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Autor: Augustinus, Aurelius

Buch: Über das Glück

Titel: Über das Glück

Stichwort: Gott - Seele; Gott-Suchen = Gott-nicht-Haben (Augustinus, Gnade); Teilhabe (Platon);
ontisch-ethischer Rigorismus

Kurzinhalt: Es ist die gesteigerte Transzendenz der Gottesidee, die Augustin die Gleichung »Gott-Suchen = Gott-nicht-Haben« nahelegt, den ganzen vorherigen Argumentationsaufbau hinfällig macht und damit das Glück ins Jenseits der Erfahrung zu verweisen scheint ...

Textausschnitt: 101a Dieselbe Trennung bahnt sich auch im Hinblick auf den mit dem Sein identisch gesetzten Gottesbegriff im Verhältnis zur Seele an, ohne daß sie freilich zu letzter Konsequenz gediehe und mit der Einschränkung, daß diese Separation im Schlußmonolog teilweise wieder rückgängig gemacht wird. Augustin vergißt zwar nie, daß die Seele von allen Dingen Gott am nächsten ist: ist sie doch aus demselben »Stoff« gemacht wie Gott - das Sein - selbst: ewiger, unwandelbarer Geist. Aber er vergißt gelegentlich, daß die Seele seinen eigenen Vorbegriffen nach nichts ist als das Sein in der Vereinzelung und Verfremdung. Unter dem Eindruck bibel-christlicher Vorstellungen denkt er sich auch Gott und die Seele als separate und das heißt in gewisser Hinsicht voneinander unabhängige Substanzen. Es bahnt sich eine Tendenz an, die platonische Seinskontinuität aufzulösen. Diese doppelte Separation führt zu merklichen Spannungen im systematischen Aufbau des Dialogs. So bringt ihn ganz zu Anfang schon die durchaus berechtigte Frage in Schwierigkeiten, wieso man die Nahrung um des Körpers willen für notwendig halte, da man sie doch um des Lebens willen verlange. Denn einerseits hatte er Leben und Seele traditionell identifiziert, andererseits Seele vom Körper scharf getrennt und sie dem Geisthaften zugerechnet. Damit war der Begriff des Lebens einsinnig identisch geworden mit dem Geist. Dann aber wird es unsinnig, körperliche Nahrung um des Lebens willen zu verlangen, obwohl eben das ein recht sicherer Ausgangspunkt zu sein schien. Augustin löst diese Schwierigkeit nicht auf, sondern rettet sich in eine Ausflucht: Nahrung wird um dessentwillen verlangt, das man »wachsen sieht«. Als ob wachsen und zunehmen nicht gerade eine Lebensäußerung sei. Die Ausflucht kann nicht gelingen, sie verschleiert nur die Aporie. Es ist die Einsinnigkeit der Identifikation von Seele und Geist also, die Augustin in Schwierigkeiten bringt und somit die Separation von Seele und Leib erfordert, als ob nicht diese beiden auch noch partiell identisch wären. Die Verschärfung der Transzendenz des Noetischen gegenüber dem Physischen erweist ihre Schattenseiten. (Fs)

102a So wundern wir uns nicht, das gleiche Problem bei der Behandlung des Verhältnisses Gott-Seele wiederkehren zu sehen, so daß sogar der Beweis gegen den Relativismus und Skeptizismus (§ 14) wieder in Frage gestellt werden muß (§20). In Paragraph 12 hatte sich als Resultat ergeben: »Wer Gott besitzt, ist glücklich.« Auf die Frage, wer denn nun Gott besitze, einigte man sich in Paragraph 18 auf die Antwort: »Gott besitzt, wer ein gutes Leben führt.« So schien also der Schluß nahezuliegen: Wer ein gutes Leben führt, ist glücklich, eine schlüssige Antwort, wie es schien, zumal inhaltlich der Begriff »gutes Leben« zuvor geklärt worden war. Gleichwohl: die Einführung des Gottesbegriffes in diesem Zusammenhang auf Grund der Identifikation von Sein und Gott sprengt den Beweisgang. Zwar führt jeder ein gutes Leben, der Gott besitzt, und ist daher glücklich, aber nicht jeder, der ein gutes Leben führt, besitzt deshalb auch schon Gott: führt er doch auch schon ein gutes Leben, wenn er Gott nur sucht. Und da nur glücklich ist, wer Gott besitzt, wird die Antwort erzwungen, nicht jeder, der ein gutes Leben führt, ist glücklich. Es ist die gesteigerte Transzendenz der Gottesidee, die Augustin die Gleichung »Gott-Suchen = Gott-nicht-Haben« nahelegt, den ganzen vorherigen Argumentationsaufbau hinfällig macht und damit das Glück ins Jenseits der Erfahrung zu verweisen scheint. Wenn es zwischen Unglück und Glück, zwischen Mangel und Fülle so wenig ein »Mittleres« gibt wie zwischen Tod und Leben, dann treten die Gegensatzpaare so schroff auseinander, daß der prozeßhafte Übergang der Gottsuche eigentlich unmotiviert erscheint: ein kontinuierlicher Aufbau des Seins mit fließenden oder auch strukturierten Übergängen und damit der Möglichkeit von Entwicklung und Läuterung scheint undenkbar. In Platons Denken ist all dies noch möglich. Sein Teilhabebegriff hätte die Lösung nahegelegt. Teilhabe meint, das Seiende strebt zum Sein, erreicht es aber nicht adäquat. So hat es nur einen Teil, ist nur partiell ähnlich, bleibt aber von der Vollkommenheit unendlich weit zurück. Wer Gott sucht, hätte Platon gesagt, hat an Gott teil, hat ihn aber nicht. In diesem beschränkten Maße hat er auch am Glück teil, er hat es aber nicht als Ganzes und Vollkommenes. Das gute Leben, das der Gottsuchende führt, signifiziert diese Teilhabe, diese teilweise sich äußernde »Habe Gottes«. Gott-Haben und -nicht-Haben sind natürlich Gegensätze - aber keine, die nicht vermittelt werden könnten. Alles menschliche Bemühen um Wahrheit, Glück, Gott ist der lebendige Beweis solcher Vermittlung, die bei allem Stückwerk und bloß partiellen Gelingens als Teilhabe sowohl Teil wie auch Anteil ist. Und so gibt es zwischen Gott und Welt, Seele und Leib zwar kein »Mittleres« als eigenes Ding, wohl aber Vermittlung. Schöpfung ist solche Vermittlung von Gott zu den Dingen wie der gute Wille von den Menschen zu Gott. So hätte Augustin also sagen können: glücklich wird, wer Gott sucht, ein gutes Leben führt, wem Gott sich daher teilgibt (»sich gnädig zuneigt«); der Weg zum Glück ist der des stufenweisen Aufstiegs vom minder vollkommenen zum vollkommeneren Leben - ein Weg des »Gottsuchens« oder, neuplatonisch gesprochen, der »Selbstverwirklichung« des Menschen. Statt diesem, auf dem philosophischen Hintergrunde augustinischen Denkens wohlbegründeten Lösungsversuch der Aporie des Gottsuchens wendet sich das Gespräch einem anderen Ausweg zu, der naheliegend erscheint: wer Gott sucht, dem ist Gott gnädig, wem Gott gnädig ist, dem schenkt er Glück. Bezeichnenderweise ist es die Mutter, die diesen religiöser Sprache entlehnten Begriff einführt, wie sie auch sonst theologisch, nicht philosophisch argumentiert. Zugleich gibt sie freilich dem Gedanken eine Wendung, die ihn rational verbindlich machen könnte. Gnade versteht sie nämlich nicht als die willkürlich geschenkte Zuneigung Gottes, sondern als die spezifische Form eines allgemeinen Seinszustandes: Alle Menschen besitzen Gott, die einen, die ein gutes Leben führen, haben einen gnädigen Gott, die aber ein schlechtes Leben führen, haben Gott gegen sich. Ohne Gott, das heißt ohne Sein, ist niemand. Das ist die allgemeine Seinsverfassung jedes Seienden, daß Gott - das Sein selbst - ihm innewohnt. Denen, die ein gutes Leben führen, das heißt ihrer Seinsverfassung entsprechend leben, nämlich ihrem geistigen habitus gemäß sich verhalten, diesen erscheint Gott zugewendet (propitius), sofern sie sich ihm zuwenden. Die aber, die seinsfremd, nämlich geistlos, das heißt gottlos leben, sind Gott abgewendet, und so erscheint Gott gegen sie (adversarius). (Fs) (notabene)

104a Ein solcher Gnadenbegriff, der das Willkürmoment Gott ab- und dem Menschen zurechnet, Gott vielmehr als die ursprüngliche, jedem Menschen eigene Parusie des wahren Seins begreift, so wie ja auch nach dem Johannesevangelium (Joh. 1,9) der Logos das wahre Licht ist, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt, ein solcher Gnadenbegriff ist, wie leicht einzusehen ist, dem platonischen Begriff der Teilhabe urverwandt. Um so bezeichnender ist es, daß Augustin den Einwurf dieses Gnadenbegriffs in die Diskussion unterläuft, nicht weil dieser seinen Intentionen zuwiderliefe - er kommt später darauf zurück -, sondern weil er ihm nichts zur Klärung beizutragen scheint. Deswegen aber sieht er darin keine Lösung, weil Gott-Haben für ihn nicht dasselbe bedeuten kann wie die Gnade respektive wie die Teilgabe. Gott haben - das ist für ihn der Vollbesitz göttlichen Geistes (35): Erst wenn wir der Wahrheit und des »höchsten Maßes« völlig inne sind, haben wir Gott und sind glücklich. Es ist der aus der Transzendenz Gottes gegenüber allem Unvollkommenen erwachsende Absolutheitsanspruch, der ihn auf »Teillösungen« verzichten läßt, ein - wenn man so will - ontisch-ethischer Rigorismus. (Fs)

105a Unter diesem Aspekt könnte man meinen, Augustin halte das Glück unter raum-zeitlichen Bedingungen überhaupt nicht für erreichbar. Er hat seine Gesprächsrunde zwar in den Hafen der Philosphie geführt, er hat also demonstriert, daß es einen »von der Vernunft eingerichteten Zugang« (ratione institutus cursus) auch für die vielen gibt: wer aber gelangt von da auf das Festland des Glücks? Wer wird des »Festlandes«, des dauerhaften und sicheren Seins, habhaft? Geht der Weg nur bis hierher und nicht weiter? In den Retractationes bedauert Augustin, daß er in De beata vita noch die Ansicht vertreten habe, das Glück sei im Diesseits erreichbar. Wenn sich Augustin selbst richtig interpretiert - eine Textstelle, aus der die Auffassung von der Diesseitigkeit des Glücks mit Sicherheit hervorginge, gibt es in unserem Dialog nicht -, dann kann sich das nur auf die wenigen Menschen beziehen, von denen er in Paragraph 1 spricht. Soviel aber hat die Analyse ergeben: volles Glück, Vollbesitz Gottes setzt unter den rigoristischen Begriffsbestimmungen bereits in diesem Frühwerk eigentlich den Menschen als absolut transmundanes Wesen voraus - was er sicher nicht ist. So ist von da aus der spätere Weg Augustins in eine religiöse Heils- und Erlösungslehre verständlich, weil durch sie scheinbar nur zu vermitteln ist, was hier bereits philosophisch-begrifflich auseinandergerissen scheint. (Fs)

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