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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität, Religion - Askese; Kulturentwicklung; Unwin: sozialstatistische Untersuchung

Kurzinhalt: Die Ähnlichkeit der Haltungen gegenüber Sexualität und Religion ist immer erkannt ... worden ... Allerdings finden sich in den Lehren von der Sublimation der Triebe zu kulturellen Leistungen vielfach funktionalistische Kurzschlüsse:

Textausschnitt: 2. Die geschlechtliche Askese und ihre Folgen für die Kulturentwicklung

93a Die Analyse eines so zentralen Beispiels der sexuellen Neutralisation eines ganzen Komplexes von Lebensbeziehungen, wie sie in den Inzestverboten erfolgt, zeigt wiederum, was wir schon bei der Regelung der Geschlechtsbeziehungen durch die Ehe sahen, daß die Stabilisierung der Sexualverhältnisse des Menschen gerade aus nichtsexuellen Bedürfnissen der Gesellschaftsordnung erforderlich ist und daß dazu jeweils der gesamte kulturelle und soziale Zusammenhang aufgeboten und ins Spiel gebracht werden muß. Die Labilität und Plastizität des sexuellen Antriebsüberschusses des Menschen erweist sich als eine ständige Bedrohung seiner sozialen Ordnung, welche nicht zuletzt wiederum als existenz- und arterhaltendes biologisches Führungssystem für ihn unentbehrlich ist. Dieser Charakter der dauernden Bedrohung alles Gesetzten und Geschaffenen, der der Geschlechtlichkeit anhaftet, ist wohl einer der Gründe zu ihrer allgemeinen Tabuierung im Alltagsleben der Gesellschaften, einer in ihren komplexen Ursachen außerordentlich schwer zu erklärenden Erscheinung. Der Geschlechtsakt wird überall den Augen anderer entzogen; es ist verpönt, über geschlechtliche Vorgänge und Zusammenhänge zu sprechen; die mit der Sexualität, besonders der Frau, zusammenhängenden organischen Vorgänge wie Menstruation, Geburt usw. gelten als <unrein>; es entwickelt sich ein religiös und sozial gestütztes Schamgefühl gegenüber geschlechtlichen Dingen; all diese Erscheinungen sondern die Geschlechtlichkeit in einem Maße aus dem alltäglichen Leben der Familie und Öffentlichkeit aus, das sie nur noch mit den religiösen Vorgängen und Erscheinungen teilt. (Fs)

94a Die Ähnlichkeit der Haltungen gegenüber Sexualität und Religion ist immer erkannt und z. B. von W. Schubart als ein vollkommener Parallelismus geistvoll analysiert worden (78); ihre weitgehende Verschmelzung kann man darauf zurückführen, daß sowohl in beiden dem Menschen schwer manipulierbare Bedrohungen des Gewohnten und der Alltagsordnung entgegentreten, als auch, daß beide Lebensgebiete ihm die Chance der extremen Lebens- und Gefühlszustände bieten. Beides führt dazu, daß sich gegenüber der Sexualität wie gegenüber den religiösen Verkörperungen übermenschlicher Kräfte, den Toten oder den Gottheiten, die gleichen ambivalenten Haltungen einer Mischung von Scheu, Furcht, Schrecken einerseits und Verehrung, Hingezogenheit und Hingabe andererseits entwickeln. Das Tabu ihnen gegenüber bedeutet also daß man beide Lebensgebiete als Situationen von hoher Gefahr ansieht, in die man sich nur unter strengster Beachtung ganz bestimmter Vorsichtsmaßnahmen und sichernder und versöhnender Praktiken begeben kann. Dabei sind diese Tabus gegenüber der Geschlechtlichkeit und den Gottheiten dadurch gekennzeichnet - worauf Marg. Mead hinweist (23 a) -, daß ihnen äußerliche soziale Sanktionen weitgehend fehlen; gerade weil das Verhalten des Menschen gegenüber diesen Situationen und Kräften niemals ganz durch äußerliche Verbote in Form von Gesetzen oder durch irgendwelche von der Umwelt auferlegte Sitten zu sichern und zu bändigen ist, wird ihnen gegenüber ein Gemütszustand erforderlich, der seine Sanktionen beim Bruch der Tabus aus sich selber produziert, also der Angst, der Schuld und eines dauernden Versöhnungsbestrebens. Diese Tabus sind daher, wie es Marg. Mead exakt formuliert, <selfenforced, independent of all outer agencies, and the punishment is believed to flow automatically from the breach (ebd.). In dieser Form gewinnt die Gesellschaft etwas außerordentlich Wichtiges, nämlich die soziale Kontrolle über weitgehend nicht soziable Verhaltenssituationen, wie sie im geschlechtlichen Erleben ebenso vorliegen wie im religiösen. (Fs) (notabene)

95a Diese Geisteshaltung des Versöhnungsstrebens mit den außeralltäglichen Mächten führt zu ihrer Bekundung im Opfer, das immer einen Verzicht auf Werte des Alltagslebens, insbesondere auf sinnliche Genüsse, ja zuweilen schon eine Vorwegnahme der Sanktionen durch freiwilliges Ertragen von Schmerzen (Geißelung usw.) darstellt. In diesen Verzichten auf Trieberfüllung zur Versöhnung dieser Mächte steht nun das Opfer des Sinnengenusses schlechthin, der Geschlechtlichkeit, bei weitem an erster Stelle. Das Orgiastische, Rauschhafte, dem temperierten Alltagszustand Entrückende der geschlechtlichen Erlebnisse fordert also zur sexuellen Verzichtleistung, zur geschlechtlichen Askese, selbst heraus. Ist diese zunächst eine Methode der Versöhnung mit den übermächtigen Kräften der Gottheit und des Geschlechtes, so erweist sie sich, rückwirkend auf die Handlungsverfassung des Menschen, sehr bald als der Weg, auf dem er diese Mächte in sich selbst, sowohl die sexuellen Triebe wie die Furcht und den Schrecken seines Herzens vor den Gottheiten und Gestorbenen, in die Hand bekommt. In der Askese, besonders der geschlechtlichen, schafft sich der Mensch eine der Trieberfüllung entgegengerichtete Antriebsstruktur, deren Bestand wir als Grundlage aller höheren sozialen und kulturellen Organisation ansehen müssen. Dieser auch in anderen psychischen Vorgängen erkennbare Zusammenhang ist als <Sublimation> der Triebe (Freud), als <asketischer Akt der Außerkraftsetzung des Lebensdranges> (Scheler, 15, S. 51 f.), als <Umkehr der Antriebsrichtung> (Gehlen, 9, S. 398 ff.) daher oft als die konstituierende Leistung des Kulturwesens Mensch beschrieben worden. (Fs)

95b Für das soziale Zusammenleben der Menschen bedeutet die geschlechtliche Askese zunächst eine Methode der Einübung von Verzichtleistungen; sahen wir diese in den von den Exogamiegeboten abhängigen Inzestverboten noch durch den Mechanismus des Gütertausches geregelt und bestimmt, so erreicht die geschlechtliche Askese auf Grund ihres seine Sanktionen selbst produzierenden Gemütszustandes, also mit religiösen Motivierungen, eine viel höhere Soziabilitätsleistung: sie führt nämlich nicht nur zur Ausdehnung und Sicherung der sozialen Kooperation, was die institutionalisierte sexuelle Tauschbeziehung schon leistet, sondern sie ermöglicht eine Konzentration der Antriebsenergien auf überindividuelle Ziele, also z. B. auf soziale Güter und Leistungen, von denen sich der einzelne zunächst gar keine individuellen Triebbefriedigungen oder Vorteile mehr versprechen kann. Die asketische Stauung der Triebenergien und ihre soziale Kanalisierung auf nur wenige derartige Handlungsmöglichkeiten hat sich daher zu allen Zeiten als hervorragendes soziales Führungsmittel erwiesen. Der Zusammenhang von Keuschheit und Gehorsam, der sich schon in den Enthaltsamkeitsregeln der Männerbünde primitiver Gesellschaften und in fast allen religiösen Korporationen nachweisen läßt, hat im christlichen Mönchs- und Nonnenwesen seinen klarsten Ausdruck gefunden und ist noch in der Formierung des preußischen Offiziers durch Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. aufdeckbar, die bewußt, wenn auch in säkularisierter Form, die consilia evangelica der Keuschheit, Armut und des Gehorsams aus dem Ordensrittertum übernahmen. Diese Interessen der Herrschaft an der sexuellen Askese sind vom Kardinal Carpi in seinem Gutachten über die Ehelosigkeit der Priester auf dem Tridentiner Konzil mit den Worten bekannt worden: <Würde man den Priestern gestatten, sich zu verheiraten, so würde das Interesse ihrer Familie, ihrer Weiber und Kinder, sie von der Abhängigkeit gegenüber dem Papste losreißen.> (Fs)

96a Aber die Autoritäts-Chance der Askese liegt noch in anderer Richtung: Insofern das Opfer der sinnlichen Triebbefriedigung sich im allgemeinen Sozialbewußtsein als religiöser oder sittlicher Sollensanspruch höheren Ranges durchsetzt, verleiht jede Form radikalerer Askese ihren Trägern im Gewissen der anderen, triebgebundeneren Schichten eine soziale Autorität, die in keiner äußerlichen Herrschaftsordnung, sondern in der bis in die Vitalschicht hinabreichenden scheuen Anerkennung einer existenziellen Überlegenheit wurzelt. Das Urteil, <die Autorität ist nur asketisch zu garantieren (H.Ball, 70, S. 219), enthält also eine vielschichtige Wahrheit. Die freiwillige Verzichtleistung auf die sozial anerkannten Normalbedürfnisse einer Gesellschaft ist zu allen Zeiten das eigentliche Signum der geistigen Autorität und der Ausweis des höheren menschlichen Ranges gewesen. <Schon in den Taburegeln niederer Stämme taucht die Absicht asketischer Naturüberwindung und Menschenerhöhung auf. Hat ein Stamm mehr und strengere Verbote als andere, so faßt er das als eine Art Adelszeichen auf. Sich etwas versagen zu können, gilt als Merkmal des Vorrangs und erfüllt mit dem Stolz, einer überlegenen Rasse anzugehören. 'Ich bin nicht wie einer dieser elenden Tongas, die Fische essen', lautet die selbstbewußte Äußerung eines afrikanischen Eingeborenen, die Junod mitteilt> (Schubart, 78, S. 174). (Fs) (notabene)

97a Der Zusammenhang zwischen sexueller Enthaltsamkeit oder Askese und kulturellen Leistungen, dessen psychischen Mechanismus die Psychoanalyse weitgehend aufgewiesen hat, ist von J. D. Unwin an einem breiten völkerkundlichen Material von 80 Kulturen sozialstatistisch untersucht worden; aus den Ergebnissen glaubt er eine genaue Entsprechung zwischen dem Grad der vorehelichen sexuellen Enthaltsamkeitsregelung, der Weltanschauungs- oder Religionsform und der sozialen Energie einer Gesellschaft folgern zu können, und zwar in der Art, daß alle deistischen Gesellschaften (Kriterium: das Vorhandensein von Tempelbauten) irgendwann auf vorehelicher Keuschheit bestanden hätten, daß alle manistischen Gesellschaften (die nur die Stufe der Totenverehrung und -kulte erreicht haben) nur zu teilweiser geschlechtlicher Enthaltsamkeit vor der Ehe zwangen, während sich in den von ihm zoistisch genannten Gesellschaften (Kriterium: weder Tempelbau noch Totenkult) völlige voreheliche sexuelle Freiheit nachweisen ließe. So hält er die Beschränkung der sexuellen Freiheit für einen unentbehrlichen vorausgehenden Faktor höherer sozialer und kultureller Energieentfaltung und glaubt, enge Korrelationen zwischen der vorehelichen sowie ehelichen sexuellen Enthaltsamkeit und Freiheit mit dem Ausmaß der sozialen und politischen Energie einer Gesellschaft aufweisen zu können. Die Vorteile einer hohen Kultur genießen und zugleich die sozial erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit abschaffen zu wollen, erscheint ihm in der menschlichen Natur nicht nur unvereinbar, sondern geradezu widersprüchlich zu sein; jede menschliche Gesellschaft sei frei, entweder die Entfaltung großer Energien oder den Genuß sexueller Freiheiten zu wählen; alle Beweise liefen darauf hinaus, daß sie beides nicht länger als eine Generation hindurch vereinen könne (38, p. 412). (Fs)

97b Diese Untersuchung erscheint uns insofern von Bedeutung, als sie auf Grund eines sozialstatistischen völkerkundlich-historischen Vergleiches analytisch zu dem gleichen Urteil kommt, das uns auch die christliche Moral- und Enthaltsamkeitslehre ansinnt. <Die christliche Asketik ist eine Lehre von den Methoden, wie man die Natur und den Trieb überwindet, wie man die Freiheit erobert; das Himmelreich will ja nach den Evangelisten erobert sein. Die generöse Denkart, das Wissen, der Heroismus: die ganze Hierarchie ruht auf dem Prinzip der Askese. Die hohen Dinge sind kostspielig, teuer. Sie kosten die Selbstüberwindung, wenn nicht die Zerschmetterung des ganzen selbstischen Menschen. Man kann sich nicht im Schlaraffenland und in der Civitas Dei zugleich aufhalten> (Ball, 70, S. 208). (Fs)

98a Allerdings finden sich in den Lehren von der Sublimation der Triebe zu kulturellen Leistungen vielfach funktionalistische Kurzschlüsse: am auffälligsten vielleicht in der Anschauung, daß künstlerische, religiöse und sonstige kulturelle Betätigungen und Leistungen nur Ersatzbefriedigungen etwa der in ihrer direkten Abfuhr verhinderten sexuellen Antriebe wären. Diese Auffassung verkennt, daß sich in diesen Sublimationen nicht nur die Ziel- und Gegenstandsbesetzung der Triebe verschiebt, sondern daß das Eingehen auf die Eigengesetzlichkeit der neuen Handlungsmöglichkeiten eine Veränderung der vitalen Bedürfnisse selber, also z. B. eine echte Entsexualisierung der Antriebsverfassung, nach sich zieht. Wo wir, wie in manchen Formen des religiösen <Minnedienstes>, der Madonnenverehrung oder des pietistischen <Verlöbnisses mit dem Seelenbräutigam> religiöse Ersatzbildungen für sexuelles Begehren oder bloße Verdrängungen offensichtlich erotischer Konflikte aufweisen können, handelt es sich immer um mindere Manifestationen dieser kulturellen Bereiche, deren hysterische und neurotische Komponente gerade darin zu erblicken ist, daß hier die vitale Antriebsverfassung der Menschen den von ihnen akzeptierten sittlichen und kulturellen Sollensansprüchen und Verpflichtungen noch nicht nachgewachsen ist. (Fs)

98b Neben diesem verhältnismäßig leicht nachweisbaren Fehler eines kurzschlüssigen biologischen Funktionalismus in der Betrachtung des Verhältnisses von Sexualität und Kultur findet sich oft, und zwar vorwiegend gerade in den sozialwissenschaftlichen Theorien über geschlechtliche Enthaltsamkeit und Askese, ein als kurzschlüssiger kultureller Funktionalismus zu bezeichnender Denkfehler; da auch unsere Ausführungen, infolge ihrer Kürze vielleicht unvermeidlich, diese Verkennung der Umwandlungsgesetzlichkeiten sexueller Aktivität in kulturelle und soziale Leistungen nahelegen, wollen wir zum Schluß darauf noch eingehen. Wir zielen mit dieser kritischen Bemerkung auf die Auffassungen, die der <Umkehr der Antriebsrichtung>, also z. B. der sexuellen Enthaltsamkeit und Askese, unmittelbar eine soziale oder kulturelle Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit als Intention unterlegen. Wenn wir bei Pareto (§§ 1163-1208) den Asketismus als eine Hypertrophie sozialer Instinkte interpretiert finden, die in ihrer Übersteigerung den sozialen Zweck aus den Augen verloren hätten, so liegt dieser Ansicht der Gedankengang zugrunde, daß der geschlechtlichen Askese und den sonstigen Verzichtshaltungen gegenüber sinnlichen Genüssen primär der Zweck einer höheren Soziabilität oder kulturellen und geistigen Leistung innewohnt, diese Disziplinierungen sich später aber als Antriebe isolieren und verselbständigen können und dann ins sozial Zwecklose oder gar Schädliche umschlagen. (Fs)

99a Es scheint sich aber gerade umgekehrt zu verhalten: Indem die Askese die ursprünglichen Triebenergien hemmt und staut, ruft sie einen leiblichen und seelischen Zustand hervor, der zwar dem rauschhaften Trieberleben invers ist, aber genau wie dieses der Person eine außeralltägliche Bewußtseinskraft und Erlebensqualität bietet; gerade darin, daß sowohl die Trieberfüllung wie ihre Askese in der Ekstase münden, liegt überhaupt die Chance, daß die vitalen Bedürfnisse dieser Inversion der Antriebsrichtung voll nachwachsen und daß es dann höhere Begierden gibt, die für die Person genau so triebhafter Selbstzweck sind wie die primäre Trieblust. Indem <das Bedürfnis nach Protrahierung des außeralltäglichen Innenzustandes> (Gehlen, 55 c, S. 336 u. 55 b, S. 56 f.) auch diese Antriebsinteressen aus sich selbst heraus stabilisiert und steigert, sind die religiösen, künstlerischen oder geistigen Betätigungen, die darauf beruhen, primär jeder sozialen oder kulturellen Funktions- und Zweckverhaftetheit entzogen; das Gewissen des Anachoreten, das Ingenium des Künstlers, der Geist des Gelehrten, sie alle empfangen ihre Verpflichtung unabhängig von der Konstellation ihrer Umwelt und ihrer zweckmäßigen Rolle darin aus der in einer <protrahierten Askese und Ekstase zugleich> bis ins Tiefste veränderten Natur ihrer Triebe. (Fs) (notabene)

99a Allerdings bemächtigen sich nun, sind diese neuen Handlungsmöglichkeiten und Antriebsformen in ihrem vitalen Selbstwert einmal vorhanden, die Bedürfnisse des sozialen und kulturellen Zusammenhanges dieser Verhaltenschancen und erfüllen sie in sekundärer Zwecksetzung mit gesellschaftlichen Funktionen und Nützlichkeiten. So wird etwa die sexuelle Askese, wenn sie einmal aus der bloßen Verneinung des Bedrohlichen der orgiastischen Ekstase in den Rang einer dauerhaften autonomen Antriebsrichtung aufgestiegen ist, ihrer primären sozialen Zwecklosigkeit oder Schädlichkeit entkleidet und zum Mittel der Disziplinierung. Wir können dies deutlich verfolgen, wenn wir die Rolle der Askese im frühchristlichen Anadioretentum mit ihrer Bedeutung für das mittelalterliche Mönchtum der Benedictiner oder für den Jesuitenorden vergleichen. Erst in diesem Stadium der Einschmelzung der asketischen Antriebsrichtung in die sozialen und kulturellen Funktionszusammenhänge erfolgt dann ihre Reglementierung, Ritualisierung, Institutionalisierung usw., d. h. jene Formierung in zweckrationale Verhaltensschemata, in der sich die Kultur und die Gesellschaft den Dienst der höheren Begierden sichern. Die Zwecke der Kultur wachsen den höheren Begierden nach, die selbst erst aus der sozialen Formierung und Neutralisation der unteren entstanden sind. (Fs)

100a Stabilisiert sich diese Hierarchie der Akte in der Antriebsstruktur der Person und im kulturellen Zusammenhang, so übernehmen die höheren Bedürfnisse immer selbständiger die Führung der unteren und entlasten diese von der Strenge ihrer Formierung: Wird die geschlechtliche Askese spiritualisiert und rationalisiert, so erwächst daraus ein eigenes Bedürfnis nach einer Disziplin geistiger Art, das die Härte des ursprünglichen Kampfes gegen die Geschlechtlichkeit mäßigen kann, da es von vielerlei persönlichen und kulturellen Antriebsschichten her gestützt und gespeist wird. So tritt in der christlichen Tradition die Aufgabe der Askese als eines ständigen Kampfes gegen den in der Versuchung durch Teufel und Dämonen erlebten Ansturm der sexuellen Affekte zurück gegenüber der in methodischen Übungen zu erreichenden Disziplinierung des Willens im Dienste geistiger und sozialer Ziele, und ist schließlich, wie im Offizierstum und Gelehrtentum, von den ursprünglichen religiösen Motivierungen völlig ablösbar. Dann bleibt die institutionelle Verhaltensstütze des Zölibats noch eine Weile in immer lässigerer Form aufrechterhalten, wie wir es im preußischen Offizierskorps oder im nachklerikalen Gelehrtenwesen feststellen können - den Sprachforschern, Humanisten und Logikern wurde erst 1808 durch Napoleon das Verheiratungsrecht zugebilligt -, und zerbröckelt dann gegenüber der (wenigstens auf eine gewisse Epoche hin stabilisierten) selbstverständlichen Sicherheit, mit der der Vorrang der geistigen, kulturellen und höheren sozialen Bedürfnisse sich im Interessenhaushalt der jeweiligen Funktionsgruppen der Gesellschaft zur Geltung bringt. (Fs)

100b Von dieser durch die geschlechtliche Askese und ähnliche Neutralisationen und Sublimierungen primärer Triebe erreichten Höhe und vitalen Eindringlichkeit der Kultur werden dann auch die in den erotischen Beziehungen einer Gesellschaft entwickelten Verhaltensformen und -bedürfnisse geführt und bestimmt. Der in unserer Kultur mit der Liebe verbundene Lebensanspruch der Person gründet sich nicht nur, was wir schon nachwiesen, auf die in der geschlechtlichen Beschränkung der absoluten Monogamie entwickelten Gefühlsbedürfnisse, sondern ist ebenso auf eine wenigstens partielle Askese aufgebaut, die aus den Klöstern kommt; Abälard und Heloise sind mit Recht als das klassische Liebespaar unserer modernen Kultur begriffen worden. Die Dramatisierung des Liebeswerbens, die Verwirklichung von Geschmack und höherer Lebensart, von Zartheit und Tiefe in den erotischen Beziehungen, die Ästhetisierung der Liebe, die aus ihr eine raffinierte Kunst des Lebensgenusses machte, all diese Formen des modernen Liebeslebens setzen die Verfügung über eine Haltung voraus, die das triebhafte Sexualziel distanziert hat. Die Komplexität einer Kultur und der in ihr vorhandenen Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten entspricht der Komplexität und Hierarchie ihrer Konventionen, Hemmungen und emotionalen Verzichtleistungen; in diesem Sinne können wir das Wort Leon Bloys, daß die Geistigkeit des Mittelalters auf zehn Jahrhunderten der Ekstase aufgebaut war, dahin erweitern, daß die Möglichkeit und Wirklichkeit der Liebe in unserer Zeit auf Jahrtausenden der Askese beruht. (Fs)

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