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Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte

Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7

Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION

Stichwort: Signatur der Zeit: Gott ist tot; Jean Paul, Dostojewskij (Großinquisitor, Aljoscha); Nietzsche; Weber: Jaspers: die Entgötterung als das eigentliche Ereignis der Revolution

Kurzinhalt: Er kann den Teufel zu Iwan Karamasoff sagen lassen: "Es ist reaktionär, in dieser Zeit an Gott zu glauben. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben"

Textausschnitt: 1. "Daß Gott tot ist"

385c Es wird darüber gestritten, ob die tragenden Ideen der Französischen Revolution aus den christlichen Glaubensgehalten herausspringen und die Säkularisierung des individuellen und gesellschaftlichen Daseins eine Weltwerdung dieses Glaubens ist, ermöglicht dadurch, daß die Welt aus ihrer vorrevolutionären archaisch-sakralen Fesselung befreit wurde - oder ob die Säkularisierung die Erscheinung der Tatsache ist, "daß Gott tot ist", daß der Mensch ohne Gott leben muß (es "zum Glück" zu wollen ist der Leichtsinn einiger der "Philosophes" der Aufklärung und der vom noch naiven Optimismus betrunkenen Naturwissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts) - daß also die Gesellschaft mit ihren eigenen, je nach Theorie ausgewählten Sanktionen auszukommen hat, daß die Dinge nicht mehr als die Schöpfung Gottes angeschaut werden können, sondern vom Menschen in ihrer "eigentlichen" "Wirklichkeit" erst hervorgebracht werden müssen, daß der Einzelne die Frage nach dem Tod sich selbst beantworten oder sie als unbeantwortbar auf sich beruhen lassen muß - ob also die Revolution, verstanden als ein universaler Vorgang, die Antwort ist auf die Tatsache, "daß Gott tot ist". (Fs)

386a Diese Alternative in der Deutung der Revolution wird in diesem Zusammenhang aufgegriffen, weil eine jede Erscheinung in der Geschichte des Welt- und Selbstverständnisses seit der Revolution je nach der Deutung der "Säkularisierung" einen anderen Stellenwert hat. Der Satz, Religion sei "Privatsache", gehört zwar angesichts der politischen Realitäten des 20. Jahrhunderts zu den Lächerlichkeiten des vorigen; aber viele Sozial- und Geisteswissenschaftler der nicht offiziell atheistischen Welt tun noch immer so, als ob sie in jeder Dimension ihrer Untersuchungen nach diesem Schlagwort verfahren könnten. Sie können aber - völlig unabhängig davon, was sie persönlich denken - nicht wissenschaftlich handeln, wenn sie aus ihren Gegenständen deren positiven oder negativen Bezug zur Religion und Religiosität ausklammern oder gerade noch am Rande behandeln; denn dieser Bezug ist immer keine "private", sondern eine öffentliche Sache. "Daß Gott tot ist", ist jedenfalls noch nicht eine so alte Geschichte, daß man sie auf sich beruhen lassen könnte. (Fs)

386b "Religion" ist in der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert zunächst noch in der Regel der christliche Glaube mitsamt seinen Ausdeutungen, die bis in die Preisgabe der fundamentalen Symbole verlaufen. Aber was im revolutionären Europa geschieht, wirkt in steigender Intensität auf alle Kulturen der Menschheit ein, wobei sich christliche Missionsschulen als ein wirksames Transportmittel erwiesen. Die freilich in sehr verschiedenem Tempo vollzogene Technisierung mit ihren universalen Folgen spielt in dieser Einwirkung eine zunehmend stärkere Rolle, die jedoch nicht ohne die aus Europa mitgebrachten ; transtechnischen Implikationen verstanden werden kann. Die von der Einwirkung des Dichters, diese Traumgeschichte würde ihn heilen, wenn ihm alle aus verschiedenen Gründen, zu denen auch ihre überlieferten Religionen gehören, sehr verschieden; aber auch in diesen Reaktionen stellt sich, insbesondere bei den Intellektuellen, das Problem der "Säkularisierung" in ihrem positiven oder negativen Bezug zur Religion (welcher auch immer) zunehmend deutlicher, wobei die der europäischen Geistesgeschichte entsprungenem und übertragene Problemstellung sich vermischt mit den aus den jeweilige Überlieferungen sich ergebenden Problemstellungen. (Fs)
386c Ob die "Säkularisierung" also die Erscheinung der Tatsache ist, "daß Gott tot ist" - oder ob sie eine Befreiung der Welt zu ihrer "Weltlichkeit" und ineins damit eine Befreiung der Religion zu ihrer "Gläubigkeit" ist, dies erscheint als eine menschheitliche Frage, in deren Horizont alle Erscheinungen des modernen Welt- und Selbstverständnisses anzuschauen sind. (Fs) (notabene)

387a Man hat gesagt, in Frankreich sei, im Unterschied zur Entstehung der USA, ein "Zusatz von Atheismus" (O. Westphal) in der Revolution notwendig gewesen, um den Feudalismus in der Wurzel zu zerstören. Dies klingt so, als sei da irgendwo in absoluter Geschichtsüberlegenheit eine Mischung zubereitet worden, zu deren Wirksamkeit eine Prise Atheismus gehörte, die man dann vielleicht auch wieder weglassen konnte, wenn sie ihre Wirkung getan hatte. Es ist schwer abzuschätzen, welche nachhaltige Effizienz der fade Atheismus eines Diderot oder Holbach gehabt hat; gewiß aber kann man bei Newton (Band VI, Seite 530) mehr davon erfahren, um was es sich bei der Säkularisierung des Weltbildes im Hinblick auf die Gottesfrage handelt. Nimmt man die philosophische und naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Theologie im 17. und 18. Jahrhundert so ernst, wie sie zur Zeit ihres Vollzuges ernst genommen wurde, dann gewinnt man die angemessene Dimension, in die vielleicht auch die Diskussion der Frage gehört, ob es "nicht die christlichen Gehalte sind, sondern offenbar die Säkularisierung selbst, welche am Ursprung der Revolution liegt" (Hannah Arendt). (Fs)

387b Ursprünglich wollte der Pfarrersohn und Theologiestudent Jean Paul (J. P. F. Richter, 1763-1825) den toten Shakespeare die Nachricht verkünden lassen, "daß kein Gott sei". Die letzte Fassung der "Traumdichtung" aus dem Jahre 1795 ist die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab", die Rede also nicht eines vermittelnden Dichters, sondern des Mittlers selbst, der auf die Frage der um den Altar der Weltkirche versammelten Toten nach Gott die Anwort gibt: "Es ist keiner." Denn er, der Sohn, ist durch die Welten gestiegen, den Vater zu suchen. "Und als ich [Christus] aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an." Dies ist die Botschaft nicht irgend jemands, es ist die Botschaft dessen selbst, auf dessen Verheißung die ganze Glaubensgeschichte des Abendlandes ruht. Die Lebenden können Gott anbeten, auf die Heilung ihrer Wunden hoffen; aber wer dem Morgen der Wahrheit und Freude entgegenschlummert, erwacht "im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht". Dies erzählt Jean Paul als einen Traum, und er läßt den Träumenden in den "vollen purpurnen Kornähren" erwachen. Die wirkliche Überraschung für den Leser aber steckt in der Anmerkung des Dichters, diese Traumgeschichte würde ihn heilen, wenn ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstört wären. Heil und Heilung liegen hier also hinter der Erfahrung, "daß kein Gott sei". (Fs) (notabene)

387c Die Spur dieser Erfahrung, mehrfach im Bild des "Prometheus Unbound" ausgedrückt (Seite 376), zieht sich durch das Jahrhundert und wird in seinem letzten Drittel zweimal in einer solch exemplarischen Abgründigkeit ausgesprochen, daß alle spätere Rede davon nur noch als eine blasse Wiederholung erscheint. Was Jean Paul den "toten Christus" sagen läßt, sagt bei Dostojewski), der soviel unerbittlicher ist als der "Gottsucher" Tolstoi (Seite 380), der Großinquisitor zu Christus, dem Einzigen, dem es gesagt werden kann und der dazu schweigt, und dessen Kuß im Herzen des Großinquisitors brennt. Das Schweigen als die allein noch mögliche Antwort - dies ist eine immer wiederkehrende Signatur des Zeitalters, im Nicht-mehr-Malen, Nicht-mehr-Dichten, Nicht-mehr-Philosophieren, und man geht eben doch an der Grundbestimmung vorbei, wenn man den Rückzug ins Schweigen als unmännliche Ausflucht versteht (vgl. Seite 429). Dostojewskij sagt nicht, was der brennende Kuß bedeutet, für den Küssenden, der vom Großinquisitor entlassen wird, und für den Geküßten, der dabei bleibt, daß den Menschen, den "schwächlichen Rebellen", zu ihrem Glück die Freiheit abgenommen und die Meinung, sie mitsamt dem Glauben zu haben, gelassen wird. Der gute Aljoscha bezieht die ganze Geschichte auf die römische Kirche, und die Figur des Großinquisitors gehört natürlich in den Zusammenhang der slawophilen Europakritik Dostojewskijs. Aber dahinter tun sich menschheitsgeschichtliche Perspektiven auf, wenn gesagt wird, es werde die Wissenschaft verkünden, "daß es keine Verbrechen, folglich auch keine Sünde, sondern nur Hungrige gibt". Die Herrschenden, die darum wissen, "daß Gott tot ist", werden die Menschen zwar zur Arbeit zwingen, aber "ihnen in den arbeitsfreien Stunden das Leben wie ein Kinderspiel gestalten". Das verlängerte Wochenende, in dem sich der Sonntag von den anderen freien Tagen nicht mehr unterscheidet, der Ersatz eines Zeitrhythmus durch den bloßen Wechsel von Arbeitszeit und Freizeit, wurde von Dostojewskij in aller Präzision vorausgesagt. Er kann den Teufel zu Iwan Karamasoff sagen lassen: "Es ist reaktionär, in dieser Zeit an Gott zu glauben. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben" - sein Nachweis ist ja bis auf weiteres das Böse. (Fs) (notabene)

388a "Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist." Ungefähr hundert Jahre nach Jean Paul sagt es F. Nietzsche (Seite 385) im "Zarathustra". Aber die Geschichte dieses Tot-Seins ist inzwischen weitergegangen. Sie ist ebenso vulgär geworden wie die Versuche, die "bodenlose Augenhöhle" zuzustopfen. F. Nietzsche führt diese Versuche in der "Anbetung des Esels" vor und verhöhnt den "Gewissenhaften", d. h. den Mann der Wissenschaft: "Vielleicht daß ich an Gott nicht glauben darf: Gewiß aber ist, daß Gott mir in dieser Gestalt noch am glaubwürdigsten dünkt." Daß der "Papst außer Diensten" "in Dingen Gottes aufgeklärter" ist als Zarathustra, hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr bewahrheitet als in der von Nietzsche attackierten Theologie eines David Friedrich Strauß (1808-1874). (Fs)

388b Eines der Beispiele dafür, wie die zynische Reflexion des Zynismus der Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert diesen Sachverhalt zu schildern weiß, gibt Guy de Maupassant (1850-1893, seit 1891 umnachtet). Gott wird vorgestellt "als eine gewaltige schöpferische Kraft, die in den Weltraum Millionen von Lebewesen sät, wie ein gewaltiger Fisch im Meere laicht". Aber ein solcher selbstgenießerischer Fatalismus hat nur eine beschränkte Lebensdauer, und die Härte geschichtlicher Tatsachen kürzt sie ab. André Gide (1869-1951; vgl. Seite 413) kam sein Leben lang nicht vom Evangelium los, und dies nicht nur in seiner christlich-religiösen Phase (um 1914). Es ist hierzu kein Widerspruch, sondern eine Bestätigung dieses Sachverhaltes, wenn J.-P. Sartre schreibt: "II a vécu ses idées; l'une surtout: la mort de Dieu." Denn "daß Gott tot ist", das ist bei Jean Paul, bei Dostojewskij, bei Nietzsche und allen ihnen verwandten Geistern eine religiöse Erfahrung, die wesentlich anderer Art ist als naturwissenschaftliche, soziologische, philosophische oder auch theologische Schlußfolgerungen des Atheismus, wie immer in diesen solche Erfahrungen oder Nach-Erfahrungen mitspielen können. (Fs)

389a Es scheint wichtig, dieses religiöse Moment des entschiedenen oder oft auch apokryphen Atheismus zu beachten, wenn man das intellektuelle und künstlerische Aufgebot inden Werken des 19. und 20. Jahrhunderts angemessen würdigen will, und man setzt sich nicht dem Mißverständnis aus, als wolle man wie so manche Theologen taufen, was gar nicht getauft werden will, wenn man die religiöse Dimension dieses Aufgebotes in das Verständnis einbezieht. Das überlieferte Bild Gottes ist das erste aller Bilder, die abhanden gekommen sind. Goethe konnte noch sagen, der Mensch wisse gar nicht, wie "anthropomorph" er sei, d. h., wie sehr er von sich selbst als dem "Ebenbild" in gleicher Weise sprechen muß wie vom Bilde Gottes selbst. Aber die Grunderfahrung, "daß Gott tot ist", war nicht aufzuhalten, und indem man sie durchstand, kam ein Bild um das andere abhanden. Man mußte sich anstrengen, neue zu schaffen, und es konnten keine humanistischen mehr sein, keine "anthropomorphen". Kaum irgendwo wird dies so deutlich wie in der großen französischen Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Valéry; vgl. Seite 427-432). (Fs)

389b Gewiß ist der christliche Glaube Baudelaires ein "ruinöses Christentum" (H. Friedrich). Aber das "Unauslöschliche Siegel" (Titel eines Romanes von Elisabeth Langgässer [gest. 1950] aus der Zeit nach ihrer Abwendung von der Naturdämonie) ist noch lange eingebrannt in alle Markierungen des Weges, der zu gehen war. Daß es eingebrannt ist gerade in die Erfahrung, "daß Gott tot ist", macht das Gewicht dieser Erfahrung aus, jedenfalls dort, wo sie wirklich eingebracht und nicht nur kopiert wird. Dann aber fällt in der Tat die Frage dahin, ob die "christlichen Gehalte" oder die "Säkularisierung" am Anfang dieses Weges stehen. Es ist dies ein einziger Vorgang, angebahnt im 17. und 18. Jahrhundert in der Umkehrung der abendländischen Frage "Cur Deus homo" (Band VI, Seite 569f), und es gehört zu ihm, daß die Säkularisierung als "Weltwerdung" des Glaubens die andere Seite seiner "Verweltlichung" ist. (Fs)

389c Wir können nach allem, was seither in der Folge der Revolution geschehen ist, nicht mehr in der gleichen Weise wie A. de Tocqueville (Seite 376) von der Kontinuität der Revolution zum Ancien régime sprechen. Denn wie problematisch die Kontinuität der abendländisch-europäischen Geschichte geworden ist, läßt sich daran ablesen, daß die "Säkularisierung" der Welt selbst in Frage gestellt wurde: Wer ist der Mensch? Wer sind die Menschen in ihren Gesellschaften? Was ist die Welt? Solche Fragen sind in kritischen Momenten immer wieder der Anlaß gewesen, davon zu sprechen, es gehe "ein religiöser Zug durch die Zeit". Es scheint, daß solche Züge immer wieder ins Unbestimmte abgefahren sind (über die Erneuerungsbewegungen im Christentum und in den anderen Weltreligionen vgl. Seite 220ff). Ist es daran, daß die Erfahrung, "daß Gott tot ist", und die Erfahrung mit der "Säkularisierung", die beide den gleichen Erfahrungsgrund haben, auch dann in eine menschheitsgeschichtliche Krise führen, wenn sich die politischen Weltmächte im Patt immer wieder verständigen? Denn die immer häufiger werdende Rede, es stünde das "Überleben" der Menschheit auf dem Spiel, ist deshalb letztlich banal, weil der Mensch seit eh und je einen Grund zum Überleben braucht. Nietzsche hat eindeutig gesagt, worum es sich handelt: "Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht mehr - er muß es leugnen oder schaffen." Und Karl Marx betrachtete es als die Aufgabe der Geschichte, die Wahrheit, deren "Jenseits" verschwunden ist, als die "Wahrheit des Diesseits zu etablieren" (vgl. S. 495). (Fs)

390a Max Weber ließ (1920) die Frage "noch" offen, wer künftig in den Gehäusen des alten Glaubens wohnen werde, ob am Ende der "ungeheueren Entwicklung" neue Prophet en oder eine Wiedergeburt alter Ideale stehen werden oder ob nur eine "mechanisierte Versteinerung" übrigbleibe. Ein Jahrzehnt später bezeichnete Karl Jaspers die Entgötterung als das eigentliche Ereignis der Revolution, denn den Umsturz der Gesellschaft und die Unverläßlichkeit aller Verhältnisse habe es schon früher und in allen Hochkulturen gegeben, auch den Unglauben Einzelner, aber nicht diese "nie gewesene Öde des Daseins", in welcher nach der Tilgung des Schöpfergottes die "in den Naturwissenschaften erkennbare Weltmaschinerie" das Sein ausmacht. Der Atheismus ist eine Tatsache, die nicht nach den gesellschaftlichen Systemen zu orten ist; sie ist in verschiedener Weise überall fundamental. (Fs)

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