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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Sein: eine uneingeschränkte Notion; Möglichkeit des Unerkennbaren?

Kurzinhalt: eshalb muß der Versuch, zu zeigen, daß das Sein nicht allumfassend ist, sich selbst aufheben; denn an der Wurzel all dessen, ... steht das reine Erkenntnisstreben ...

Textausschnitt: 2. Eine uneingeschränkte Notion

408a Man mag sich wundern, wie allumfassend das Sein denn sei. Dieses Sich-Wun-dern kann sich in einer Vielfalt von Weisen ausdrücken. Aber wie immer es auch [351] formuliert wird, und ob es auch formuliert werden kann, es wird nur zeigen, wie allumfassend das Sein ist. Das Wundern ist nämlich ein Fragen. Es ist das Streben nach Erkenntnis. Was immer es entdecken oder erfinden kann, ist durch eben diese Tatsache in die Notion des Seins eingeschlossen. Deshalb muß der Versuch, zu zeigen, daß das Sein nicht allumfassend ist, sich selbst aufheben; denn an der Wurzel all dessen, was bejaht werden kann, an der Wurzel all dessen, was gedacht werden kann, steht das reine Erkenntnisstreben; und es ist dieses reine Streben, das allem Urteilen und Formulieren zugrundeliegt, das allem Fragen und allem Streben nach Fragen zugrundeliegt, das sein allumfassendes Zielobjekt definiert. (Fs)

408b Trotzdem mag es nicht fehl am Platze sein, dieses Prinzip konkret zu erläutern. Es wird gesagt, daß wir Vieles nicht wissen. Zweifellos ist unsere Ignoranz groß; aber wir wissen um diese Tatsache, indem wir Fragen aufwerfen, die wir nicht beantworten; und das Sein definiert sich nicht nur durch die Antworten, die wir geben, sondern auch durch die Fragen, die wir stellen. Es wird weiter gesagt, daß es Vieles gibt, das zu erkennen sich gar nicht lohnt. Ohne Zweifel ist das unmittelbar fruchtbringende Feld der Untersuchung eingeschränkt. Aber wir erkennen diese Tatsache, indem wir zwischen den Fragen unterscheiden, von denen wir hoffen, sie bald beantworten zu können, und denen, die wir noch nicht in den Griff bekommen können; und das Sein wird definiert nicht nur durch die Fragen, die wir zu beantworten hoffen können, sondern auch durch die Fragen, deren Beantwortung wir auf später verschieben müssen. (Fs)

408c Drittens, viele werden einwenden, daß sie gar nicht alles über alles zu wissen wünschen. Wie aber wissen sie, daß sie nicht schon alles über alles wissen? Weil so viele Fragen gestellt werden können. Warum wollen sie nicht wirksam alles über alles wissen? Weil es so mühsam ist, auch nur einige wenige Antworten zu erreichen, so daß sie nun durch die Aussicht auf ein Beantworten aller Fragen, die sie stellen könnten, ganz entmutigt sind. (Fs)

408d Der Angriff kann auch von der entgegengesetzten Seite kommen. Das Problem ist, daß die Definition des Seins zu allumfassend ist. Fragen können bedeutungslos, illusorisch, inkohärent, illegitim sein. Der Versuch sie zu beantworten, fuhrt zu keiner Erkenntnis von irgendetwas. Nun gibt es zweifellos falsche Fragen, die nirgendwohin führen. Aber falsche Fragen sind formulierte Fragen. Das Sein ist nicht als das Zielobjekt formulierter Fragen definiert worden, sondern als das Zielobjekt des reinen Erkenntnisstrebens. Wie dieses Streben allen Fragen vorausgeht und selbst nicht eine Antwort ist, so geht es auch jeder formulierten Frage voraus und ist selbst nicht eine Formulierung. Außerdem, wie das reine Streben die intelligente und rationale Basis ist, von der her wir zwischen korrekten und inkorrekten Antworten unterscheiden, so ist es auch die intelligente und rationale Basis, von der her wir zwischen gültigen und falschen Fragen unterscheiden. Kurz: Das reine [352] Streben nach Erkenntnis, dessen Zielobjekt das Sein ist, ist nicht nur die Quelle für Antworten, sondern auch für ihre Kriterien, und nicht nur die Quelle für Fragen, sondern auch für die Gründe, nach denen die ausgewählt werden. Es ist ja das intelligente Untersuchen und vernünftige Reflektieren, das sowohl die richtigen Fragen wie auch die richtigen Antworten ergibt. (Fs)

409a Es mögen noch tiefgründigere Zweifel entstehen. Man kann, wenn man will, das Sein definieren als das, was durch die Gesamtheit der wahren Urteile erkannt wird. Aber ist das Sein wirklich das? Könnte es nicht irgendetwas ganz anderes sein? Fragen kommen auf. Sie können gültig oder falsch sein. Wenn sie falsch sind, sind sie zu ignorieren. Wenn sie gültig sind, dann sind unsere Zweifel ohne Grundlage. Denn das Sein, das ganz anders sein könnte, stellt sich als eben das heraus, über das wir sprechen. Wenn wir fragen, ob es sein könnte, dann fragen wir; und das Sein, über das wir eben sprechen, ist all das, worüber wir Fragen stellen. (Fs)

409b Ferner, könnte es nicht ein Unerkennbares geben? Wenn die Frage ungültig ist, ist sie zu ignorieren. Wenn die Frage gültig ist, kann die Antwort "Ja" oder "Nein" sein. Die Antwort "Ja" wäre aber inkohärent; denn man würde dann wissen, daß es das Unerkennbare gibt; und die Antwort "Nein" würde alles erkennbar und im Bereich des Seins lassen. (Fs) (notabene)

409c Es mögen andere Fragen aufkommen, aber anstatt diese einzeln zu verfolgen, wird es sinnvoller sein, wenn wir nun zu unserem Anfangstheorem zurückkehren. Jeder Zweifel daran, daß das reine Streben uneingeschränkt ist, dient nur dazu zu beweisen, daß es uneingeschränkt ist. Fragt man, ob denn X nicht außerhalb seiner Reichweite liege, so beweist die Tatsache, daß man fragt, daß es innerhalb seiner Reichweite liegt. Und wenn die Frage andererseits sinnlos, inkohärent, illusorisch, illegitim ist, dann stellt sich X als das reine Nichts heraus, das aus einer Verirrung des Erkenntnisprozesses resultiert. (Fs) (notabene)

410a Nicht nur ist also das Urteil absolut, nicht nur beruht es auf einem Erfassen des Unbedingten, nicht nur stellt die Reflexion die Dichotomie "Ist es oder ist es nicht?" auf, sondern an der Wurzel des Erkenntnisprozesses liegt ein kühles, unvoreingenommenes, interesseloses Streben nach Erkenntnis und seine Reichweite ist unbeschränkt. Sein ist das Jedes und Alles, welches das Zielobjekt dieses Strebens ist. (Fs)

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