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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Homosexualität: Vergesellschaftung; Toleranz - Minderheitengruppe

Kurzinhalt: Im übrigen weist Kardiner mit Recht darauf hin, daß die Forderung der sozialen Toleranz gegenüber der Homosexualität in keiner Weise das mit ihr aufgeworfene Problem löst, weilweil sie an den Symptomen einer sozialen Erkrankung, nicht aber ...

Textausschnitt: 84b Wir haben diesen Gesichtspunkt, wie weit soziale Verhältnisse und Konstellationen verursachend sind für die Verfehlung des gegengeschlechtlichen Partners und für die Prägung homosexueller Verhaltensformen, ausführlicher behandelt, da er in der sexualwissenschaftlichen Forschung etwas vernachlässigt wird; die in entgegengesetzter Richtung laufenden Vorgänge der Vergesellschaftung Homosexueller auf Grund ihrer Veranlagung und ihres geschlechtlichen Verhaltenshabitus sind kürzer darzustellen. Das wesentlichste Kennzeichen der sich aus dem Streben nach homosexuellem Lustgewinn ergebenden sozialen Kontakte scheint deren Flüchtigkeit zu sein. Ihr mangelnder sozialer Tief gang, ihre zeitliche Kürze, häufig auch Anonymität, ihre menschliche Unverbindlichkeit werden von allen Fachleuten betont:

<Homosexuelle Beziehungen sind sehr oft völlig unverbindlich bleibende zu wechselnden Partnern, also kennzeichnend für die sexuelle Vereinsamung, die im wesentlichen der Ausdruck völliger Autoerotik ist> (Bürger-Prinz, 47 c, S. 876). <Trotzdem wird man als Gutachter, Arzt und Psychotherapeut kaum auf Fälle von länger fortgesetzter homosexueller Betätigung stoßen ohne Tendenz zu gehäuftem, eigentümlich gemütskaltem Objektwechsel. Mehr als noch beim Durchschnittsmenschen wechselt das Sexualobjekt bei gleichbleibendem Sexualziel> (Friedemann, 51, S. 74). <Ein bemerkenswerter Wesenszug der homosexuellen Vereinigungen besteht darin, daß sie gewöhnlich von Männern eingegangen werden, die einander nicht kennen und die ihre Beziehungen nicht fortzusetzen suchen. Die meisten dieser Erlebnisse sind Zufallsbegegnungen und 'Eine-Nacht-VerhäItnisse', was bedeutet, daß der Phantasiewert der Erfahrung das Wesentliche ist, nicht die dauerhafte menschliche Beziehung, die die meisten Mann-Frau-Verhältnisse kennzeichnet> (Kardiner, 60 b, S. 185). (Fs)

85a Wir kennen aber durchaus lockere Gruppenbildungen von gleichgeschlechtlich sich Betätigenden in Clubs, ständigem Lokalbesuch usw., die sich dann zuweilen auch mit künstlerischen und ähnlichen außersexuellen Zielen verbrämen; allerdings ist der versachlichende, zu kulturellen Leistungen führende Wert dieser Sexualbeziehungen nie sehr hoch und mit den Antriebssteigerungen und -Umsetzungen normaler Liebesverhältnisse nicht zu vergleichen. In Einzelfällen finden wir länger dauernde Paarbeziehungen, häufig mit Hörigkeits-Charakter von einer Seite. Als Grundmotiv zu diesen etwas festeren Gruppenbildungen scheint aber weniger die homosexuelle Verbindung als solche, sondern eher die aus ihr folgende menschliche und soziale Isolierung und Einsamkeit zu wirken. Der gesellschaftliche, in vielen Ländern auch der gesetzliche Druck der sozialen Umwelt auf diese Außenseiter, die Furcht und das Streben, mit seiner abweichenden Persönlichkeitsstruktur in einer als feindlich empfundenen Welt nicht allein zu stehen, und schließlich oft die Reaktion auf die Tatsache, sich einmal als Homosexueller exponiert zu haben, veranlassen also primär das gruppenhafte Zusammensintern solcher Abnormen. G. Th. Kempe hat daher die Verfassung dieser so zustande kommenden sozialen Gebilde mit Recht als <Minderheitengruppe> bezeichnet: sozial bekannt, aber nicht anerkannt (61); aus diesem Zustande einer Sozialisierung aus Negation lassen sich die meisten ihrer sozialen Reaktionen ableiten. (Fs)

86a Die große Mehrzahl der zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen Neigenden aber bringt, um der gesellschaftlichen Ächtung und ihren diskriminierenden Folgen für das private und berufliche Dasein zu entgehen, das Opfer, wenigstens auf ständige homoerotische Lustsuche zu verzichten; der Wille, sich trotz des Bewußtseins abnormer Veranlagung den gesellschaftlichen Normen einzupassen, dieses reine Sozialstreben ohne korrespondierende Vitalgrundlage, kann in Einzelfällen zu großen Leistungen auf künstlerischem, wissenschaftlichem oder gesellschaftlichem Gebiet oder auch zum Eingehen einer Ehe und zur Familiengründung mit peinlichster Erfüllung der sozialen Pflichten des Ehemanns und Vaters führen. Die seelischen Schwierigkeiten und Spannungen einer solchen Existenzweise sind nicht zu übersehen; das innerlich Übersteigerte und Verkrampfte ihrer sozialen Normerfüllung und Verhaltensstilisierung wird von der Umwelt oft unklar empfunden und durch ihre Reserviertheit noch gesteigert. (Fs)

86b Es fehlt daher nicht an wohlmeinenden Anregungen und Bemühungen, die homoerotische Beziehung, sofern sie nicht durch Verführung Jugendlicher usw. jemanden schädigt, von der gesellschaftlichen Diskriminierung zu befreien und ihr als einer geschlechtlichen Minderheitenhaltung die soziale Anerkennung zu gewähren (vgl. Kempe, auch Kinsey u. a.). Dabei fragt es sich allerdings, ob sich solche Versuche einer gesellschaftlichen Normierung der Homosexualität bewußt sind, daß damit die sozialen, kulturellen und geistigen Grundordnungen unserer geschichtlichen Tradition in noch viel stärkerem Maße erschüttert würden, als es bereits durch die Wandlungen im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander geschehen ist. Die häufigen Hinweise auf die soziale Anerkennung - möglicherweise war es auch nur eine Duldung - der Homosexualität in Epochen der griechischen und japanischen Geschichte gehen insofern fehl, als sie verkennen, daß in diesen Gesellschaften die heterosexuelle eheliche Geschlechtsbeziehung nicht den Wert der einmaligen, personalen Liebesbeziehung gewonnen hatte, den sie in der christliehen Tradition des Abendlandes unaufgebbar erhalten hat und in der sie in eben den von uns auf S. 72 f. geschilderten funktionalen Stufungen zur Grundlage unserer Tradition und Kultur geworden ist. Im übrigen weist Kardiner mit Recht darauf hin, daß die Forderung der sozialen Toleranz gegenüber der Homosexualität in keiner Weise das mit ihr aufgeworfene Problem löst, weil sie an den Symptomen einer sozialen Erkrankung, nicht aber deren Ursachen kurieren will (60 b, S. 163, 192); aus diesem Grunde bedürfen gerade die verursachenden sozialen Faktoren einer steigenden Homosexualität der größeren Aufmerksamkeit. Auch in der Frage der Toleranz gegenüber der Vielfalt geschlechtlicher Beziehungen und Verhaltensformen bedürfte es der Klärung, daß diese nur in der Ausdehnung des normfreien, der privaten Intimität anheimgestellten Raumes des Sexualverhaltens bestehen kann, nicht aber in einer sozialen Norm-Anerkennung des Abwegigen (vgl. S. 51 f.). Allerdings wäre auch unter diesem Gesichtspunkt eine Überprüfung der gesetzlichen Strafbestimmungen über gleichgeschlechtlichen Verkehr durchaus zu erwägen.) (Fs)

87a Nun ist unsere gegenwärtige Gesellschaft durch allgemeine Normenerweichung ohnehin bereit, auch auf sexuellem Gebiet vieles zu übernehmen, was unter anderen Voraussetzungen und sozialen Umständen als abnorm erschien. Die breite Popularisierung des psychologischen Selbst- und Fremdverständnisses hat gerade gegenüber Abnormitäten und Erkrankungen des Sexualverhaltens Gleichgültigkeit, Verständnis, Duldung, ja, vielfach sogar ausgesprochenes Interesse erweckt (vgl. S. 107 ff.). Außerdem hängt die soziale Normkraft gegenüber dem Geschlechtlichen eng mit dem jeweiligen Zeitcharakter der Sexualität und ihrem Stellenwert innerhalb des gesamten gesellschaftlichen Lebens zusammen; ehe wir zu einer Klärung dieser Erscheinungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft übergehen, müssen wir aber unsere Aufmerksamkeit noch einem grundsätzlicheren Zusammenhang, nämlich der sozial erzwungenen völligen Entsexualisierung bestimmter Lebensbeziehungen, zuwenden. (Fs)

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