie einen Mann, der die Zierde seines Vaterlandes gewesen ist«. (Fs) (notabene)

274a Laßt uns träumen. Es gab einen Augenblick, in dem die Vereinigung der Kirchen möglich schien,- einen Augenblick, wie ihn »gewöhnlich ein Jahrhundert kaum einmal bietet«. »Gott hat seine Hand nicht von uns genommen«, schrieb Leibniz am 29. September 1691 an Madame de Brinon, »der Kaiser ist geneigt; Papst Innozenz XI und mehrere Kardinale und Ordensgenerale, der Maître du Sacré Palais sowie ernsthafte Theologen haben sich, sobald sie es richtig begriffen, aufs wohlwollendste geäußert. Ich habe selbst den Originalbrief von weiland Hochwürden Peter Noyelles, dem Jesuitengeneral, gelesen, der so präzis ist wie nur möglich, und man kann sagen, daß, wenn der König (von Frankreich) und die Prälaten und Theologen, auf die er in diesen Fragen hört, sich anschlössen, die Angelegenheit durchaus durchführbar wäre, denn sie wäre schon fast durchgeführt ...« So wird die Einigung vollendet, die katholische Kirche reformiert sich, die germanische und die lateinische Welt finden ihre geistige Gemeinschaft wieder, die Niederlande und England kehren ihrerseits in eine zugleich römische und reformierte Kirche zurück, und die Gläubigen, alle Gläubigen, stellen sich den auflösenden Kräften entgegen, die ihren Glauben bedrohen. (Fs) (notabene)

275a Kehren wir zur Wirklichkeit zurück. Katholiken und Protestanten vermögen sich nicht zu einigen; die günstige Stunde ist vorbei; der geschickteste und wohlmeinendste der Menschen ist mit der Aufgabe, die er auf sich genommen hatte, gescheitert: Die Feinde des Christentums jubeln und triumphieren. Welche Zerstörung! was für Ruinen! (Fs) (notabene)

275a Die Stelle des Gottes Israels, Isaaks und Jakobs will ein abstrakter Gott einnehmen, der nichts anderes ist als die Ordnung des Universums, vielleicht das Universum selbst. Dieser Gott kann keine Wunder tun; Wunder würden Anzeichen seiner Launen oder seines inneren Widerspruchs sein und würden daher, weit davon entfernt, seine Existenz zu beweisen, sie vielmehr verneinen. Die Autorität gilt nichts mehr, die Überlieferung lügt, der allgemeine Consensus läßt sich nicht beweisen, und wenn man ihn bewiese, so würde nichts ihn davor bewahren, mit Irrtümern befleckt zu sein. Das Gesetz Moses' ist nicht mehr das Wort, das Gott auf dem Berg Sinai diktiert hat und das sofort in seiner Gesamtheit niedergeschrieben worden ist. Es ist ein menschliches Gesetz, das noch die Spuren der Völker trägt, von denen die Hebräer es übernommen haben, und besonders die der Ägypter. Die Bibel ist ein Buch wie andere auch, voll von Abänderungen und vielleicht voll Ubermalungen, aus Rollen bestehend, die durch ungeschickte Hände aneinandergereiht worden sind, durch das nachlässige Werk plumper Köpfe, die nicht auf die Daten achtgegeben und manchmal den Anfang mit dem Schluß verwechselt haben. Sie erscheint nicht mehr göttlich. Noch weniger ist die königliche Macht von Gottes Gnaden; man hat das Recht des Widerstandes gegen sie verkündet. Überall hat man an die Stelle eines positiven Zeichens ein negatives gesetzt; und als Ludwig XIV. stirbt, scheint dieser Austausch vollzogen. (Fs) (notabene)

275b Niemals sind ohne Zweifel die Glaubenssätze, auf denen die alte Gesellschaft beruhte, solchen Erschütterungen ausgesetzt gewesen, und besonders niemals zuvor das Christentum. Swift gibt sich im Jahre 1717 einem seiner gewohnten Anfälle von Ironie hin. Es ist gefährlich, schreibt er, es ist unvorsichtig, gegen die Abschaffung des Christentums zu argumentieren zu einer Zeit, da alle Parteien einhellig entschlossen sind, es auszurotten, wie sie durch ihre Reden, ihre Schriften und ihre Handlungen beweisen. Nur ein paradoxer Geist kann sich unterfangen, es zu verteidigen, zu zeigen, daß sein Sturz nicht ohne einige Unannehmlichkeiten zu bewerkstelligen wäre und vielleicht nicht all die guten Wirkungen hervorrufen würde, die man sich davon verspricht2. Dieser Ausfall von Swift verrät die Besorgnis der verantwortungsbewußten Christen beim Anblick der Resultate einer Zerstörungsarbeit, die schon Jahre gedauert hat, und die nicht mit heimlichen und kleinlichen Angriffen vorgegangen ist, sondern offen, bei hellem Tage. (Fs) (notabene)

276a Aber Europa liebt die Ruinen nicht; es wird sie immer nur auf Grund einer vorübergehenden Laune dulden, um eine Verzierung für seine Gärten daraus zu machen, und dort werden sie außerdem zu nichts anderem dienen, als durch ihren Gegensatz den Auftrieb der Bäume und das pulsierende Leben der Blüten hervorzuheben. Selbst die skeptischsten unter den Geistern, deren Tätigkeit wir verfolgt haben, haben vor dem Nihilismus, zu dem ihr Zweifel sie zu führen drohte, haltgemacht. Sie haben jene »vollkommene Ruhe sowohl in bezug auf den Willen wie auf den Verstand« nicht genossen, in der Pyrrhon die Weisheit und das Glück sieht3: wenn ihr Verstand ihnen auch das Wider manchmal günstiger dargestellt hat als das Für, so hat ihr Wille sich doch nie aufgegeben. Sie haben erklärt, sie rissen das alte Haus nur nieder, um ein neues zu bauen, und sie haben seine Pläne gezeichnet, seine Grundsteine gelegt und seine Mauern errichtet - gerade inmitten der Trümmer. Zerstörung und zugleich Wiederaufbau. Wollen wir die Menschen vollends kennenlernen, die während dieser großen Krise gelebt haben, so müssen wir sie jetzt bei ihrem Versuch zum positiven Aufbau betrachten. (Fs)

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