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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Biologischer Reifungsprozess (Puberät) - soziale Umwelt; Max Scheler: Scham; Bürger-Prinz; geschlechtliche Abnormalität: Verfehlen der primären Sozialbeziehung; Normunfähigkeit - Normsucht der Anomalen

Kurzinhalt: In der Analyse der Rolle der Scham kommt Scheler zu gleichen Schlüssen wie wir über die Bedeutung des primären Sozialkontaktes, den er als <Sympathiegefühl> begreift, ... Die Abnormität wurzelt also in einer primären geschlechtlichen <Unsozialität> ...

Textausschnitt: 67a Die gemeinsame Grundlage alles sozial belangvollen abnormen Sexualverhaltens scheint ein Phänomen zu bilden, das man bisher allzu psychologisch als heterosexuelle Kontaktschwäche oder -unfähigkeit gedeutet und damit als soziales Grundphänomen weitgehend übersehen hat. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß libidinöse Lustempfindungen bereits zum Erfahrungsbestand des kindlichen Lebens gehören, aber alle diese in einem sehr weiten Sinne sexuellen Lusterlebnisse sind primär autoerotisch, an die Selbstgenügsamkeit und Erfahrung des bloß eigenen Leibes gebunden. In der geschlechtlichen Reife der Pubertät steigert und konzentriert sich nun die menschliche Sexualität nicht nur sexualorganologisch, sondern richtet sich im Normalfall zugleich auf den gegengeschlechtlichen Partner aus. Dieser Vorgang der Entdeckung des sexuellen und erotischen Partners wird gemeinhin als bloße Folge der sexuellen Reifung verstanden, gleichsam als sei dieser Partner - dessen andersgeartete Leiblichkeit ja vorher schon bekannt ist - nun nur unter einen geschärften sexuellen Blickwinkel geraten und gegenüber dem gesteigerten und gereiften Sexualbedürfnis einfach vorhanden und verfügbar. (Fs)

67b Hier hat wohl Scheler richtiger gesehen, daß dieser Zugang zum heterosexuellen Partner ein Reifungsergebnis und ein personaler Vorgang eigener Art ist und als verhältnismäßig autonomer Vorgang neben die Steigerung und Zentrierung des sexuellen Triebes und Lustbedürfnisses gestellt werden muß (66 b, S. 104). Die in der Pubertät aufschießende und reifende Sexualität ist mehr als Anlaß und Schauplatz für eine Leistung zu betrachten, die der Jugendliche in dieser Altersstufe in der ganzen Verhaltensbreite zu vollbringen hat: die Ablösung aus der sozialen Geborgenheit der Eltern-Kind-Beziehung und das Hinaustreten aus der familiären Intimgruppe in ein außerfamiliäres gesellschaftliches Kontaktverhalten als autonome Individualität. Man kann diesen Prozeß geradezu so beschreiben, daß aus der ursprünglichen kindlichen und familiären Wirhaftigkeit des Menschen jetzt erst sowohl das Du wie das Ich als selbstbewußte und sozial selbständige Verhaltensindividualität entstehen. Dieses Erwachsenwerden, das sich in der sozial-ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft zumeist vorläufig erst als eine Teilablösung des Jugendlichen aus der Familie vollziehen kann, da diese eine ganze Reihe langfristig gewordener wirtschaftlicher und sozialer Fürsorgeaufgaben für den Jugendlichen noch behält, zeigt sich im Aufbau einer immer stärker außerfamiliären Verhaltens-Orientierung z. B. in Lehrer-Schüler-Verhältnissen, in Meister-Lehrlingsbeziehungen, im Eingehen männerbündlerischer Freundschaften usw., was zugleich immer einen Abbau der Präge- und Bindungsgewalt der alten, elterlich-familiären Wir-Gruppe bedeutet. Eben dieser primär soziale Auf- und Abbauvorgang reicht mit der sexuellen Reifung bis in die vitalen Verhaltensgründe hinab: indem er die sexuellen Antriebe auf ein gegengeschlechtliches Du richtet, wird der Zustand autoerotischer Lust- und Körperempfindung und seine soziale Beheimatung in der Eltern-Kind-Beziehung abgebaut und eine neue Ebene eines zugleich vitalen und sozialen Zueinanders geschaffen, auf der sich die Geschlechtlichkeit als eine Partnerschaft von Individualitäten überhaupt erst zu bilden vermag. Daß dieser Vorgang eine relativ selbständige und ursprüngliche sozialkulturelle Personformierung darstellt und nicht nur als Teil des biologischen Reifungsvorganges verstanden werden kann, zeigen am besten die Tatsachen, daß die soziale Umweltstruktur, also vor allem das elterliche Familienleben, und soziale Erfahrungen des Kindes und Jugendlichen ihn entscheidend beeinflussen, also fördern oder stören, im Extremfalle auch verhindern können, ohne daß sich aus der somatischen Reifung der Sexualität für diese Varianten des geschlechtlichen Partnervollzuges hinreichend verursachende Faktoren aufweisen ließen. Da aber die Frage des normalen oder anormalen Geschlechtsverhaltens sich eben an diesem Aufbau eines vollen heterosexuellen Partnerverhältnisses entscheidet, ist sie von vornherein im sozialen Bezug der Geschlechtlichkeit geortet und nicht primär vom Somatischen her zu bestimmen. Die Verarbeitung des Triebes in der sozialen Ursprungsleistung des Aufbaues eines gegengeschlechtlichen Partnerverhältnisses gehört zur sozialen Formierung der Person, von deren Gelingen oder Nichtgelingen her sich Normalität oder Perversion des Geschlechtsverhaltens ableiten. (Fs)

In der Analyse der Rolle der Scham kommt Scheler zu gleichen Schlüssen wie wir über die Bedeutung des primären Sozialkontaktes, den er als <Sympathiegefühl> begreift, und über die Entstehung abnormen Geschlechts-Verhaltens: <Denn ohne ihre (der Scham) zentrale Hemmungswirkung gegen die niederen Zentren der auf den Wollustkitzel gerichteten Impulse, d. h. gegen die pure Iibido, bliebe der Mensch völlig autoerotisch, und würde seine seelische Energie völlig aufgebraucht in der Richtung auf das eigene sinnliche Empfinden. Erst durch die Abziehung der Aufmerksamkeit von diesen drängendsten Gefühlsempfindungen und durch die Einschränkung des bloß libidinösen Triebes wird der Mensch und wird seine seelische Energie selbst zur Geschlechtssympathie gleichsam frei, so daß hieraus ein eigentlicher Geschlechtstrieb sich zu bilden vermag. Denn dieser ist erst da vorhanden, wo die Befriedigung der libidinösen Regung nicht irgendwie, ... sondern durch das Dazwischentreten einer Person des anderen Geschlechts erwartet wird ... Der Geschlechtstrieb ist also selbst schon ein Bauwerk der drei voneinander unabhängig bestehenden Kräfte: Libido, Scham, Sympathiegefühl ... Wo die Scham diese ihre eminente organische Wirksamkeit nur ungenügend ausübt, da finden wir darum auch stets jene autoerotische Fixierung der Libido des Individuums auf dieses selbst, jene überstille, scheue, zurückgezogene, versteckte, asoziale und oft mit früher Ablehnung des anderen Geschlechts verknüpfte, einsame und vereinsamende Verhaltensweise und Lebensart... Fehlt die geschlechtliche Sympathie, wie beim typischen Misogyn (Weiberfeind), und wird sie besonders durch frühe Kindheitserlebnisse ... in ihrer Bildung gehemmt, so gewinnt die Libido auch im selben Maße keine normale, gegengeschlechtliche Richtung, und es wird schon die Ausbildung eines Geschlechtstriebes gehemmt. Perversionen können daher diesen Ursprung haben> (66b, S. 106,116). (Fs)

70a Die primäre Leistung der Scham sieht Scheler also darin, daß sie den Aufbau des geschlechtlichen Partnerbezuges überhaupt erst ermöglicht; erst wenn diese primäre <Sozialisierung> der menschlichen Geschlechtlichkeit gelungen ist, wirkt die Scham weiterhin als Grundlage für die Formierung des partnerschaftlichen Sexualhabitus, für den Aufbau von sexueller Sitte und Moral: <Dieser Primärleistung schließt sich als Sekundärleistung zunächst an die Verschiebung des Zeitpunktes der normalen Befriedigung des schon gebildeten Geschlechtstriebes in die Zeit genügender Geschlechtsreife, und die zeitliche und zahlenmäßige Regelung der Geschlechtsakte> (66 b, S. 117). Die Scham als vormoralische Reaktionsweise des Menschen wird dann zum Ferment der verschiedenartigen, immer eine primär gelungene Partnerschaftszuordnung voraussetzenden sozialen Normen des Geschlechtsverhaltens. (Fs)

70b Allerdings kann auch die Primärleistung der Scham, die Distanzierung von der eigenen Leiblichkeit und die Aufschließung des grundsätzlichen geschlechtlichen Partnerbezuges, nicht als instinktiv gesichert betrachtet werden, sondern sie erweist sich durchaus als ablenkbar, ja sogar als sozial beeinflußbar; so haben Bürger-Prinz (47 g, S. 546) und andere Psychiater darauf hingewiesen, daß eine übersteigerte Scham gerade auch die Leiblichkeit des Du verhüllen und damit den Weg zum Partner versperren kann. Dies wird vor allem der Fall sein, wenn ein gesellschaftlich stilisiertes Schamverhalten das subjektive oder <natürliche> Schamempfinden unangemessen übersteigert, wie es etwa in der immer sozial bedingten Prüderie zum Ausdruck kommt; in diesen Fällen drängt das Schamverhalten dann in die Anomalität oder in die neurotische oder hysterische Erkrankung. Aus dieser <unnormalen> Funktion der Scham in der Epoche der hochbürgerlichen Prüderie hat die Psychoanalyse in hohem Maße ihr Anfangskapital bezogen. (Fs)

70c Von hier aus wird das Verfehlen des Partners im Aufbau der primären Sozialbeziehung der erwachsenen Individualität als das Grundphänomen aller sexuellen Abnormität deutlich. Bürger-Prinz faßt dann auch in dieser Erscheinung die verschiedenen Arten des abnormen Sexualverhaltens zusammen, indem er in ihnen jeweils Varianten der Partnerverfehlung erblickt:

<Spielen in der individuellen Ausfaltung der Sexualität die Entdeckung des eigenen Leibes und das Überraschungsfeld des anderen Leibes, Aufdeckung des Passenden und Zusammengehörigen eine Rolle, so schalten diese Faktoren für viele abnorme, am Individuum bleibende Gestaltungen aus. Ein Teil des Partners setzt sich für das Ganze, der Partner wird mehr oder weniger nur Statist, nur Zuschauer, oder der in Gang setzende Erreger, oder er ist nur noch virtuell überhaupt gegenwärtig, oder schließlich Individuum und Partner fallen völlig zusammen ... Das Ausschalten des Partners in seiner Individualität im Rahmen gewisser Perversionen ist eine äußere Übersteigerung von Reaktionen, die aus den Schwierigkeiten resultieren, welche sich bei der Herstellung eines Partnerverhältnisses ergeben. Das Verbleiben beim eigenen Leibe oder ein Zurückkehren dahin, z. B. Masturbation in ihren vielfältigen Formen, zeigt eine Entfaltungshemmung oder Unmöglichkeit zur Durchsetzung im sozialen Bezug an ... Eine andere Form des einfachsten (nicht vollständigen) Partnerverhältnisses ist die Anonymität oder die prinzipielle Unverbindlichkeit. Menschen mit solchen Haltungen spielen eine bedeutsame Rolle z. B. beim Bordellbesuch, dem Voyeurtum, dem Exhibitionismus. Eine weitere - forensisch wichtige - Abwandlung ist das völlige Ausgeliefertsein des Partners in der sexuellen Situation, seine Wehr- und Hilflosigkeit, z. B. in bezug auf Kinder oder Jugendliche, aber auch wenn die Hilflosigkeit erst gewaltsam hergestellt wird, z. B. bei Notzuchtdelikten oder Gewalttätigkeiten bis zur Tötung. Die brutale Aggression widerspricht hierbei keineswegs der Schwäche und Unfähigkeit in der Herstellung sozialer Bezüge. Oft ist es Schwäche, die die extremsten Explosionen bedingt> (47 g, S. 542, 544). (Fs)

71a Die Abnormität wurzelt also in einer primären geschlechtlichen <Unsozialität>. Indem der Aufbau einer vollen gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung dem Individuum nicht gelingt, bleibt es in seiner leiblichen Bezogenheit mehr oder weniger autistisch oder narzißtisch, so daß sein seelischer und sozialer Normalzustand vom Vitalen her bereits die Einsamkeit ist. Das Verharren beim eigenen Leibe, dieser Solipsismus tiefer Lebensschichten, verschließt solchen Menschen von vornherein den ursprünglichen Zugang zur Soziabilität; sie erreichen auf einem lebenswichtigen Gebiet überhaupt nicht die Verhaltensebene, auf der sich sexualmoralische Normen, die ja immer soziale Bezüge regeln, produktiv entfalten können. Deshalb ist das Normverdikt der Gesellschaft gegenüber diesen im primären Sozialbezug sexuell Anomalen nicht eigentlich die Feststellung einer Übertretung der Norm, sondern die tiefere Ablehnung einer Normenthobenheit und Normunfähigkeit, was auf der anderen Seite die ständige <Normsucht> der Anomalen begründet. Hierin wurzelt auch die offensichtliche Tendenz jeder Gesellschaft, das Vorhandensein der Anomalen nach Möglichkeit zu übersehen oder ihr sexuelles Verhalten zu vereinzelten Normverstößen zu deklarieren, da das schlechthin Unsoziale des Phänomens gesellschaftlich nicht anerkannt werden kann. (Fs)

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