Datenbank/Lektüre


Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Dynamik

Kurzinhalt: Nicht mehr die Freiheit, sondern das Streben nach Gleichheit wird verlaufsbestimmend, die Revolution mündet in die Diktaturen von Napoleon I. und Napoleon III.

Textausschnitt: Die Dynamik des revolutionären Prozesses

121b Am Beginn der Revolution steht der Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Stellung des Adels und der Geistlichkeit, die in wirtschaftlichen Privilegien sichtbar wird, und der Bedeutung des aufsteigenden Großbürgertums. Die Institutionen sind nicht an die neue Situation und die neuen Bedürfnisse der Menschen angepasst.1 Die Welt- und Praxislosigkeit der revolutionären Intellektuellen, die die wichtigsten Repräsentanten des revolutionären Bewusstseins sind, schafft im Verlauf des Revolutionsprozesses einen neuen Gegensatz zwischen den revolutionären Zielen und den durch sie bestimmten Handlungen auf der einen und den tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten der Gesellschaft auf der anderen Seite. Der revolutionäre Prozess zerbricht an der widerstrebenden gesellschaftlichen Realität, die sich als stärker erweist. Die Revolution ändert ihre Richtung: Nicht mehr die Freiheit, sondern das Streben nach Gleichheit wird verlaufsbestimmend, die Revolution mündet in die Diktaturen von Napoleon I. und Napoleon III. ein. Die Freiheit wird der Gleichheit geopfert. Dieser Verzicht auf Freiheit ist die Folge der Desillusionierung der revolutionären Bewegung, die ihren eigenen Idealen und Wunschträumen abschwört und an deren Stelle kleinbürgerlich-materielle Wünsche nach Wohlstand und wirtschaftlicher Stabilität verfolgt. Die Träume und Illusionen jener der praktischen Vernünftigkeit entfremdeten Revolutionäre aber werden in die geistige Subkultur der Gesellschaft zurückgedrängt, wo sie fortleben2 und mit ihren radikal
-egalitären Forderungen immer wieder in die Politik einzudringen drohen. (Fs) (notabene)

122a Damit der verschüttete revolutionäre Impetus erneut wirksam werden kann, muss ein Teil der politisch herrschenden Schicht die Führung übernehmen. »Die Erfahrungen der letzten siebzig Jahre haben bewiesen, dass das Volk allein keine Revolution machen kann; solange dieses notwendige Element der Revolutionen auf sich selbst angewiesen ist, ist es ohnmächtig. Das Volk wird erst in dem Augenblick unwiderstehlich, in dem sich ein Teil der Führungsschicht ihm beigesellt; und dieser gewährt dem Volk erst dann moralische Unterstützung oder materielle Zusammenarbeit, wenn er nichts mehr von ihm befürchtet. Dies ist die Ursache dafür, dass in den letzten sechzig Jahren jeweils dann, als die Regierung am stärksten schien, der Anfang jener Krankheit sie befiel, die sie untergehen ließ.«3 Mit anderen Worten, die Ursache für den Wechsel von stabilen Phasen und revolutionären Ereignissen im Verlauf der Revolution liegt in der spirituellen Gespaltenheit der französischen Gesellschaft, deren gemeinsame äußere Ordnung nicht durch entsprechende Gemeinsamkeit im Bewusstsein gesichert ist. Sobald der Anschein äußerlicher Ruhe weitergehende Stabilität vortäuscht, tritt die Segmentierung der Gesellschaft wieder in Erscheinung. Die Revolutionäre der Führungsschicht meinen, sich ohne Gefahr für die äußere Ordnung mit den Volksmassen verbinden zu können: Eine neue Phase des Umsturzes beginnt. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt