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Autor: Gehlen, Arnold

Buch: Die Seele im technischen Zeitalter

Titel: Die Seele im technischen Zeitalter

Stichwort: Ausbreitung der experimentellen Denkart; Geheimbesitz einer Minderheit: Künste und Wissenschaften -> Entfremdung von Religion und Restauration

Kurzinhalt: Es handelt sich immer weniger darum, für schon definierbare Zwecke die technischen Mittel der Herstellung, für vorgegebene Gegenstandsgebiete die besten Erkenntnismethoden zu finden oder allgemein bekannte Weltinhalte künstlerisch zu bewältigen, sondern

Textausschnitt: 2. Ausbreitung der experimentellen Denkart

28a Unter den geschilderten Umständen läßt sich verstehen, daß es in den modernen Künsten und Wissenschaften neben dem jeweils sehr kleinen Kreis der eigentlich führenden und produktiven Köpfe von oft internationaler Kompetenz auch nur eine kleine Zahl interessierter Laien von wirklich erzogener Kennerschaft geben kann. Ein noch so großes Interesse an der Sache genügt nicht, es läuft ohne dringendes Studium leer, und die Einarbeitung in die atonale Musik, die Verhaltensforschung, in die Charakterologie mit ihren »Testbatterien« oder um welche der neuen trickreichen Entdeckungen es sich handeln mag - diese Einarbeitung erfordert ein intensives und planmäßiges Studium, in den meisten Fällen sogar eine überdurchschnittliche Spezialbegabung, und so wird sie nur wenigen Nichtfachleuten möglich sein. Es gibt nicht viele berufstätige, gebildete Menschen, die an den Zeitereignissen Anteil nehmen wollen, die eine solche zusätzliche Arbeit auf sich nehmen können. Weite Kreise dieser Art fühlen ihr doch vorhandenes Interesse ausgesperrt und finden sich wehrlos der unermüdlichen, planmäßigen und dabei höchst reizbaren Agitation ausgeliefert, wie sie insbesondere im Dienste der abstrakten Künste betrieben wird - einer Agitation, die gerade aus dem Gefühl, nicht überall anzukommen, ihre Überaktivität und Ungeduld zieht. (Fs)

28b Wenn die Künste und Wissenschaften auf diese Weise esoterisch werden, zu einer Art Geheimbesitz kleinster und oft einflußreicher Minderheiten, dann hat dies aber auch noch eine andere, nicht unwichtige und bisher kaum bemerkte Folge: sie können nämlich nicht mehr als Religionsersatz eintreten. Im 19. Jahrhundert sah man noch öfter, daß gewisse Theorien oder Kunstrichtungen prinzipiell und zugleich gemeinverständlich genug waren, um »weltanschauliche« Massenbewegungen zu werden - Darwinist oder Wagnerianer zu sein, bedeutete einmal eine volle, pathosbesetzte Entscheidung für Inhalte, die als Lebensstoff für eine Gesamtorientierung auszureichen schienen. Ob mit Recht oder Unrecht, das steht hier nicht zur Frage - die Möglichkeit jedenfalls bestand, und eigentlich jeder der großen Autoren, von Schopenhauer und Nietzsche bis zu Ibsen, Strindberg, Gerhart Hauptmann, George usw. hat eine »Bewegung« in Schwung bringen und auf den Geist der Zeit inhaltlich einwirken wollen. Eine solche Möglichkeit besteht heute nicht mehr, weil alle stabilisierbaren Inhalte verschwunden sind, um die herum man Meinungsmassen fixieren könnte. Viele Menschen, die in die Ausstellungen Picassos fluteten, haben zweifellos einen leidenschaftlichen Drang zu dieser Kunstart gefühlt, sie haben sich begeistert dieser Faszination ausgesetzt und werden sie immer wieder aufsuchen - die Kirchen braucht das nicht zu beunruhigen, sie können sogar Le Corbusier die Kirche von Ronchamp* bauen lassen, aber sie hätten nie zugelassen, ein Gotteshaus mit Parzival-Szenen auszumalen. Gegen den Darwinismus haben die christlichen Konfessionen erbittert gekämpft, von der modernen Genetik brauchen sie sich nicht beunruhigen zu lassen, denn diese ist von so uferloser Kompliziertheit, daß sie schon längst für keinen einzelnen Kopf mehr übersehbar ist. Das Abstraktwerden der Künste und Wissenschaften bedeutet daher umgekehrt die Stabilisierung der Religion auf dem eigentlichen Bereiche der Weltanschauung. Für sie sind also die neuen Künste noch in einem besonderen Doppelsinne »gegenstandslos«, und die Kirchen können sich ihrer mit derselben Unbefangenheit bedienen, wie des Fernsehens, des Radios und Telefones. Sie sind auch die weltanschauliche Konkurrenz der Philosophie losgeworden, und zwar weil die gewaltigen Erfahrungsmassen der Politik und der Naturwissenschaften sich verselbständigt haben, sie lassen sich nicht mehr unter dem philosophischen Dach versammeln. Gerade an diesem Zug ersieht man die tiefgreifenden Veränderungen des Zeitalters der Nachaufklärung: was wäre Kant ohne die Französische Revolution und ohne Newton gewesen? (Fs)

29a Der innere Zusammenhang, in dem die moderne Geisteskultur mit der Technik steht, führt also zu einer »Entfremdung« beider Instanzen von der Religion und gerade damit zu deren Restauration auf dem eigentlich weltanschaulichen Gebiet. Wir wollen uns aber wieder den Beziehungen zwischen jenen Instanzen zuwenden und eine spezielle Bedeutung des Wortes »Technik« herausarbeiten: auf beiden Gebieten rückt nämlich das Problem der Machbarkeit in die Mitte*, es geht um die Ausschöpfbarkeit bestimmter Methoden, und man gewahrt immer deutlicher eine Art Achsendrehung der Fragestellung. Es handelt sich immer weniger darum, für schon definierbare Zwecke die technischen Mittel der Herstellung, für vorgegebene Gegenstandsgebiete die besten Erkenntnismethoden zu finden oder allgemein bekannte Weltinhalte künstlerisch zu bewältigen, sondern umgekehrt: die Darstellungsmittel, Denkmittel, Verfahrensarten selbst zu variieren, durchzuprobieren, bis zur Erschöpfung aller Möglichkeiten ins Spiel zu bringen und zu sehen, was dabei herauskommt. Auch in der Technik geht man natürlich, wie früher, oft noch von Zwecken aus und sucht die Mittel dafür: man sucht etwa nach der Methode der Geräuschdämpfung eines Motors, oder nach der Methode, die optimale »Betriebsatmosphäre«, Zufriedenheit und Arbeitslust zu erzielen, denn auch dies ist ein psychotechnisches Problem. Daneben aber und anscheinend zunehmend wichtig gibt es die umgekehrte Art der Problemstellung, nämlich die Frage, was sich Unvorhergesehenes aus einer gegebenen Verfahrensart herausholen läßt. Die Anwendungsarten der Elektrizität, des Elektronenmikroskops, der Atomenergie auf den verschiedensten Gebieten sind so ermittelt worden, oder sie werden es noch. In dieser Bedeutung behält also das Wort Technik etwas von seinem ursprünglichen Sinn der Kunstfertigkeit, des Könnens, des aus Versuchen unerwartet herausspringenden, dann aber beherrschten Erfolges. Es geht darum, was man mit gegebenen Techniken, Methoden (auch geistigen), die man selbst wieder variiert, alles machen kann, ohne vorgegebenen Zweck, durch bewegliches Durchprobieren, so wie man nach der Entdek-kung der Röntgenstrahlen nicht nur die Bildverwendung entwickelte, sondern auch die Tiefenbestrahlung des lebenden Gewebes zu Heilzwecken oder die Verwendbarkeit für Gemälde-Expertisen. (Fs)

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