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Autor: Riesman, David

Buch: Die einsame Masse

Titel: Die einsame Masse

Stichwort: Schelsky: Vorwort; Soziologie der Freizeit; Konsumpflicht; Verbraucherhaltung im Bereich der Politik

Kurzinhalt: In dieser Betonung und Auswertung der Freizeit oder <Muße> zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart hat Riesman nur einen Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Veblen.

Textausschnitt: 13a In anderen Punkten seiner Analyse ist unser Mit-Betroffensein offenkundiger: etwa in der Bedeutung, die er dem Konsum- und Freizeitverhalten für ein Verständnis des modernen Menschen und seiner Gesellschaft zumißt. Quer durch alle Aussagen Riesmans über einzelne Lebensgebiete zieht sich als eine Grundeinsicht die These, daß die Verbraucherhaltung zur dominanten Reaktionsform des Zeitgenossen geworden ist. Wir in Deutschland empfinden den Materialismus des Lebensgenusses, den wir überall beobachten, als einen Rückschlag gegenüber dem getäuschten Idealismus politischer Hingabe einerseits und als Folge der materiellen Notzeiten andererseits; Riesman sieht weiter: nach ihm muß jede industrielle Gesellschaft an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung - nach der Durchsetzung der Massenproduktion jeder Art - eine Höhe des Güterausstoßes erreichen, die sie zwingt, unter allen Umständen die Bedürfnisse und den Verbrauch zu erhöhen. Das Konsumpotential einer Gesellschaft wird in diesem Stadium wichtiger als etwa das Rohstoff-, Bevölkerungs- oder Arbeitspotential. Die wegen des Bestandes und der Erweiterung der industriellen Grundlage wirtschaftlich aufgedrungene Steigerung des Verbrauchs, die erhöhte Konsumpflicht der Gesellschaft, dringt als das primäre soziale Ansinnen in alle Verhaltensschichten des Menschen ein: in seine Stellung zur Kultur, zur Freizeit, zum Sport, zur Politik; sie bestimmt die Art der Kindererziehung und prägt die Rolle von Mann und Frau neu; sie wird zur Grundlage des sozialen Selbstbewußtseins und des sozialen Prestiges. Hier erst wird die Soziologie entwickelt, die zu den ökonomischen Lehren eines J. M. Keynes gehört. (Fs)

14a Da die Verbraucherhaltungen ihrer Natur nach vor allem in der Freizeit des Menschen aktuell werden (obwohl sie auch in die Formen der Berufsarbeit eindringen, worüber z. B. das Kapitel <Vom Bankkonto zum Spesenkonto> S. 148 ff einen auch für unsere Verhältnisse einleuchtenden Aufschluß gibt), gilt Riesmans Interesse vor allem einer soziologischen Deutung der Freizeitbeschäftigungen. Wie kein anderer Soziologe der Gegenwart hat er sowohl in diesem Werk als auch in der Aufsatzsammlung <Individualism Reconsidered> (1954) die Formen der <Freizeit-Kultur> untersucht: die moderne Schlagermusik, das Kino und Fernsehen, die Formen der Erholung, das Fußballspiel und seine gesellschaftlichen Zusammenhänge, die soziale Bedeutung der Kitschliteratur, ja, des Lesens bei jung und alt überhaupt usw. Indem er so wichtige Erscheinungen wie das Ineinanderfließen von Arbeit und Spiel im Leben des Erwachsenen, von Schule und häuslicher Freizeit beim Kinde oder das ängstliche Ernstnehmen der Erholung und der Hobbies durch den modernen Menschen und den unkritischen Anspruch der Intellektuellen auf die Freizeit der anderen beobachtet und im kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang deutet, wird ihm der Wandel des Freizeitverhaltens zum entscheidenden Prozeß der sozialen Anpassung des Zeitgenossen an die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur (<Some Observations in Leisure Attitudes> heißt der zentrale Aufsatz in <Individualism Reconsidered>, p. 202 ff, deutsch übersetzt in der Zeitschrift <Perspektiven>, Heft 5,1953). In dieser Betonung und Auswertung der Freizeit oder <Muße> zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart hat Riesman nur einen Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Veblen, dessen Hauptwerk <The Theory of the Leisure Class> (1899) auch als eine Art <Altes Testament> in diese Analysen Riesmans eingegangen ist (und dem er ein eigenes Buch gewidmet hat: <Thorstein Veblen: A Critical Interpretation>, 1953). Alle anderen Soziologen von Hegel und Marx über Max Weber bis hin zu Burnham und sonstigen modernen Popularisatoren klassisch-sozialwissenschaftlicher Einsichten haben die gesellschaftliche Struktur und das soziale Verhalten vornehmlich von der Arbeits- und Berufssphäre des Menschen her gedeutet; mit Riesman und seinem Rückgriff auf Veblen (und vielleicht noch Simmel) scheint sich mir ein neues Grundthema im sozialwissenschaftlichen Verständnis der Zeit durchgesetzt zu haben, was übrigens der unwiderlegbarste Beweis für die Richtigkeit der Riesmanschen Behauptung wäre, daß man Arbeit und Beruf dem <innen-geleiteten> Menschentyp, Freizeit und Konsum aber dem <außen-geleiteten> Zeitgenossen als zentralen Lebenssinn zuzuordnen habe. (Fs)

14b Zu den wertvollsten Einsichten des Buches, auch oder gerade für unsere deutschen Verhältnisse, scheint mir das Aufspüren der <Verbraucherhaltung> im Bereichder Politik zu gehören. Allerdings ergeben sich zunächst in den Äußerlichkeiten, die Riesman in diesem Zusammenhang berichtet, vielleicht die auffälligsten Unterschiede und daher Schwierigkeiten des Verständnisses: Wenn er z. B. die moderne amerikanische Verhaltensform des außen-geleiteten Menschen zur Politik als die des Inside-Dopester bezeichnet, so steht uns für unsere Verhältnisse kein gleichermaßen prägnanter Tatbestand und daher auch Begriff zur Verfügung. Unsere Übersetzung des Inside-Dopester als <Informationssammler> klärt nur mangelhaft die hier gemeinte passive Haltung zum politischen Geschehen, die im bloßen <Verbrauch> von Nachrichten, besonders der nicht allen zugänglichen Kulisseninformationen, ein Gefühl des <Dabeiseins> und der Informiertheit erzeugt und darin eine politische Pseudoaktivität, ein bloßes Interesse, absättigt. Immerhin brauchen wir diesen Typ nur ein wenig zu verallgemeinern, und wir befinden uns in durchaus vertrauten Verhaltenslandschaften: das politische Geschehen des eigenen Landes und die Informationen und Verlautbarungen darüber werden als ein Schauspiel aufgefaßt, das andere aufführen und dem man ganz berechtigt als Zuschauer gegenübersteht, als Zeitungsleser, Wochenschaubetrachter, Radiohörer, vielleicht mit einem lebendigen Interesse, was da geschieht, und einem Rest von eigenem <Standpunkt>, die aber keineswegs so weit gehen, daß man sich zu irgendeiner Aktivität aufgerufen fühlt, zum Beitritt zu einer Partei, zur ehrenamtlichen politischen Mitarbeit oder zur Propagierung eines politischen Programms usw.; das bleibt Sache <der anderen>, deren <Geschäft> die Politik ist. Die ideologische Identifikation oder Aktivität im Bereich der Politik erweist sich als eine spezifische Haltung des <innen-geleiteten> Menschen, die die Quellen einer prinzipiellen Moral voraussetzt, eines Dranges, abstrakte Wahrheiten und Überzeugungen in der Außenwelt zu realisieren. Ein Appell daran gegenüber dem sozial gezähmten Menschen von heute <zieht> einfach nicht mehr. So brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sich bereits auch in Deutschland Partei- und Wahlversammlungen mit Kaffee, Kuchen und Unterhaltungsmusik gratis als zugkräftiger erweisen denn solche mit ideologischen Programmreden. (Fs)

15a Das in unserer politischen und sozialwissenschaftlichen Literatur genügend diskutierte und strapazierte Thema der <Ohne-mich>-Haltung der Deutschen, des <sozialen Defaitismus>, gewinnt hier eine neue Dimension. Ich habe in meinem Buch < Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart> (1953) diese Haltung eines politischen und gesamtgesellschaftlichen Desinteressements als die Folge und Verarbeitung der Erfahrungen einer enttäuschten politischen Mobilisierung durch ein totales System und einer kollektiven politischen Schuldzurechnung auf der einen und der Rückwendung auf die privaten Interessen durch die Notlagen der Zeit auf der anderen Seite beschrieben. Meiner Behauptung, daß sich hier eine tiefgehende dauerhafte Wandlung in der Haltung der Menschen zur Politik und den öffentlichen Angelegenheiten vollzöge, haben meine Kritiker nicht mit Unrecht entgegengehalten, daß die angegebenen Ursachen dafür mit der Zeit ihre Wirksamkeit verlieren müßten, und daher die Dauerhaftigkeit der <Ohne-uns>-Haltung bezweifelt. Riesman sieht nun aber das gleiche politische Desinteressement, die Apathie gegenüber den politischen Appellen und Ansprüchen, in den Vereinigten Staaten wachsen; er nennt diesen Verhaltenstyp <den Gleichgültigen neuen Stils> (the new-style indifferent) und unterscheidet ihn von dem politisch Indifferenten der alten traditionsgebundenen Gesellschaftsform (dessen Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen Geschehen daher rührte, daß die Politik als eine Angelegenheit der Oberschichten über seinen Kopf hinweg vor sich ging) durch folgende Kennzeichnung: Diese politische Apathie neuen Stils <ist im hohen Grade die Gleichgültigkeit von Menschen, die genug von der Politik erfahren haben, um sie abzulehnen, genügend politische Information besitzen, um sie sich vom Leibe zu halten, und genug über ihre Pflichten als Staatsbürger wissen, um sich ihnen zu entziehen> (S. 180). Ausdrücklich erkennt Riesman in dieser Art des politischen Desinteressements die Wahrscheinlichkeit <einer historisch weittragenden Wandlung des politischen Verhaltensstils> (S. 182): je mehr sich die <Verbraucherhaltung> gegenüber der Politik durchsetzt, um so stärker wird sich die Gruppe derer vermehren, die in der Konkurrenz des Angebotes von sonstigen Freizeit- und Konsumgütern die politischen nicht genügend attraktiv findet, um ihre Nachfrage darauf zu richten. (Fs)

16a Übrigens beurteilt auch Riesman diese Entwicklung nickt nur als negativ: obwohl er den hohlen Skeptizismus und Zynismus, der diese Haltung zur Politik begleitet, genauso durchschaut wie wir bei uns, erkennt er doch eine <oft recht nützliche Immunität gegenüber der Politik> als einen Gewinn dieser politischen Teilnahmslosigkeit für die Zeitgenossen an: <sie beraubt sie (zwar) der Fähigkeit zum Enthusiasmus und zu echtem politischem Einsatz, aber sie hilft ihnen auch, sich davor zu schützen, auf viele der politischen Illusionen hereinzufallen, die in der Vergangenheit die Menschen in politische Abenteuer gestürzt haben> (S. 183). Die Dinge haben immer zwei Seiten, und jede soziale Entwicklung bringt gleichzeitig Erwünschtes und Unerwünschtes. (Fs)

16b Diese nüchterne Feststellung drückt übrigens am besten die Werthaltung aus, die Riesman den von ihm analysierten sozialen Wandlungen gegenüber im allgemeinen einnimmt. Er versucht ständig, was die Zukunftsaspekte seiner Analysen betrifft, eine Position jenseits von Optimismus und Pessimismus zu gewinnen; dafür ist heute der alte Fortschrittsglaube weniger ein Hindernis als der sehr moderne Pessimismus der intellektualistischen Kulturkritik. So sehr Riesman also auf der einen Seite die Werte und Leistungen des alten <innen-geleiteten> Lebensideals, soziologisch also des kapitalistischen Hochbürgertums, gegen die leichtfertigen Verdammungsurteile moderner Sozialkritik, Psychologie und sonstiger Reformgesinnungen in Schutz nimmt, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß er bei aller geschichtsphilosophischen Vorsicht in den neuen Strukturen der <außen-geleiteten Gesellschaft eine Epoche neuer sozialer Stabilisierung erblickt. Seine häufigen Hinweise, daß sich diese neueste Gesellschaftsstruktur funktionell wieder den Verhältnissen der stabilen traditions-geleiteten Sozialverfassung annähert, sind kaum anders zu interpretieren. Diese Haltung bedeutet kein bloßes Ja zu dem, was gerade ist; im Gegenteil: <der status quo erweist sich als das illusionärste aller Ziele> (S. 318). Aber diese Haltung richtet sich gegen die intellektuelle Wankelmütigkeit der jeweiligen Zeitgesinnungen, gegen die aus sozialen Depressionen oder Euphorien stammenden spekulativen Überfolgerungen, mit der nüchternen Tapferkeit eines sozialwissenschaftlichen Realismus, der über die Grenzen seiner Erkenntnisweise ebenso Bescheid weiß wie über die aller wissenschaftlichen Determination sich entziehende Ursprünglichkeit und Unzerstörbarkeit des Menschen. So sind alle seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt in der Reichweite und Dauer ihrer Wahrheit begrenzt, dafür aber auf eine Situation und auf einen Adressaten gezielt. In diesem - Riesman nennt es selber so - <moralischen Experimentalismus> einer Sozialwissenschaft, die ihre Methoden, ihre Kategorien, ja, ihre Aussagen wechselt und widerruft, um immer da zu stehen, wo Wahrheiten und Werte <im Verlierern sind, scheint sich mir eine neue wissensmethodische Grundlage unserer Disziplin zu ergeben: indem diese die zeitgeschichtliche Relativität ihrer Aussagen und ihre Mitspieler-Rolle im sozialen Geschehen der Gegenwart so bewußt realisiert, tritt das in unaufhörlicher Selbstkritik sich vor Selbstgerechtigkeit bewahrende und ständig sich erneuernde personale Gewissen des Aussagenden als letzte Garantie der Wahrheit deutlich zutage. Sozialwissenschaftliche Aussagen besitzen letztlich nur so viel Allgemeingültigkeit, wie die in ihnen erscheinende moralische Verantwortlichkeit der Person wissenschaftliche Kommunikation und geistige Gemeinschaft hervorruft. In wissensmethodischer Hinsicht steht es mit der Allgemeingültigkeit der Aussagen der Soziologie also nicht schlechter als mit den ewigen Wahrheiten des Christentums. (Fs)

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