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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Sein: eine spontane Notion; Unterschied: Sein - Existenz; Notion des Seins als immanente, dynamische Orientierung des Erkenntnisprozesses (sie geht über das Gedachte hinaus)

Kurzinhalt: Diese Notion muß die immanente, dynamische Orientierung des Erkenntnisprozesses sein. Sie muß das unparteiische und uneingeschränkte Streben nach Erkenntnis, insofern es im Erkenntnisprozeß operativ ist.

Textausschnitt: 3. Eine spontane Notion

410b Nachdem wir erklärt haben, was wir unter Sein verstehen, müssen wir nun fragen, was denn die Notion des Seins ist. (Fs)

Erstens muß unterschieden werden zwischen der spontan operativen Notion einerseits und den theoretischen Darstellungen ihrer Entstehung und ihres Inhaltes andererseits. Die spontan operative Notion ist invariant; sie ist allen Menschen [353] gemeinsam; sie funktioniert auf dieselbe Weise, ungeachtet der theoretischen Erklärung von ihr, die man sich zu eigen macht. Andererseits gibt es eine Fülle theoretischer Erklärungen ihres Gehaltes und ihrer Entstehung; sie variieren mit den philosophischen Kontexten, mit der Vollständigkeit der Beobachtungen eines Denkers, mit der Gründlichkeit seiner Analyse. Wir werden zuerst unsere Erklärung der spontan operativen Notion geben und dann ein paar Bemerkungen zu anderen theoretischen Erklärungen derselben anfügen. (Fs)

410c Unter Voraussetzung unserer Analyse des Erkenntnisprozesses kann leicht geschlossen werden, daß die spontan operative Notion des Seins in das reine Erkenntnisstreben zu setzen ist. Denn, erstens, die Menschen sind geneigt, darin übereinzustimmen, daß die Dinge sind, ob wir sie nun kennen oder nicht, und daß es zudem viele Dinge gibt, die nur unvollständig oder sogar gar nicht bekannt sind. Die Notion des Seins geht also über das Erkannte hinaus. Zweitens, das Sein wird im Urteil erkannt. Im Urteil bejahen oder verneinen wir, und bis wir zum Bejahen oder Verneinen bereit sind, wissen wir noch nicht, ob irgend ein X nun tatsächlich ist oder nicht. Wenn das Sein aber auch erst im Urteil erkannt wird, geht die Notion des Seins doch dem Urteil voraus. Denn vor allem Urteil kommt die Reflexion, und die Reflexion findet ihre Formulierung in der Frage "Ist es so?" Diese Frage setzt eine Notion des Seins voraus, und sie geht merkwürdigerweise vor jedem Fall unserer Erkenntnis von Sein vorher. Nicht nur geht dann also die Notion des Seins über das Erkannte hinaus, sondern sie geht auch der abschließenden Komponente des Erkennens voraus, in der das Sein tatsächlich erkannt wird. Drittens, es gibt Gedankenobjekte. Ich kann mir ein Pferd denken und ebenso einen Kentaur. Ich kann mir die beste zur Verfügung stehende wissenschaftliche Meinung über ein beliebiges Objekt denken, und ich kann mir auch alle früheren Meinungen denken, die, zu ihrer Zeit, die besten über dasselbe Objekt zur Verfügung stehenden waren. In einem bestimmten Sinne sind sie alle äquivalent; denn solange man nur denkt, erwägt und annimmt, beschäftigt man sich bloß mit dem Bedingten, und es macht keinen Unterschied, ob seine Bedingungen nun erfüllt sind oder nicht. Das Denken sieht dann also von der Existenz ab. Wenn es aber vom Existieren absieht, sieht es dann nicht vom Sein ab? Und wenn es vom Sein absieht, ist es dann nicht ein Denken über nichts? Das Problem bei diesem Argument ist, daß das Denken auch vom Nicht-Existieren absieht. Wenn ich einen Kentauren oder das Phlogiston denke, dann sehe ich von der Tatsache ab, daß sie nicht existieren; wenn also das Absehen vom Existieren ein Absehen vom Sein ist, ist Absehen vom Nicht-Existieren ein Absehen vom Nicht-Sein; und wenn das Absehen vom Sein beweist, daß ich nichts denke, dann beweist das Absehen vom Nicht-Sein, daß ich etwas denke. (Fs)

411a Nun hat diese Art Überlegung viele Denker zur Annahme geführt, daß Sein eine Sache ist und Existieren eine ganz andere, daß Pferde und Kentauren, [354] Elektronen und Phlogiston alle sind, daß aber Pferde und Elektronen existieren, während Kentauren und Phlogiston nicht existieren. Diese Konklusion wird aber den Tatsachen nicht gerecht; denn abgesehen von der sonderbaren Behauptung, daß das Nicht-Existierende ist, wird die Dynamik des Erkenntnisprozesses falsch verstanden. In einem bestimmten Sinne sieht das Denken von Existieren und Nicht-existieren ab; denn es ist nicht das Denken, sondern das Urteilen, das bestimmt, ob irgendetwas existiert oder nicht. In einem anderen Sinn aber sieht das Denken nicht ab von Existieren und Nicht-existieren; denn das Denken ist zweckgerichtet; wir denken, um unsere Begriffe in Ordnung zu bringen; wir wollen unsere Begriffe in Ordnung haben, damit wir urteilen können; weit davon entfernt, von Existieren und Nicht-Existieren abzusehen, ist das Denken zum Zweck des Bestimmens da, ob das Gedachte auch wirklich existiere oder nicht. (Fs) (notabene)

411b Es folgt, daß die Notion des Seins das bloß Gedachte übersteigt; denn wir fragen, ob das bloß Gedachte existiere oder nicht. Es folgt ebenso, daß die Notion des Seins dem Denken vorausgeht; denn täte sie das nicht, könnte das Denken nicht auf den Zweck des Urteilens ausgerichtet sein, auf das Bestimmen, ob das bloß Gedachte existiere oder nicht. Die Notion des Seins geht also der Begriffsbildung voraus und über sie hinaus; und sie geht dem Urteil voraus und über es hinaus. Diese Notion muß die immanente, dynamische Orientierung des Erkenntnisprozesses sein. Sie muß das unparteiische und uneingeschränkte Streben nach Erkenntnis, insofern es im Erkenntnisprozeß operativ ist. Nach Erkenntnis streben heißt, nach Erkenntnis des Seins streben; aber es ist bloß das Streben und noch nicht das Erkennen. Denken ist das Denken von Sein; es ist nicht das Denken von nichts; aber das Denken von Sein ist noch nicht das Erkennen von Sein. Das Urteilen ist ein vollständiger Zuwachs im Erkennen; wenn es korrekt ist, ist es ein Erkennen von Sein; aber es ist noch nicht ein Erkennen des Seins; denn dieses wird erst durch die Gesamtheit der korrekten Urteile erreicht. (Fs) (notabene)

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