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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Neutralisation der Sexualität; Inzestverbot - Exogamie; Freud, Levi-Strauss; Geschwisterehe (Ägypten

Kurzinhalt: Das Inzestverbot ist nur die negative Seite eines Sozialgebotes, der Exogamie, das in allen Gesellschaften erforderlich wurde, um die über die familiäre Einheit hinausreichende soziale Struktur ... zu sichern

Textausschnitt: 1. Die Inzestverbote

88a Der in alle Lebensgebiete und menschliche Verhaltensformen eindringende sexuelle Antriebsüberschuß mit seiner praktisch unendlichen Verschiebbarkeit sexueller Zielsetzungen ist in den sozialen Regulierungen, die wir bei der Institutionalisierung der Geschlechterrolle und der sozialnormierenden Funktion der Ehe betrachtet haben, im wesentlichen jeweils nur kanalisiert, d. h. auf bestimmte, sozial zugelassene Verhaltensformen und -ziele beschränkt und hingeleitet worden; neben diesen sozialen Formierungen der Geschlechtsbeziehungen gibt es nun in jeder Kultur gewisse Lebensbereiche und menschliche Beziehungen, an deren völliger Entsexualisierung die Gesellschaft ein großes Interesse hat. Hier treten dann die sozialen Normierungen mit der Absicht einer völligen Verneinung und Neutralisation aller geschlechtlichen Antriebe und Zielsetzungen innerhalb dieser Verhaltensbereiche auf. Umfang und Raum dieser sexuell neutralisierten Zonen sind in den Kulturen sehr verschieden; immer und in allen Gesellschaften gehören aber die unmittelbarsten Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der biologischen Familie außer der Gattenbeziehung zu den für sexuelle Betätigung am strengsten gesperrten personalen Zuordnungen. (Fs)

88b Das Verbot des Inzestes oder der Blutschande trifft also zunächst die drei primären Verwandtschaftsbeziehungen Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester, greift aber in vielen Kulturen auf weitere, entferntere Personalbeziehungen über, sei es, daß es bestimmte Grade oder gar die Gesamtheit der Verwandtschaft entweder nur väterlicher oder nur mütterlicher oder beidelterlicher Abstammungsrichtung einbezieht, sei es, daß die ganze soziale Gruppe des Stammes oder Clans auch ohne Nachweis der Abstammungsfolge des einzelnen für ihn als sexuell neutralisierter Verwandtschaftsbereich erklärt wird. Bezeichnen wir also den Inzest als die verbotene Geschlechtsbeziehung zwischen Blutsverwandten, so müssen wir uns darüber klar sein, daß der Begriff der Blutsverwandtschaft hier keineswegs ein biologisches Datum ist, sondern weitgehend der sozialen Regulierung unterliegt; in manchen primitiven Gesellschaften genügt ein gleicher oder ähnlicher Name oder ein gleiches, oder ähnliches Totemtier, um daraus eine die Heiratsbeziehungen hemmende Verwandtschaft abzuleiten, so daß gerade an der Kasuistik der Inzestverbote primitiver Gesellschaften sehr deutlich wird, daß das soziale Verbot der Heirat primär, seine Begründung als Blutsverwandtschaft aber durchaus derivativ und verhältnismäßig beliebig ist. (Fs)

89a Das universale Vorkommen des Inzestverbotes gegenüber den Verwandtschaftsgraden der engeren biologischen Familie in allen historisch erkennbaren Gesellschaftsverfassungen hat dazu geführt, dieser sozialen Regelung eine biologische Ursache zu unterlegen; allerdings kam man dabei zu durchaus gegensätzlichen Auffassungen: Einmal wurde eine instinktiv gesicherte Inzestscheu des Menschen angenommen (z. B. Westermarck), die sich in diesen sozialen Verboten in allen Kulturen einheitlich geäußert hätte; zum anderen postulierte man gerade einen allgemeinen Inzesttrieb und erklärte, daß alle anfänglichen Formen der menschlichen Sexualbeziehungen inzestuöser Natur gewesen seien (z. B. Marcuse) und daher alle Gesellschaften, um die auf die Dauer biologisch schädlichen Folgen inzestuöser Verbindungen zu vermeiden, zu ihrer strengen Unterdrückung genötigt hätten. Diese Erklärungsversuche sind beide unbegründet, und zwar vor allem deshalb, weil sie verkennen, daß die Inzestverbote gar nicht primär den Interessen und Bedürfnissen der Sexualregulierung entspringen. (Fs)

89b Die Inzestverbote sind in jedem Falle abhängig von den Exogamieregelungen, die eine Gesellschaft aufstellt, d. h. von den Geboten, außerhalb einer bestimmten Gruppe oder Sozialbeziehung zu heiraten, deren negative Seite dann das Verbot ist, innerhalb dieser Gruppe den Ehepartner zu suchen, das sich sekundär als das Verbot der Geschlechtsbeziehungen überhaupt innerhalb dieses Umkreises auswirkt. Das Inzestverbot ist nur die negative Seite eines Sozialgebotes, der Exogamie, das in allen Gesellschaften erforderlich wurde, um die über die familiäre Einheit hinausreichende soziale Struktur und kooperative Verbindung zu erreichen und zu sichern. (Fs) (notabene)

89c Solange eine Gesellschaft noch keine höher entwickelte politische Organisation hat, die von eigenständigen politischen, produktionstechnischen usw. Interessen und Haltungen getragen wird, bilden die Verwandtschaftsbeziehungen der verschiedenen biologischen Familien fast immer die Grundlage auch der überfamiliären Sozialstruktur dieser Gruppe oder Gesellschaft. Jede Familie wie die gesamte Gesellschaft hat also ein Interesse daran, daß diese Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der größeren sozialen Gruppe oder Einheit als der der biologischen Familie immer erneut geknüpft und verfestigt werden, da darauf so wichtige Verpflichtungen wie Hilfe im Kampf, Beistand im Rechtsstreit, Kooperation im Ackerbau, bei der Jagd, ja die gesamte überfamiliäre Rechts-, Wirtschafts- und Herrschaftsordnung überhaupt beruhen. Eine Heiratsregelung, die eine Verehelichung innerhalb der biologischen Familiengruppe erlaubte, würde diese dauernde Integration der höheren sozialen Einheit und Kooperation verhindern, die Familie sozial isolieren, sie ihrer außerfamiliären Verbündeten und Hilfskräfte berauben und damit den Bestand der Familie in der Auseinandersetzung mit anderen familiären Gruppen gefährden. Die Blutsverwandtschaft der biologischen Familie, die im Inzestverbot die Grundlage des Ehe- und Geschlechtlichkeitshindernisses bildet, ist also wesentlich als die Intimität einer sozialen Solidarität begriffen, die es aus Gründen einer höheren Soziabilität ständig zu überschreiten und zu verlassen gilt; so wird auch verständlich, weshalb der Begriff der Blutsverwandtschaft und damit das Inzestverbot durchaus auf beliebige Grade der biologischen Abstammung oder gar auf biologisch unabhängige Gruppierungen ausdehnbar sind, wenn ein intimer sozialsolidarischer Zusammenhang mit ihnen auch ohne Anknüpfung und Bestätigung durch neue Heiratsbeziehungen gesichert erscheint1. (Fs) (notabene Fußnote)

Fußnote:
1 Wie sehr der Mensch primitiver Gesellschaften in diesen Exogamiegeboten die Chance zu höherer sozialer Solidarität und Kooperation sieht und wie wenig zuweilen die damit verbundenen sexuellen Einschränkungen überhaupt beachtet werden, zeigt Marg. Mead (23 b, p. 67 f.) in sehr anschaulicher Weise: In ihren Untersuchungen bei dem Südseestamm der Arapesh hatte sie außerordentliche Mühe, ihren Gewährsleuten überhaupt den Tatbestand des Inzests klarzumachen; als es ihr endlich gelang, den älteren Männern hypothetisch die Frage zu stellen, was sie denn sagen würden, wenn ihr Sohn ihre eigene Tochter heiraten wolle, erhielt sie die Antwort: <Was, du willst deine Schwester heiraten, was ist denn los mit dir? Willst du denn gar keinen Schwager haben? Begreifst du nicht, daß, wenn du eines anderen Mannes Schwester heiratest und ein anderer deine Schwester, du dann zwei Schwäger hast, während du, wenn du deine Schwester heiratest, gar keinen hast? Mit wem willst du denn jagen, mit wem deinen Garten bebauen und wen willst du besuchen gehen?> So kommt die Verfasserin zu dem Urteil, daß <der Inzest bei den Arapesh keineswegs mit Schrecken oder Abscheu gegen eine Versuchung des Fleisches betrachtet wird, sondern als eine sehr dumme Ablehnung der Annehmlichkeit, durch eine Heirat die Anzahl der Personen zu vermehren, denen man liebe und Vertrauen entgegenbringen kann.>

90a Diese Einsicht in den primären Gebotscharakter der Exogamie zu Gunsten einer höheren Soziabilität und der erst daraus abgeleiteten Bedeutung der Inzestverbote als Neutralisation der Geschlechtsbziehungen unter Blutsverwandten hat neuerdings vor allem Cl. Levi-Strauss in einem umfangreichen Werk belegt (75); er leitet aus der Institutionalisierung des Frauentausches und dem damit auf Gegenseitigkeit erzwungenen Verzicht der Familien auf den in primitiven Gesellschaften sowohl biologischen wie sozialen Wertbesitz par excellence, die Frau, die ganze rationalisierte Kasuistik primitivgesellschaftlicher Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen, Exogamie- und Endogamieregeln ab. (Die Endogamieregelungen, also die Gebote, nur innerhalb einer gewissen sozialen Gruppe zu heiraten, sind gegenüber der Exogamie sekundär und treten erst bei höheren Differenzierungs- und Kommunikationsmöglichkeiten einer Gesellschaft als soziale Bedürfnisse auf, haben auch viel seltener zu einer so tiefgehenden sozialen Neutralisierung von Geschlechtsbeziehungen mit den außerhalb der endogamiegebotenen Heiratsgruppen stehenden Personen geführt, wie wir es bei den Exogamiegeboten sehen). Allerdings haben schon vor Levi-Strauss wesentliche Autoren auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen, so auch Freud (52 a), wenn er sieht, daß die <Inzestscheu> einer Kulturforderung der Gesellschaft entspricht, die sich damit <gegen die Aufzehrung von Interessen durch die Familie wehren muß, die sie für die Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht>, oder W. Koppers mit seinem Urteil: <Wenn das Gesetz der Exogamie nicht immer wieder den einzelnen genötigt hätte, aus dem engeren Kreis der eigenen Familie herauszutreten, nie wären auch jene größeren gesellschaftlichen Verbände entstanden, die doch auch notwendig sind zur Entwicklung des großen Gesamtgebäudes der menschlichen Kultur> (74, Seite 120). (Fs)

91a Mit der Einsicht, daß starke nichtsexuelle, soziale und kulturelle Interessen die Inzestverbote erzwungen und stabilisiert haben, gewinnt ein großer Teil der bisher als Ursachen der Inzesthemmungen behaupteten unmittelbaren sexuellen und erotischen Motivationen überhaupt erst Sinn und Wahrheitsgehalt. Wenn von Freud, B. Seligman u. a. einerseits Sexualneid und Eifersucht des Vaters, der die inzestuösen Wünsche der Söhne unterdrücken will und sie so zu Geschlechtsbeziehungen außerhalb der biologischen Familie zwingt, als Ursache der Inzestverbote angenommen werden, andererseits Briffault, der von der mutterrechtlichen Familienverfassung als gesellschaftlichem Urzustand ausgeht, die bewahrende erotische Liebe und Eifersucht der Mutter gegenüber ihren Söhnen, die diese oppositionell zum Geschlechtsgenuß außerhalb der Familie führt, als Erklärungsgrund heranzieht, so wird von beiden Theorien verkannt, daß der Sexualneid bzw. inzestuöse Wünsche und die Eifersucht darauf zu ihrer Entstehung eine Hemmung voraussetzen, die Sexualbedürfnisse nicht in dieser Weise innerfamiliär befriedigen zu können, diese Hemmung allerdings, wenn sie einmal besteht, nun mit neuen und in diesem Falle unmittelbar sexuellen Motiven dialektisch verstärken. (Fs)

92a Am deutlichsten wird dieser Zirkelschluß der unmittelbar sexuellen Erklärung der Inzesthemmungen in der von Westermarck Malinowski (76 b, p. 251) u. a. vorgetragenen Theorie, daß das intime familiäre Zusammenleben von Eltern, Kindern und Geschwistern sowie die Erziehungs- und Fürsorgesituation der Eltern gegenüber den Kindern eine Gefühlsverfassung untereinander erzeugen, die erotische Bedürfnisse und Liebesleidenschaften innerhalb der Familie normalerweise nicht entstehen lassen; hier ist ganz deutlich der Bestand eines sexuell neutralisierten Familienlebens als Ursache eben der Neutralisation begriffen. Allerdings muß man betonen, daß auf der Basis einer aus höheren Soziabilitätsinteressen entstandenen sexuellen Neutralisation der familiären Beziehungen dann in diesen auch jene Gefühlshaltungen der rein fürsorgenden und selbstlosen Liebe, der Erziehungsverantwortlichkeit, ja, ein ganz neues sittliches System entwickelt werden können, die mit ihren nun unmittelbar sexualmoralischen und -normierenden Ansprüchen die Inzestverbote durchdringen und unterbauen. (Fs)

92b So sehr also in einer familiengebundenen Gesellschaftverfassung die Exogamiegebote und die daraus folgenden Inzesthemmungen und -sanktionen erforderlich sind, um eine höhere soziale Organisation und die damit verbundenen politischen und kulturellen Haltungen zu erreichen und zu stabilisieren, so verlieren sie doch ihre soziale Bedeutung weitgehend, sobald diese höheren Schichten der Kultur und Gesellschaftsorganisation genügend eigenständige Antriebsstrukturen und Motivationen für ihren Bestand erzeugt haben. In unserer modernen Gesellschaft, in der weitere Verwandtschaftsbeziehungen keinerlei sozialtragende Bedeutung mehr haben und die engeren Familienbeziehungen in ihrer sozialen Funktion sehr beschränkt worden sind, verlieren die Inzestverbote daher ihre sozialvitale Bedeutung, schrumpfen an Umfang auf den engsten familiären Kreis ein und unterliegen auch im Vergleich zu früher geringeren Sanktionen. Zwar kann sich die Inzestscheu gegenüber primären Verwandten der unmittelbaren biologischen Familie heute auf die in jahrtausendelanger Tradition entwickelten höheren familiären und sozialen Haltungen stützen und bedarf daher, wo diese normalen sittlichen und kulturellen Bedürfnisse unseres Zeitalters voll aufgenommen werden, kaum noch der Sanktion. Aber der Grad der Blutsverwandtschaft, bis zu dem Inzestverbote aus sozialen Gründen für erforderlich gehalten werden, ist auch in unserer Kultur erheblich herabgesetzt worden: Noch Papst Gregor I. (590-604) erklärte Blutsverwandtschaft bis in den 7. Verwandtschaftsgrad für ehehindernd, wogegen schon das Laterankonzil von 1215 sie auf den 4. Verwandtschaftsgrad ermäßigte. In einer von abstrakter Sozialbeziehungen getragenen Gesellschaft, in der die Familie wesentlich nur seelische Intimitätsgemeinschaft ist, bleibt nur noch der sexual-neutralisierende Charakter der Inzestverbote sichtbar, auf den sich daher zunächst auch alle Erklärungsversuche gerichtet haben. (Fs)

93a Ein letztes Wort noch zu den Geschwisterehen oder gar Heiraten zwischen Elternteilen und Kindern, die wir aus der Geschichte der Herrscherhäuser in Ägypten, in Persien (Artaxerxes), in Siam, Birma und Hawaii oder bei den Inkas, den Phöniziern usw. kennen; diese Beispiele werden sehr häufig als Beleg dafür angeführt, daß es durchaus entwickelte Gesellschaften gegeben habe, die die Inzestverbote nicht kannten. Diese Auffassung übersieht, daß es sich hier um die soziale Ausnahmestellung der Herrscher handelt, die aus den gleichen Motiven, aus denen die Inzestverbote für die breite Bevölkerung ihrer Untertanen gelten, zur Durchbrechung der Inzestschranken in der Geschwisterehe usw. geführt werden: Ein autokratisches, sich in seiner Ökumene als einzig betrachtendes, vielfach göttlichen Rang genießendes Herrscherhaus würde in einer Verwandtschaftsintegration mit seinen Untertanen kaum an sozialer Kraft gewinnen, sondern eher die vorhandene gefährden und einbüßen, und bestätigt daher gerade in der inzestuösen Ehe seine soziale Herrschaftsstellung und Einzigartigkeit. Sobald es mehrere Herrscherhäuser in einer Staaten- und Völkergruppe gibt, übernehmen auch die Herrscher die familiären Exogamiegebote, beschränken sie aber aus den gleichen sozialen Bedürfnissen, die zur Inzestehe geführt haben, durch eine strenge standesgemäße Endogamie; R. Fortune (72) macht in diesem Zusammenhange die kluge Bemerkung, daß <eine größere Ähnlichkeit zwischen der morganatischen Ehe eines Königs und der inzestuösen Heirat eines Untertanen besteht als zwischen der inzestuösen Heirat beider, denn eine morganatische Ehe verfehlt eben auch, das von ihr erwartete Bündnis zwischen sozialen Gruppen zu schaffen, wie es die Inzestehe des Untertanen tut>. (Fs)

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