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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Französische Revolution: Bedingungen: Stellung von Adel, Klerus, intellektuelles Klima, Realitätslosigkeit der Literaten

Kurzinhalt: einer der wichtigsten Faktoren, die die Entwicklung zur Revolution in Frankreich begünstigten, ist die Kluft ... Reichtum ... des Großbürgertums einerseits und der moralischen Einflusslosigkeit der Geistlichkeit bzw. der ... Machtlosigkeit des Adels

Textausschnitt: Die Bedingungen der Revolution

113a Einer der wichtigsten Faktoren, die die Entwicklung zur Revolution in Frankreich begünstigten, ist die Kluft zwischen dem Reichtum und der Bildung des Großbürgertums einerseits und der moralischen Einflusslosigkeit der Geistlichkeit bzw. der tatsächlichen Machtlosigkeit und Erniedrigung des Adels andererseits.1 Adel und Geistlichkeit waren ihrer politischen Verantwortlichkeiten und der eigentlichen Aufgaben ihres Standes (Regelung der lokalen Angelegenheiten, Fürsorge für die Bevölkerung etc.) schon lange entfremdet und nutzten ihre privilegierte Stellung nur noch für ökonomische Vorteile aus.2 Politische Führung, Verantwortlichkeit und Ordnungsfunktion der angeblich »politischen Klasse« waren längst verloren gegangen, ihre Privilegien waren auf gesellschaftlich-ökonomische Vorrechte (wie z.B. Steuerprivilegien) heruntergekommen, denen keine politische Aufgabe mehr entsprach. Der Hass der Bürger gegen diese Vorrechte, deren Grund niemandem mehr einsichtig war, war umso größer.3 (Fs) (notabene)

114a Frankreich mit England vergleichend, stellt Tocqueville darüber hinaus fest, dass eine der wesentlichen Bedingungen der Revolution in Frankreich ein intellektuelles Klima war, das die Revolution förderte.4 Das Auftreten einer Klasse von Intellektuellen - Tocqueville nennt sie Schriftsteller (écrivains) -, die durch die Zentralisation und durch ihre besondere Situation in der Gesellschaft bar jeder praktischen politischen Erfahrung sind, wird zu einer der entscheidenden Bedingungen der Französischen Revolution, die nicht nur für die Auslösung der gewaltsamen Ereignisse, sondern auch für den Verlauf der Revolution von entscheidender Bedeutung sind.5 Die öffentliche Debatte, die diese Intellektuellen entscheidend tragen, ist bestimmt von der Diskussion allgemeiner Ideen und Konzepte, von Doktrinen und politischen Dogmen, die in ihrer Allgemeinheit eine enge Beziehung zu den konkreten Problemen der Gesellschaft vermissen lassen. Die an allgemeinen und abstrakten Doktrinen ausgerichtete Debatte führt aber zu einem Fehlen vernünftiger Reformgedanken, die ohne Revolution ausführbar wären.6 (Fn) (notabene)

114b Eine Suche nach neuen Lösungen, die auch die Regierenden erfasst, findet zu einem Zeitpunkt statt, der von der Unfähigkeit der herrschenden Klasse geprägt ist, Probleme und Ausmaß der Krise zu erkennen oder gar selbst vernünftige Reformkonzepte zu entwickeln. Die Regierenden sind nicht nur von der Gesellschaft isoliert und repräsentieren diese nicht mehr, sie sind auch nicht in der Lage, diesen Tatbestand überhaupt zu erkennen. Die traditionelle praktische Klugheit, zu der die Regierenden erzogen sind, versagt sowohl bei der Analyse des Bewusstseinszustandes der Gesellschaft als auch beim Entwerfen von Reformkonzepten, die der neuen Situation entsprechen.7 Eine Debatte über Verfassungsprinzipien, eine abstrakt-formale Gerechtigkeit und aus philosophischen Systemen abgeleitete Ordnungsentwürfe liegen jenseits des Horizontes der politischen Machthaber. Die Regierenden bemerken weder, was in der Gesellschaft tatsächlich geschieht, noch was ihnen droht, weil sie diese »Debatte der Träumer« nicht als ordnungs-gefährdend erkennen. (Fs) (notabene)

115a Tocqueville betont, für die Analyse der vorrevolutionären Situation in Frankreich sei die Untersuchung der abstrakten Doktrinen wichtiger als die praktischen Überlegungen der Regierenden, und in diesem Zusammenhang nennt er die Verfechter der abstrakten Prinzipien der Aufklärung »Träumer«.8 Seine Kritik zielt auf jenen Glauben der Aufklärung, man könne jede beliebige Gesellschaftsordnung vom Schreibtisch aus errichten und so eine menschliche und doch absolute Gerechtigkeit ohne Gott erreichen. Sie zielt zum anderen darauf, dass jene Prinzipien- und Doktrinendebatte der französischen Gesellschaft nicht die konkreten Probleme der französischen Gesellschaft behandelt, keinen realen Ort hat, auf den sie sich bezieht, und keine soziale und politische Realität hat, mit der sie sich auseinander setzt. (Fs) (notabene)

115b Der Träumer und Ideologe, der in die Welt seiner Fantasien und »Modelle« flieht, bewegt sich nicht in der Welt der Erfahrungen, die für die Wachenden der verlässliche Bereich ist, den sie gemeinsam haben, der Ort ordnenden Denkens, Redens und Handelns der Menschen. Wahrscheinlich ist eine der Ursachen für die radikale Dynamik ideologischer Revolutionen in der Realitätslosigkeit der Literaten zu sehen, die die Gedanken der Revolutionäre geprägt haben. Tocqueville betont diese Tatsache für die Französische Revolution und kritisiert die Losgelöstheit der Aufklärungsschriftsteller von der konkreten Realität ihres Landes. Tatsächlich müssen natürlich Revolutionäre den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie nicht unter Beachtung der konkreten Bedingungen und Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft denken und handeln. Das Entwickeln abstrakter »Ordnungsmodelle« und der Glaube, alles stünde zur Disposition der Handelnden, signalisieren eine Weltlosigkeit im Bewusstsein der Revolutionäre, die zusammen mit den Handlungsmöglichkeiten in der Revolution zu fantastischen Ergebnissen führen muss. Der Ort der Revolution ist so tatsächlich zuerst das Bewusstsein der Revolutionäre; die Gesellschaft, ihre Institutionen und letztlich die Bürger werden zu disponiblen Gegenständen, die sich gefälligst nach dem Bewusstsein des Revolutionärs zu richten haben. (Fs) (notabene)

116a Weltlosigkeit und allgemeine Menschheitsideen verführen die Revolutionäre in der Folge zum großen Pathos der neuen Ordnung, das eben keine Rücksicht auf die vorgefundene Wirklichkeit mehr nimmt. Die Welt soll nach den eigenen Träumen gestaltet werden, die Revolution richtet sich am Bewusstsein der immer realitätsfeindlicher werdenden Revolutionäre aus. Das revolutionäre Denken, das sich an der eigenen Radikalität berauscht, verselbstständigt sich. Nicht mehr die Freiheit, sondern die Revolution selbst und ihre Fortsetzung gegen eine sich sträubende gesellschaftliche Realität werden zum Ziel der Überlegungen. (Fs) (notabene)

116b Diese Tendenz der Perpetuierung der Revolution sieht Tocqueville nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass das »wahre Ziel der Revolution weniger eine Regierungsform als eine soziale Ordnung war, weniger die Eroberung öffentlicher Rechte als die Zerstörung von Privilegien«9. Das heißt, die Revolution hat das Ziel der sozialen Gleichheit und wird deshalb so lange weitergehen, wie das letzte große Privileg, das Eigentum, weiterbesteht.10 Tocqueville hat diesen Gedanken der Interpretation der Französischen Revolution unter ihrer Zielsetzung völliger sozialer Gleichheit nicht mehr zu Ende geführt11, stellt aber fest, dass die neu entstandene »Rasse« der Revolutionäre unter anderem deshalb so ungestüm, gewalttätig und gegen die Rechte Einzelner eingestellt sei, weil sie aus der Schicht der De-pravierten kommt.12 Die intellektuellen Führer der Revolution finden insbesondere um 1789 Gefolgschaft in einer Bevölkerung, die nicht vom später vorherrschenden Wunsch nach Stabilität und Ruhe bestimmt ist. Frankreich ist zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution nicht industrialisiert und hat damit noch keine Bevölkerung, »die den inneren Frieden brauchte und glaubte, ihn unbedingt nötig zu haben, um zu leben«13. Tocqueville deutet hier eine These an, die - allerdings unter völlig anderen Vorzeichen und kombiniert mit der Unterstellung, durch das Ausbleiben der »letzten« Revolution sei das Reich der Freiheit verpasst worden - von Herbert Marcuse vertreten wird. Marcuse ist der Überzeugung, durch die Manipulation der Konsumwünsche der Bürger und ihre Disziplinierung im industriellen Arbeitsprozess sowie durch die gestiegenen Annehmlichkeiten der Industriegesellschaften wäre eine Revolution heute unmöglich. Ähnlich äußert sich Tocqueville, allerdings ohne die Untertöne Marcuses, der von der Revolution Erlösung erwartet von »den vielen kleinen Annehmlichkeiten, die zu Bedürfnissen der Völker unserer Tage werden und die ihnen die innere Ruhe um jeden Preis notwendig machen«14. (Fs)

117a Tocqueville weiß sehr wohl, dass es auch ökonomische Bedingungen gibt, die den Ausbruch der Revolution begünstigten15, aber für ihn sind die Bewusstseinslagen der handelnden Revolutionäre, der ihnen folgenden Massen und der von der Revolution angegriffenen Regierenden nicht nur für den Ausbruch, sondern auch für den Verlauf der Revolution von entscheidender Bedeutung. (Fs)

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