Datenbank/Lektüre


Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Verlauf; Traum der Revolutionäre; Einbruch der Wirklichkeit in den Traum;

Kurzinhalt: Die Erfahrung, dass die konstruierende Vernunft die Wirklichkeit nicht nach ihrem Bild neu zu errichten vermag, zerstört die Traumwelt menschheitsbeglückender Spekulation ... So tritt der Despotismus das Erbe der Revolution an ....

Textausschnitt: Der Verlauf der Revolution

118a Im Jahre 1789 war die gesamte französische Nation von einem revolutionären und politischen Geist bestimmt, der jedermann über seine engen persönlichen, ökonomischen, sozialen oder ständischen Interessen hinaushob. Das öffentliche Wohl bestimmte Handlungen und Gedanken der Akteure: »Ich glaube nicht, dass es jemals in der bekannten Geschichte irgendwo auf der Welt eine vergleichbare Zahl von Menschen gab, die so ernsthaft vom öffentlichen Wohl bestimmt waren, die so wahrhaftig ihre Interessen vergaßen, die so völlig in der Überlegung eines großen Werkes gefangen waren, die so entschieden waren, alles, was Menschen an Teurem im Leben haben, einzusetzen, und die so sehr davon in Anspruch genommen waren, sich über die kleinen Leidenschaften ihrer Herzen hinauszuheben. Dies ist der gemeinsame Grund der Leidenschaften, des Mutes und der Hingabe, aus dem alle großen Handlungen, die die Französische Revolution erfüllen werden, hervorgingen.«1 Mit diesen Worten schildert Tocqueville das geistige Klima direkt vor dem Ausbruch der Revolution, und es ist nicht zu übersehen, dass in dieser begeisterten Schilderung gleichzeitig eine kritische Distanz zum »juste milieu« seiner Zeit und zum politischen Krämergeist der späteren Phase der Entwicklung, in der Tocqueville lebt, sichtbar wird. Wie konnte dieser Geist des Neubeginns, der Freiheit und der Selbstlosigkeit verloren gehen? Wie ist es möglich, dass die Franzosen von 1789 bis 1799 ihre Liebe zur Freiheit so radikal aufgaben und den wahren Wert der Freiheit vergaßen? (Fs)

118b Die Überschätzung der realen Möglichkeiten, die zum Wunsch nach einer Reform von allem und jedem führte, die sich nicht beschied, die vielmehr alte Bräuche, Meinungen und Gewohnheiten, eben alles in der Gesellschaft auf einmal ändern wollte und die deswegen auch zu einer allgemeinen Erschütterung der moralischen Welt führte, erzwingt letztlich den Zusammenbruch des revolutionären Geistes. Die Realität erweist sich als stärker. Der Traum der Revolutionäre kann nicht ewig dauern. Das Bewusstsein der Revolutionäre hat sich zu weit von den konkreten Gegebenheiten der Gesellschaft entfernt; der Druck der Wirklichkeit zwingt sie in die Realität zurück. Die Erfahrung, dass die konstruierende Vernunft die Wirklichkeit nicht nach ihrem Bild neu zu errichten vermag, zerstört die Traumwelt menschheitsbeglückender Spekulation. Tocqueville spricht in diesem Zusammenhang von einem »Fall« (chute), der die Revolutionäre in die Welt zurückführt.2 (Fs)

119a Dieser »Fall«, nämlich das Einbrechen der Realität in die Träume und literarischen Fantasievorstellungen der Revolutionäre, führt zu jenem eigenartigen Bruch im revolutionären Bewusstsein, der wahrscheinlich ein Hauptcharakteristikum der Entwicklung der Französischen Revolution ist. (Fs) (notabene)

119b Der Revolutionär erwacht aus seinem Traum, aufgeweckt von den harten Rückschlägen der Erfahrung einer widerstehenden Gesellschaft, und wird auf sich und seine persönlichen Interessen zurückgeworfen. Das Ergebnis: Wenn man schon die erträumte totale Freiheit nicht erreichen kann, will man wenigstens für sich selbst die Früchte der Revolution retten. Ein neuer Egoismus macht sich als Folge der gescheiterten Hoffnungen breit. »Was die Menschen in langen Revolutionen aber am meisten demoralisiert, sind weniger ihre Fehler oder gar ihre Verbrechen, die sie im Feuer ihrer Leidenschaften und ihres Glaubens begehen, als vielmehr das Misstrauen, das sie gegenüber eben jenem Glauben und eben ihren Leidenschaften entwickeln, die sie zu Handlungen trieben. Jetzt sind sie ermüdet, ernüchtert und enttäuscht und wenden sich zuletzt gegen sich selbst und finden, dass sie kindisch in ihren Hoffnungen, lächerlich in ihrer Begeisterung und vor allem noch lächerlicher in ihrer Hingabe gewesen seien.«3 Jetzt findet jene Besinnung auf die eigenen Interessen statt, auf die man sich im Gegensatz zum eigenen Enthusiasmus meint verlassen zu können. Gesellschaft und Politik werden nur noch als Mittel gesehen, privaten sozioökonomischen Zielen nachzujagen.4 Die Gesellschaft wird in den Augen ihrer Bürger zur Aktiengesellschaft. (Fs)

120a Und die Revolution? Sie wird weiter bejaht. Nicht, weil sie Freiheit stiften wollte - diese hat man ja als allgemeines Menschheitsideal verfolgt und nicht erreicht. Die Revolution wird bejaht als die Schöpferin der neuen Ordnung5, die jedem den Verfolg seines privaten materiellen Glücks erlaubt. Sie wird bejaht, weil sie die Abschaffung der Adelsprivilegien gebracht hat, und deren Früchte will man - besonders im wirtschaftlichen Bereich - ernten. Die Gesellschaft der Konsumhedonisten, der Wirtschaftsbürger tritt das Erbe der Revolution an, die ihr ursprüngliches Ziel, die Freiheit, verpasste. (Fs)

120b Die Revolution hat die alten Privilegien beseitigt, Traditionen und die als selbstverständlich akzeptierte überkommene Feudalordnung zerstört. Ihr Abfallen vom Ziel der Freiheit und der Selbstregierung hat Besitzstreben und privaten Individualismus freigelegt und zum bestimmenden Faktor der sozialen Ordnung gemacht. Diese privatistische Haltung der Bürger und Regierenden wie auch die noch immer vorhandenen utopischen Ziele erweisen sich nun freilich selbst als gefährdend für die neue Ordnung: An die Stelle des Strebens nach Freiheit tritt das Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz vor utopischen Träumern und Stabilität, die allein die Konzentration auf wirtschaftliche Ziele ermöglichen. Ruhe und Stabilität sind nicht mehr Bedingungen der Freiheit, sondern selbst oberstes Ziel der öffentlichen Ordnung. Die politische Verfassung wird unter diesem Ziel gesehen, und ein möglicher Usurpator kann leicht den Anschein erwecken, die gewünschte Stabilität noch besser zu garantieren als die Republik. Der erfolgreiche Putsch von Louis Napoleon verschiebt die Beweislast vor den Augen der an Ruhe interessierten Bürger zu denen hin, die Widerstand leisten wollen: Das Ziel der Stabilität macht Freiheit entbehrlich. (Fs)

121a So tritt der Despotismus das Erbe der Revolution an, die ihr Ziel der Freiheit enttäuscht durch Besitzstreben ersetzte. Eine allmächtige Bürokratie garantiert dem Land die gewünschte Stabilität und handelt sich dafür das Recht ein, die Politik bei sich zu monopolisieren und die Bürger von den allgemeinen Angelegenheiten fern zu halten. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt