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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Erfahrungsverlust (Schumpeter); Kunst

Kurzinhalt: ... die Entschiedenheit, mit der alle Künste seit etwa 50 Jahren sich von der vorfindbaren Wirklichkeit abwenden, ist doch wohl zuerst als eine Art ontologischen Mißtrauensvotums aufzufassen ...

Textausschnitt: 4. Erfahrung und Ethos

56b Für den oben (III, 2) beschriebenen Erfahrungsverlust finden wir daher mehr als genug Gründe. Der Verlust des Realitätssinnes oder die Herabsetzung des Sinnes für die Wirklichkeit, die ein so scharfsinniger Beobachter wie Schumpeter für »den eigentlichen Kern aller Schwierigkeiten« hält*, ist von den Künsten bei weitem früher ausgedrückt, als von der Psychologie oder den Sozialwissenschaften entdeckt worden - die Entschiedenheit, mit der alle Künste seit etwa 50 Jahren sich von der vorfindbaren Wirklichkeit abwenden, ist doch wohl zuerst als eine Art ontologischen Mißtrauensvotums aufzufassen, wenn auch die Fähigkeiten der Künstler oft nur soweit reichten, der verworfenen Realität irgend etwas Subjektives zu substituieren. Wenn dagegen Musil in seinem großen Roman die Schicksale und Ereignisse sich um eine »Parallelaktion« zu etwas nicht Vorhandenem herum entwickeln läßt*, oder wenn Kafka in die Darstellungen seines pedantisch-naturalistischen Stils unermüdlich Traummotive einblendet, genau wie später die surrealistischen Maler, dann erhoben sich diese großen Künstler zu einem Realitätszweifel von objektiver Bedeutsamkeit. Diesen aber zu interpretieren, statt auszudrücken, könnte die eigentlich wohl zuständige Philosophie kaum ohne Hilfe der Soziologie und der Sozialpsychologie unternehmen. Und hier wäre auf mancherlei hinzuweisen, was bisher zur Sprache kam: Die industrielle Entwicklung hat die Welt mit einem Kosmos von Organisationen überzogen, deren funktionale Verwicklung die Grenzen der Berechenbarkeit wohl schon überschritten hat. Neben die Großraumplanungen treten die Großzeitplanungen, jedoch in schnellem Wechsel. Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen transkontinentalen Wetterlagen sind unheilschwanger, die Auswirkungen ihrer Entladungen bis in jedes Haus und Herz hinein würden sicher sein, an der Unmöglichkeit einer rationalen und angemessenen Erkennbarkeit der Determinanten dessen, was vor sich geht, ist andererseits auch kein Zweifel. Der Meinungsbildungszwang angesichts undurchschaubarer, aber drastisch wirksamer Tatsachen wäre vielleicht eine Entlastung, kreuzte er sich nicht mit der Unsicherheit, welche Handlungen eigentlich wegen oder trotz oft geäußerter Überzeugung und Kundgebung zu erwarten sind. Das weitverbreitete Unbehagen, die gelegentlichen Zuckungen der Sozialkörper, das unruhige Angebot von Ideologien, die von den Intellektuellen fieberhaft errichtet und wieder abgetragen werden, der Abbau aller Präliminarien des Egoismus, das Flüchtige und Unsorgfältige der Vorwände, die plötzlich auftretenden höllischen Bestialitäten - alles das hat die Ansicht bereits zum Gemeinplatz gemacht, daß die Menschheit ein stabiles moralisches Verhältnis zur industriellen Kultur, überhaupt zur Summe ihrer gegenwärtigen Umstände noch nicht gefunden hat. So gab auch Röpke der Vermutung Ausdruck, daß (zum guten Teil infolge der politischen Gegenschläge der Massenzivilisation) die psychomoralischen Fundamente für das bis jetzt erreichte Ausmaß an Arbeitsteilung, d.h. sozialer Differenzierung, bereits unzureichend geworden sind.* (Fs)

58a Man muß versuchen, für alle diese Erscheinungen sehr allgemeine Deutungsformeln zu finden. Denn wenn heutzutage nicht nur die europäische, sondern auch schon die amerikanische Literatur repräsentativen Ranges »oft genug nichts erfühlbar macht, als eben das Erlebnis des Wirklichkeitsverlustes«*, dann können national differenzierte historisch-gesellschaftliche Besonderungen oder geistige Völkerschicksale nicht zu den ausschlaggebenden Bedingungen gehören. Letzten Endes scheint uns die »Krise« nicht einmal, wie oft gesagt wird, eine religiöse zu sein, sondern in dem Sinne eine »totale«, daß die Grundkoordinaten der Weltinterpretation zweifelhaft geworden sind. Ein Grundbedürfnis des Menschen, von dessen Erfüllung zweifellos seine Sicherheiten und Gewißheiten letzter Instanz abhängen, ist jedenfalls ungedeckt: die Stabilisierung des Lebensraumes gelingt der technischen Kultur nicht, ebensowenig wie die Stabilisierung des »Sozialraumes«. Denn die »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter) liegt im Wesen der Industriekultur.* (Fs)
58b Anthropologisch gewendet wird damit aber gesagt, daß es an stabilen Außenhalten für unsere Gesinnungen, Verpflichtungen und sogar unsere Meinungen fehlt, an einem invarianten Schatz von Gebräuchen, Gewohnheiten, an Einrichtungen, Symbolen, Wegweisern und »kulturellen Immobilien«, denen wir die Steuerung unseres Verhaltens in dem Gefühl überlassen können, es richtig zu machen. Wir sind umgekehrt genötigt, in dauernd wacher Bewußtheit, in einer Art chronischen Alarmzustandes die Umwelt und unser eigenes Handeln immerfort sachdiagnostisch und ethisch zu kontrollieren, ja, jederzeit Grundsatzentscheidungen zu improvisieren. Und das alles innerhalb eines Szenariums wechselnder und mobiler Vorder- und Hintergründe, Personen und Parolen. Unter diesen Bedingungen läßt sich das unverzichtbare Minimum an Konformitätsdruck nicht beschaffen, das jede Gesellschaft schließlich doch braucht, und dann wird eben eine Unterschiedlichkeit praktischer, theoretischer, moralischer und gesinnungsmäßiger Stellungnahmen möglich und wirklich, die eine gegenseitige Verständigung gar nicht mehr hergibt. Daß eine solche Darstellung nicht übertrieben ist, beweist ein Blick auf jede politische Frage von einiger Reichweite, handle es sich etwa um die Problematik der Kriegsdienstverweigerung oder um die Suezkanalaffaire: da stehen sich dann nicht nur ethische Grundsatzentscheidungen unvereinbar gegenüber, sondern der Sachaspekt selbst, die Frage, um was es sich eigentlich handelt, läßt sich nicht mehr zum Einverständnis bringen. (Fs)

59a Da nun alle Neuigkeiten, mit denen wir überschüttet werden, stets auch die Seite haben, ein Abbruch von Traditionen zu sein, so fehlt es auch redlichen Entschlüssen an Innenbestätigung - denn Traditionen erscheinen dem Menschen im Eigenverhältnis als seines eigenen Wesens und Willens. Man kann rastlos auf allen möglichen Gebieten tätig sein und sich doch nicht davon überzeugen, daß dieses Tun auch Taten enthielt. Alle diese Symptome wirken so, als ob die Menschen die Welt in dem Sinne verändert hätten, daß sie zugleich die unsichtbaren Stützen ihrer eigenen geistigen Formung wegschlugen. (Fs)

59b Kompensatorisch verstärkt sich natürlich das ideologische Bedürfnis. Eine »gut verpaßte Ideologie« (Freyer)* kann den Mangel an Ordnung und Kohärenz, den die Wirklichkeit zeigt, in gewissem Grade vergüten, sie spielt auch im Zusammenhang der »Erfahrung zweiter Hand« eine wichtige Rolle: die nichtbeherrschten Daten, die nur vermutbaren Zusammenhänge, die am Horizont auftauchenden Tatsachen und Wirkungen kann man in einer Art Vorgriff auf ihre wirkliche Appropriation in die reale Verfügungsgewalt doch schon ideologisch assimilieren. (Fs)

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