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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Abnormalität - Gesellschaft; Moral als Zwangssystem: 2 Prämissen (Aufklärung, Biologismus); Subjekt - Institution (Arnold Gehlen); Funktion der Norm; Freud

Kurzinhalt: ... so daß dies <Unbehagen> das Gefühl von Leuten bezeichnet, für die ihre Gesellschaft zu große Kleider der Persönlichkeit geschneidert hat, um den Ausdruck Marg. Meads abzuwandeln. Indem die Menschen vor ihrer Tradition versagen ...

Textausschnitt: 63a Die Einschätzung der Moral und sonstiger gesellschaftlicher Normen als bloßer Orientierungssysteme, ja, im Extremen sogar als der inneren Person fremde Zwangssysteme, beruht auf zwei geschichtlich durchaus datierbaren Wurzeln des modernen Selbstverständnisses: einmal auf der Reduktion der Person auf die Bewußtheit des Ichs, der Grundprämisse aller Aufklärung, zum anderen auf der Auffassung, daß Normen wesentlich als Hemmungen des Trieblebens wirken, dem Erbe der biologisch orientierten Psychologie. Die erste Prämisse wertet alle sozialen und persönlichen Verhaltensordnungen, die nicht von der sich selbst verstehenden und sich innebleibenden Bewußtheit des Menschen her gesteuert werden, als <Entfremdung der Person> ab und verfehlt eben damit die Einsicht, daß der Mensch sich gerade in der Entäußerung an die Sache, im Aufgehen in die Institutionen als die das Ich überhöhenden Ordnungen und Seinsformen in seiner höheren und sozialen Existenzweise erst gewinnt. Arnold Gehlen hat diesen <autistischen> Zug aller Aufklärungsmoral von Fichte über Marx bis zur Psychoanalyse - etwa in den Thesen, die E. Fromm in seiner tiefenpsychologischen Ethik vorträgt (53 b) - aufgewiesen und ihm genau die Einsicht entgegengestellt, auf die es uns hier ankommt:

<Das direkte Ausspielen der Subjektivität ist daher immer falsch, und schließlich ist es stets so, wie im Verhältnis der Geschlechter: es läßt sich zwischen Mann und Frau das leidenschaftlichste, reichste und belebendste Verhältnis direkt und allein, als seelisches Pathos, nur unter allerseltensten Bedingungen durchhalten, es läßt sich darauf allein nichts gründen. Das Biologische, das ökonomische, die nächste Generation, die Nahrung und Notdurft sind stärker, und das Verhältnis muß sich objektivieren, versachlichen, aus der Ausschließlichkeit dieser Einzelnen heraus verallgemeinern, mit einem Wort: zur Institution (der Ehe) entfremden, gerade wenn diese Menschen sich nicht gegenseitig verlieren und fremd werden wollen. Der Mensch kann zu sich und seinesgleichen ein dauerndes Verhältnis nur indirekt festhalten, er muß sich auf einem Umweg, sich entäußernd, wiederfinden, und da liegen die Institutionen. Es sind dies die allerdings, wie Marx richtig sah, von den Menschen produzierten Formen, in denen das Seelische, ein auch im höchsten Reichtum und Pathos undulöses Material, versachlicht, in den Gang der Dinge verflochten und gerade nur damit auf Dauer gestellt wird. So werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie die Tiere. Die Institutionen sind die großen bewahrenden und verzehrenden, uns weit überdauernden Ordnungen und Verhängnisse, in die die Menschen sich sehenden Auges hineinbegeben, mit einer für den, der wagt, vielleicht höheren Art von Freiheit als der, die in 'Selbstbetätigung' bestünde, in dem 'Ich, das sich selbst setzt' Fichtes oder in dessen modernem Stiefbruder, dem 'Man for himself' E. Fromms. Und die Institutionen wie Ehe, Eigentum, Kirche, Staat entfremden zwar die Menschen von ihrer eigenen unmittelbaren Subjektivität, ihnen eine durch die Ansprüche der Welt und der Geschichte hindurchgegangene höhere verleihend, aber sie schützen sie auch vor sich selbst, für einen hohen und vergleichslosen seelischen Einsatz doch Platz lassend, ohne ihn zu fordern> (55 f, S. 351 f.). (Fs)

64a Die zweite Prämisse von der Hemmungsfunktion der Norm, die für unsere Frage hier bedeutungsvoller ist, verallgemeinert im Grunde die Position der Abnormen gegenüber der Norm zu einer anthropologischen Grundaussage, insofern hier die Norm als etwas der Triebtendenz Äußerliches, ja Entgegengesetztes bestimmt wird; die <normale> Funktion der Norm beruht aber gerade darin, die Antriebe auf die Personalität und Ordnung hin zu integrieren, auf die hin der Mensch auch biologisch angelegt ist. Diese Leistung der Normen ist eben das, was ein System intakter Institutionen dem Menschen zu bieten hat und wodurch es ihn erst zu dem vielberufenen sozialen Wesen> macht. Wir können in dieser anthropologischen Wirkung der Institutionen gegenüber den menschlichen Antrieben zumindest drei Seiten unterscheiden:

1. kanalisieren die institutionellen Setzungen den Ablauf triebursprünglicher Verhaltensweisen so, daß ein person- und gesellschaftsoptimaler Zusammenhang des Gesamtverhaltens gewahrt bleibt;
2. werden institutionell Gegenstand und Ablauf triebursprünglicher Verhaltensweisen so auf Dauer gestellt, daß der Mensch dadurch fähig wird, stabile Ordnungen seiner Person und Gesellschaft zu tragen und zu formieren;
3. entlastet die so erfolgte Habitualisierung des triebursprünglichen Verhaltens und seine Einordnung in dauerhafte überindividuelle Bezüge den Menschen weitgehend von der unmittelbaren und bewußten Konfrontierung mit seinen Trieben und schließt seiner Lebensenergie damit die Verhaltensräume erst auf, in denen der Mensch zu kulturellen Leistungen fähig wird. (Fs)
64b Indem so die Institutionen den Menschen sowohl über seine Triebbestimmtheit wie über sein individuelles Bewußtsein hinausdrängen, erreichen sie paradoxerweise, daß er beides erst in die Hand bekommt und zu führen versteht. (Vgl. dazu Arnold Gehlen, 9 und 55 a und d).

64b Indem so die Institutionen den Menschen sowohl über seine Triebbestimmtheit wie über sein individuelles Bewußtsein hinausdrängen, erreichen sie paradoxerweise, daß er beides erst in die Hand bekommt und zu führen versteht. (Vgl. dazu Arnold Gehlen, 9 und 55 a und d).

65a In bezug auf die Sexualität hat Freud den Übergang triebursprünglichen Verhaltens in kulturelle Leistungen als <Sublimation> beschrieben, etwa in der Formulierung: <Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muß er seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem Sexualleben> (52 c). Aber die diesen Worten unterliegende Wertung, daß hier ein das Triebleben <denaturierender> Akt, eine im Sinne der Triebtendenz illegitime Entwicklung vor sich geht, kommt in seiner Annahme eines grundsätzlichen <Gegensatzes zwischen Kultur und Sexualität> zum Ausdruck (<Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion>; ebd.): Die Metamorphose zur Kultur geht auf Kosten der Trieberfüllung. Wir sehen dagegen in der <Sublimation> mit Gustave Thibon <viel eher eine Wiederherstellung des Verhaltensgleichgewichtes als eine Umwandlung> der menschlichen Triebstruktur. (Fs)

Gustave Thibon weist mit Recht darauf hin, daß in der <normalen> Sublimation gar keine Umwandlung der Sexualität als solcher, sondern nur ihre Einordnung in ein umfassender strukturiertes menschliches Gesamtverhalten vor sich geht:
[... ] Ähnliche Gedanken schon bei Max Scheler (66a). Von diesem Standpunkt aus ist <das Unbehagen in der Kultur>, das Freud in dem übermäßigen Entzug von Triebenergien zu kulturellen Leistungen begründet sieht, vielleicht eher gerade als ein Ausgeliefertsein an die Triebwelt und als ein Versagen vor den Seinsansprüchen des kulturellen Normen- und Institutionensystems zu verstehen, so daß dies <Unbehagen> das Gefühl von Leuten bezeichnet, für die ihre Gesellschaft zu große Kleider der Persönlichkeit geschneidert hat, um den Ausdruck Marg. Meads abzuwandeln. Indem die Menschen vor ihrer Tradition versagen und die Institutionen nicht mehr zu wahren vermögen, erlischt auch die Triebordnung, die von diesen ausging; <seit die Menschen nicht mehr unter den Ungerechtigkeiten der Kultur leiden, verbreiten sich die Neurosen, so daß sie an sich selber leiden> (Gehlen, 55 d, S. 54). (Fs)

66a So treffen recht eigentlich in der Frage, welche Rolle die Normen und die sozialen Institutionen in der Bestimmung des menschlichen Handelns spielen, heute eine aufklärerisch-naturwissenschaftlich-psychologische Richtung der Anthropologie mit einer Anthropologie - sagen wir - der Gegenaufklärung aufeinander, die primär von der Eigengesetzlichkeit der kulturellen und gesellschaftlichen Verhaltensebene ausgeht und die psycho-biologischen Bereiche des Menschen als untergeordnete und auf jene höheren Seinsformen hin angelegte Strukturen versteht. Es wird einleuchten, daß die Unterschiedlichkeit dieser Positionen gerade für die Beurteilung der Rolle der Abnormen in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist; und nicht verwundern, daß daher fast alle moderne psychologische und psychiatrische Literatur, die zur Rolle der Sexualität, und insbesondere der abnormen, Stellung nimmt, dies vom Standpunkt der psychologischaufklärerischen Anthropologie aus tut. Die Erkenntnis sowohl der Grenzen psychologischer Determination und Gesetzlichkeit überhaupt als auch der Autonomie sozialer und institutioneller Zusammenhänge im menschlichen Handeln, bezogen auf ein soziologisches Verständnis des abnormen Sexualverhaltens, finde ich am weitesten vorwärtsgetrieben in den sexualwissenschaftlichen Schriften von H. Bürger-Prinz, dessen Gedankengängen wir in unserer sozialwissenschaftlichen Deutung der Situation der Abnormen in der Gesellschaft jetzt weitgehend folgen wollen1. (Fs)

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