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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Normalität des Leibes; soziale Sinnlosigkeit des abnormen Geschlechtsverhaltens; Leistungen der normalen menschlichen Sexualität (Hierarchie d. Funktionen); Modell: Trieb-Psychologie

Kurzinhalt: Indem sie [Soziologie] beim Abnormen die primäre gegengeschlechtliche Sozialbeziehung nicht voraussetzen kann, entgleitet dieser in seinem ursprünglichen Sexualbezug dem sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich ...

Textausschnitt: 71b Für eine Soziologie der Sexualität hat dieser Tatbestand der primären Unsozialität des sexuell Abnormen besondere Bedeutung; sie zerfällt an ihm sozusagen in eine <positive> und eine <negative> Soziologie. Indem sie beim Abnormen die primäre gegengeschlechtliche Sozialbeziehung nicht voraussetzen kann, entgleitet dieser in seinem ursprünglichen Sexualbezug dem sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich und bleibt als konstitutionell Vereinzelter legitim nur Objekt einer Individual-Wissenschaft. Dies bietet auch umgekehrt die Begründung dafür, daß die sexualwissenschaftliche Psychologie nicht von dem Abnormen als ihrem Modell loskommt. Individualobjekt und Individualwissenschaft fordern sich gegenseitig. Die sozialen Beziehungen, an denen natürlich auch die Abnormen als Glieder einer Gesellschaft trotz ihrer sexuellen Kontaktschwäche irgendwie teilhaben, sind nur von einem primären Nichtvorhandensein des sexuell-sozialen Grundvollzuges her zu begreifen; es sind in den vielfältigen Formen abnormer Verhaltensweisen, ja sogar dort, wo kein abnormer Zug in ihren sozialen Verhältnissen zutage tritt, immer gesellschaftliche Ersatzleistungen für ein Fehlendes. Die Soziologie der von ihrem Leib zur Einsamkeit Verdammten gleicht der Soziologie aller biologisch bedingten Minderheiten: Das Fehlen eines in der Gesellschaft selbstverständlich vorausgesetzten vorsozialen Merkmals durchdringt alle anscheinend mit der Majorität oder Normalität gleichgelagerten Sozialstrukturen der Anomalen und verändert alle, nicht nur die sexuellen Beziehungen in ihrer sozialen und persönlichen Bedeutung. So ist die Normalität des Leibes eine von der Soziologie wenig beachtete, nichtsdestoweniger aber konstitutive Voraussetzung ihres Gegenstandes, der sozialen Beziehungen und Verhaltensformen der Menschen, weil in ihr auch über die sexuellen Beziehungen hinaus soziale Sinnhaftigkeit und Struktur angelegt sind, die den leiblichen Anomalen verschlossen bleiben. (Fs)

72a Dies wird deutlich, wenn wir einmal der sozialen Sinnlosigkeit des abnormen Geschlechtsverhaltens im einzelnen nachgehen. Daß im normalen Sexualverhalten sowohl biologische als auch soziale Befriedigung gesucht und somit vom Trieb her ein organischer Bedarf und zugleich soziale Bedürfnisse befriedigt werden müssen, haben Autoren wie Hofstätter (57), Kardiner (60b), Bürger-Prinz (47g) u. a. immer wieder betont. Legen wir diese Unterscheidung zugrunde und erinnern wir uns, daß es weiterhin zum Wesen der menschlichen Sexualität gehört, daß die jeweilige Lust- oder Gefühls-komponente vom Zweck des Verhaltens, dem Gattungszweck, ablösbar und zu einem eigenen Verhaltensziel zu verselbständigen ist (vgl. S. 13 f.), so glauben wir folgende Stufung funktionaler Leistungen der normalen menschlichen Sexualität feststellen zu können:

1. sie erfüllt den biologischen Zweck der Artfortpflanzung;
2. sie befriedigt die biologisch-triebhaften Lustbedürfnisse;
3. durch ihre Institutionalisierung wird sie zu einem Fundament der Grundgebilde sozialer Sicherung, wie sie in Ehe, Familie und Ver-wandtschaft auch noch den differenziertesten Gesellschaftssystemen unterliegen;
4. die normgerecht vergesellschaftete Sexualität wirkt wiederum auf das soziale und persönliche Selbstbewußtsein des Individuums zurück, indem sie dessen dauerhafte Verhaltensformen und moralisches Selbstgefühl stabilisiert und bestätigt, soziale Achtung, Anerkennung und Zufriedenheit erzeugt und damit zur Erfüllung der Bedürfnisse gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit, Einordnung und Verläßlichkeit beiträgt;
5. auf der Grundlage der institutionell und habituell regulierten Sexualität ist der Mensch triebhaft entlastet und damit frei für eine Versachlichung seines Verhaltens zu kulturellen Zwecken, und schließlich
6. bietet die so integrierte Sexualität die größten Chancen zur Steigerung der Persönlichkeit in höhere Seinsformen der Liebe, Hingabe, Gläubigkeit usw. (Fs)

73a So stufen sich in den Funktionen des normgerechten Sexualverhaltens eine biologisch-triebhafte, eine soziologische und eine kulturelle Schicht des Verhaltens hierarchisch übereinander. Die Aufgabe und Leistung sexueller Normen besteht darin, diese verschiedenen Schichten und Funktionen der Sexualität einander harmonisch und produktiv zuzuordnen. <Wenn also eine Gesellschaft Sexualität, Liebe und Sozialsicherung zur Deckung bringt oder bringen will, dann muß sie ein Verhalten, das diese Kongruenz prinzipiell ausschließt, als abnorm werten, und zwar um so eindeutiger, mit je mehr Nachdruck sie ihre Forderung stellte (Bürger-Prinz, 47 f). (Fs) (notabene)

73b Nach diesem Schema bedeutet ein den Partner verfehlendes, autistisch bleibendes Sexualverhalten funktional das Verharren auf der bloßen Lustfunktion der Sexualität. Sowohl der Gattungszweck als auch die gesamte soziale Funktionsschicht der Sexualität werden vom abnormen Geschlechtsverhalten nicht erfüllt, die kulturellen Funktionen allenfalls umwegig erreicht und dann durch Triebgebundenheit dauernd gefährdet. <So gesehen bedeutet Perversion immer Einschränkung und Verarmung> (Bürger-Prinz,47g). Die soziale Sinnlosigkeit der sexualen Anomalität liegt also einmal in ihrer biologischen Zwecklosigkeit, in der prinzipiellen Ausschaltung der Fortpflanzungsfunktion, die ja immer zugleich ein soziales Anliegen ist, aber auch in ihrer Unergiebigkeit für die höheren Beiträge des Triebes zur Ordnung und Stabilisierung der Gesellschaft. Daß die Perversion prinzipiell im Privaten, im Autistischen und bloß Individualistischen verharren muß, ist der Grundvorwurf, den die Gesellschaft gegen diese nur lustsuchende Sexualität richtet. <Während es sonst im allgemeinen das Geschick sexueller Betätigung ist, daß sie im Laufe der individuellen Geschichte langsam versachlicht oder in den Dienst anderer Sektoren des Daseins tritt, ist dies bei Perversionen kaum der Fall. Dies stellt ein weiteres Charakteristikum dar, das sie einer naiven Umwelt als unnotwendig, als luxurierenden Aufwand erscheinen läßt. Sie stellen für diese Betrachtung eine Daseinserhöhung am unrechten Ort mit unangemessenem Aufwand dar> (Bürger=Prinz, ebd.).
(Fs) (notabene)

74a Für den Anomalen bedeutet dies aber umgekehrt, daß sein sexuelles Verhalten, und damit einer der wesentlichen Bezirke seines Lebens überhaupt, der sozialen und kulturellen Stützungen entbehren muß. Die gesellschaftlichen Institutionen, Rituale und Normsysteme, diese hilfreichen Entlastungen des Menschen in seiner Lebensführung, schließen den Anomalen aus; fügt er sich ihnen, so nur auf Kosten seiner sexuellen Lustsuche, so daß er als vital hohler Mensch in ihnen steht. Der nicht gelungene Schritt zur Norm - von der Gesellschaft als Überschreitung der Norm verkannt und verurteilt, wo sie die <Unsozialität> nicht mehr übersehen kann - isoliert ihn sozial, sei es durch offenes gesellschaftliches Verdikt und Entzug der gesellschaftlichen Achtung, sei es vor ihm selbst durch eine ständige geheime Bedrohtheit bei einer äußerlichen Eingliederung in das geltende Normengefüge. Weil ihm so die gesellschaftlichen Stützen und damit die sozialen und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten seines Sexualverhaltens fehlen, bleibt der Anomale darin auch triebgebundener als der Normale. Der Zwangs- und Suchtcharakter der Perversionen stammt also mit aus dem Mangel ihrer sozialen und normativen Verarbeitung: <Diesen Gestaltungen eignet wenigstens auf die Dauer, d. h. im Laufe ihrer Geschichte, fast immer der Charakter des Zwanghaften, Nicht-mehr-Wandelbaren, eingebaut Starr-Automatischen. Hinzu kommt meist noch die Progression. Damit ist gemeint, daß die Sexualität in ihrer besonderen Ausformung und Betätigung immer mehr Raum im Lebensganzen des betreffenden Menschen beansprucht, z. B. erst gelegentliches Exhibitionieren, dann jede Gelegenheit dazu wahrnehmen und schließlich jede mögliche Gelegenheit aufsuchen> (Bürger-Prinz, ebd.). (Fs) (notabene)

74b Hofstätter hat einmal bemerkt, daß als <triebhaft> besonders ein Verhalten empfunden wird, das den von der Gesellschaft gesetzten Normen oder ihrem Verhaltenshabitus widerspricht (57, S. 237 f.); von unserer Sicht aus wird es deutlich, daß die gesellschaftliche Norm selbst ein sozial verarbeiteter, überhöhter Trieb ist und daher das anomale Verhalten in der Tat darin besteht, bloß triebhaft zu bleiben. In dieser Lage gewinnt der Mensch nicht die Positionen, von denen er seine Triebe und damit sein Leben fuhren kann, er verliert sie und sich aus der Hand, und der Mechanismus der Triebe autonomisiert sich in ihm. Dieser Mensch ist dann das Modell der Trieb-Psychologie, die alles Normative gegenüber dem Triebhaften nur als Hemmung, Zensur, Disziplinierung usw., d. h. als <Denaturierungsphänomen> begreifen kann und damit die soziologische Ebene des Verhaltens, die gesteigerte Lebensform der <zweiten Natur>, in ihren Grundkategorien verfehlen muß. Es gibt keinen direkten Weg von der Psychologie der Abnormen zur Soziologie der Normalen. Oder jedenfalls nur in einer Gesellschaft, die sich in ihren Strukturen selbst durchgängig <abnormalisiert>, d. h. ihre normierende und institutionelle Kraft weitgehend eingebüßt hat oder verliert. Hier liegen die Zusammenhänge von Kulturkrise, Kulturkritik und Triebpsychologie: Ein Verständnis der Sexualität vorzüglich als Trieb muß dies alles zugleich sein. - (Fs) (notabene)

75a Diese kurze Darstellung der Zusammenhänge zwischen sozialer Norm und der Abnormität des Sexualverhaltens wäre durch einige kritische Ausführungen über den Schematismus dieser Skizze zu ergänzen: etwa durch Hinweis auf die Komplikationen, die dieses Schema dadurch erführe, daß z. B die primäre gegengeschlechtliche Partnerfindung weder vollständig gelingen noch vollständig mißlingen kann und dann normales und abnormes Sexualverhalten im gleichen Individuum nebeneinander herlaufen oder daß ein gleicher Zustand durch den Versuch des Anomalen, sich bei Abkapselung oder Unterdrückung des autistischen Sexualbezuges an die soziale Normschicht anzupassen, erreicht werden kann. Der Versuch, diese Differenzierungen des Schemas auszuführen, hieße eine ganze Sozialpathologie der Sexualität schreiben; wir wollen uns hier damit begnügen, die gewonnenen Grundeinsichten über die sozialen Strukturen sexueller Perversionen an einem Beispiel des abnormen Sexualverhaltens, der Homosexualität, noch einmal zu verdeutlichen und in einigen Punkten weiterzuführen. (Fs)

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