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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Meinungen, Erfahrung zweiter Hand; Massenmedien; Aberglaube

Kurzinhalt: Das, was man früher »vom Hörensagen« erfuhr, wird heute zunächst einmal von der Informationsindustrie vermittelt, von Presse, Rundfunk usw., neben denen natürlich die ewige Quelle weiterfließt, ...

Textausschnitt: 3. Meinungen, Erfahrung zweiter Hand
51a Der Vorgang der Meinungsbildung hat, seit die Institute zur Erforschung der öffentlichen Meinung diese letztere selbst wieder zu beschäftigen beginnen, die ihm zukommende Aufmerksamkeit endlich auf sich gezogen. Es handelt sich bei ihm um einen Spezialfall von »Ordnungsstiftung«. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Ausbildung sehr zahlreicher, beweglicher und recht präziser begrifflicher Grundmodelle (Kategorien) und das elementare, wohl instinkthaft in seiner »riskierten« Konstitution verwurzelte Bedürfnis, in das halbgeordnete Durcheinander des Ereignisstromes und der erfahrbaren Welt ein Maximum an Ordnung, Zusammenhang und Regelmäßigkeit hineinzuinterpretieren. Wir kamen oben (I, 3) bei der Diskussion der sonderbaren Faszination, welche ein Automatismus auf den Menschen ausübt, schon in eine Erörterung des Bedürfnisses nach Umweltstabilität hinein und erwähnten einige praktische und theoretische Beispiele besonders befriedigender Stabilisationskerne, wie sie in einem gewohnheitsfest gewordenen Handlungskreis, in rhythmisch-periodisch umschwingenden Maschinen und in der Theorie der Astrologie vorliegen, die ja offenbar angesichts ihrer vollkommenen rationalen Unwahrscheinlichkeit nur wegen ihres besonders sympathischen »Ordnungsmaximums« so viele Anhänger findet. (Fs)

51b Wie Hofstätter überzeugend gezeigt hat, bedeutet der Aberglaube, zu dem jeder Mensch geneigt ist, nichts anderes als einen Spezialfall der allgemeinen Tendenz zur Überschätzung des Ordnungsgrades im Ereignisstrom.* Der Abergläubische vereinfacht die Welt mit Hilfe von Koinzidenzformeln, von (Pseudo-)Regeln der Ereignisfolgen, er interpretiert den Weltlauf als geordneter, einfacher und interessierter am Wohle des Menschen, als er ist. Wenn zwei außergewöhnliche Ereignisse zusammenfallen, z. B. die ersten H-Bombenexplosionen und ein regenreicher, kühler Sommer, so ist es fast unmöglich, hier nicht einen fatalen Kausalzusammenhang anzunehmen, den man künftig vermeiden könnte. Hiermit haben wir aber zugleich bereits ein »Stereotyp« der öffentlichen Meinung angetroffen: [...]

53b Überlegt man sich, was alles nach dem Gesagten der Vernünftigkeit eines sachangemessenen Urteils entgegensteht, so kann man nur erstaunt sein, daß die Weltfremdheit und Verblendung nicht noch höhere Grade erreichen. Denn von den Faktoren, die auf die Bildung unserer Meinungen und Überzeugungen Einfluß haben, ist einer der wichtigsten noch nicht erwähnt worden - das Mittelbarwerden der Erfahrung selbst. Zwischen den Einzelnen, dessen echter Erfahrungsumkreis, wenn wir dieses Wort in einem anspruchsvollen Sinne verwenden, stets sehr eng ist, und die unübersehbaren, schicksalhaften Vorgänge, die sich aus den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Superstrukturen heraus entwickeln, tritt notwendig eine Zwischeninstanz: die »Erfahrung zweiter Hand«. Das, was man früher »vom Hörensagen« erfuhr, wird heute zunächst einmal von der Informationsindustrie vermittelt, von Presse, Rundfunk usw., neben denen natürlich die ewige Quelle weiterfließt, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen selbst besteht, in Erzählungen, Berichten, Mitteilungen und Agitationen, die umlaufen und die zum größten Teil wieder auf Informationen aus den »Massenmedien« zurückgehen, die Tag und Nacht in Betrieb sind. Sehr viele mitgeteilte Tatsachen sind dabei selbst wieder gesteuerte Mitteilungen - dies liegt daran, daß die Erhebung, Formulierung und Verbreitung von Tatsachen meist die Aufgabe großer Betriebe ist. Die damit an den »news« und »facts« angreifenden Einflüsse gehen von dem technischen Zwang zur Kurzfassung, den Betriebsregeln der zugemessenen Wichtigkeit und der nie ganz auszuklammernden Subjektivität der Funktionäre bis zu größeren Zusammenhängen: daß solche Betriebe nicht im leeren Räume operieren, daß sie also von anderen Instanzen beeinflußt werden, die auch ihre Tendenzen haben, und daß sie natürlich denjenigen Grad von Rationalität längst erreicht haben, der mit der Überlegung einsetzt, bei wem die Nachricht ankommen soll und wie sie ankommen soll. Die Aufbereitung von Tatsachen ist, da sie betriebsförmig erfolgt, unvermeidlich selbst ein gerichteter Prozeß: betriebsförmig heißt eben rational und rational heißt zweckhaft, wobei der Zweck in einem Spielraum oszilliert, auf den viele Faktoren Einfluß haben. Mindestens ebenso wichtig und unvermeidlich ist aber diejenige Entstellung von Nachrichten, die völlig absichtslos daraus folgt, daß heutzutage die »Bedeutung« eines Ereignisses meist durchaus nicht aus ihm selbst hervorgeht oder an ihm ablesbar ist, so daß die Tatsachenhülse, um überhaupt Nachricht werden zu können, schon mit Meinungen der Kommentatoren aufgefüllt werden muß. (Fs)

54a Der Niederschlag aller dieser Vorgänge im einzelnen heißt Meinung, deren Unvermeidbarkeit wir jetzt begreifen, weil solche schematische Inhalte da eintreten, wo das Wissen erster Hand, das aus der selbst erarbeiteten und verantworteten Erfahrung, nicht hinreicht und wo dennoch die Gewichtigkeit der Fragen und der Druck des Bedürfnisses, sich auf sie einzustellen, eine Stellungnahme herausfordern. Man kann solchen Meinungen nicht entgehen, weil man in der unübersehbaren Tatsachenwelt von heute auf sekundäre Quellen angewiesen ist, die uns denn auch in Bild und Druck mit allen Graden der Zuverlässigkeit entgegenspringen. Und man hat sie nötig, um sich im Meere der Unsicherheit eine »bienfaisante certitude« zu verschaffen. (Fs)

54b Falsch und simplifizierend wäre jedoch die Auffassung, als ob Meinungen nur verschwommene, halbrichtige und trübende Vorstellungen über Tatsachen wären, die man mit einiger Bemühung genau wissen könnte. Das kommt allerdings vor, und zwar auf Gebieten, wo das Nichtunterrichtetsein sich u. U. drastisch auswirken kann, wie bei Wahlen - es ist nicht einzusehen, warum im Juni 1954 die Frage »wissen Sie, was Regierungskoalition bedeutet« von 65 % der befragten Frauen mit »weiß nicht«, vagen oder falschen Angaben beantwortet wurde, oder warum seit Jahren zwischen 32 und 40 % der Befragten glauben, daß die Ministergehälter »den Staat am meisten Geld kosten«.* Eine solche Ignoranz wäre doch wohl durch sorgfältige und wiederholte, schon in der Volksschule angreifende Information aus der Welt zu schaffen. Einen anderen Grad der Gewichtigkeit erhalten Meinungen aber in den Fällen, da ein Tatsachenwissen aus sachlichen Gründen gar nicht erreichbar ist, während auf der anderen Seite die Meinung »unvermeidlich« durch drastische Einwirkungen provoziert wird. Das ist der Fall bei »Charakterbildern«, die eine Nation über die andere bei häufiger und näherer Berührung auszubilden gar nicht vermeiden kann. Das »Selbststereotyp«, das z.B. die Amerikaner über sich selbst haben, weicht ganz gehörig von den »Fremdstereotypen« ab, die von Deutschen, Franzosen, Engländern usw. über die Amerikaner ausgebildet werden, und dabei ist die objektive, tatsächliche Verteilung von Charakterzügen, wie Hofstätter bei der Diskussion dieses wichtigen Problems bemerkt, bei keiner einzigen Nation, Rasse oder Religionsgemeinschaft bisher bekannt.* Über die virtuell gewaltige politische Bedeutung, die solche öffentlichen und sachlich gar nicht zu berichtigenden Meinungen über andere Völker, Rassen usw. haben können, braucht hier kein Wort verloren zu werden. (Fs)

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