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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Notion des Seins; Definition (zweiter Ordnung): Sein

Kurzinhalt: Sein ist das Zielobjekt des reinen Wissenstrebens ... diese Definition ist entfernter, weil sie festlegt, nicht was unter Sein gemeint ist, sondern wie das Gemeinte zu bestimmen ist.

Textausschnitt: 1. Eine Definition [348-50]

405b Sein ist das Zielobjekt des reinen Wissenstrebens. (Fs)

Mit dem Wissenstreben meinen wir die dynamische Ausrichtung, die sich in Fragen nach Einsicht und nach Reflexion manifestiert. Es ist nicht die sprachliche Äußerung von Fragen. Es ist nicht die begriffliche Formulierung von Fragen. Es ist nicht eine Einsicht oder ein Gedanke. Es ist nicht ein reflektierendes Erfassen oder Urteilen. Es ist der vorausgehende und umfassende Trieb, der den Erkenntnisprozeß von der Sinneserfahrung und der Vorstellung in der Einbildungskraft zum Verstehen führt, vom Verstehen zum Urteil, vom Urteil zum vollständigen Kontext korrekter Urteile, den wir Erkenntnis nennen. Das Wissensstreben ist deshalb einfach der untersuchende und kritische Geist des Menschen. Indem es ihn dazu bewegt, verstehen zu suchen, hält es ihn davon ab, sich mit dem bloßen Fluß der äußeren und inneren Erfahrung zufriedenzugeben. Indem es ein adäquates Verstehen verlangt, bindet es den Menschen in den sich selbst korrigierenden Lernprozeß ein, in welchem weitere Fragen zu komplementären Einsichten führen. Indem es den Menschen dazu bringt zu reflektieren, das Unbedingte zu suchen, uneingeschränkte Zustimmung allein dem Unbedingten zu geben, hält es ihn davon ab, sich mit Hörensagen und Legenden, mit unverifizierten Hypothesen und ungeprüften Theorien zufriedenzugeben. Indem es schließlich noch weitere Fragen nach Einsicht und Reflexion aufwirft, schließt es selbstgefällige Trägheit aus; denn wenn die Fragen ohne Antwort bleiben, kann der Mensch nicht selbstzufrieden sein; und wenn Antworten gesucht werden, ist der Mensch nicht träge. (Fs)

405c Weil es von anderen Arten von Streben radikal verschieden ist, haben wir dieses Streben "rein" genannt. Es kann nicht durch die irreführende Analogie zu anderen Arten von Streben erkannt werden, sondern indem man dem intelligenten und rationalen Bewußtsein die Zügel schießen läßt. Es ist zwar ungreifbar, aber doch mächtig. Es reißt den Menschen aus der soliden Routine von Wahrnehmungen und Begehren, Instinkt und Gewohnheit, Tun und Erleben heraus. Es läßt ihn von [349] Problemen fasziniert sein. Es verpflichtet ihn zur Suche nach Lösungen. Es macht ihn zurückhaltend gegenüber dem, was nicht erwiesen ist. Es erzwingt Zustimmung zu dem Unbedingten. Es ist die kühle Klugheit des Common Sense, die Interesselosigkeit der Wissenschaft, die Unvoreingenommenheit der Philosophie. Es ist das Absorbiertsein in eine Untersuchung, die Freude der Entdeckung, die Gewißheit des Urteils, die Bescheidenheit der begrenzten Erkenntnis. Es ist die unnachgiebige Heiterkeit, die bedächtige Entschiedenheit, der ruhige Schwung, mit dem in der Entstehung von Wahrheit Frage treffend auf Frage folgt. (Fs)
406a Dieses reine Streben hat ein Zielobjekt. Es ist ein Streben nach Erkenntnis. Als bloßes Streben ist es auf Befriedigung durch Akte des Erkennens ausgerichtet, auf Befriedigung durch Akte des Verstehens, des vollständigen Verstehens, des korrekten Verstehens. Als reines Streben aber, als kühles, interesseloses und unparteiisches ist es nicht auf Erkenntnisakte und die Befriedigung, die sie dem Subjekt geben, ausgerichtet, sondern auf Erkenntnisinhalte, auf das, was erkannt werden soll. Die Befriedigung eines falschen Verstehens kann der Befriedigung eines korrekten Verstehens gleichkommen, vorausgesetzt, man weiß nicht, daß man sich täuscht. Das reine Streben aber verschmäht das erstere und schätzt das letztere hoch; es schätzt es als vom ersteren Verschiedenes; es schätzt es, nicht weil es zu einer Befriedigung fuhrt, sondern weil sein Inhalt korrekt ist. (Fs)

406b Das Zielobjekt des reinen Strebens ist der Inhalt des Aktes eher als der Akt selbst. Das Streben ist selbst aber noch nicht ein Erkennen und so ist auch sein Bereich nicht derselbe wie der Bereich des Erkennens. Anfänglich ist das reine Streben in jedem Individuum eine dynamische Orientierung auf ein gänzlich Unbekanntes hin. Indem sich das Erkennen entwickelt, wird das Objekt weniger und weniger unbekannt und immer mehr bekannt. Zu jeder Zeit schließt dieses Zielobjekt alles, was erkannt ist, und alles, was zu erkennen noch übrig bleibt, mit ein; denn es ist das Ziel der immanenten Dynamik des Erkenntnisprozesses, und diese Dynamik liegt der bereits erreichten Erkenntnis zugrunde und zielt über sie hinaus mit immer weiteren Fragen. (Fs)

406c Was ist dieses Zielobjekt? Ist es begrenzt oder unbegrenzt? Ist es Eines oder Vieles? Ist es materiell oder ideal? Ist es phänomenal oder real? Ist es ein immanenter Inhalt oder ein transzendentes Objekt? Ist es ein Bereich der Erfahrung oder des Denkens oder der Essenzen oder der Existierenden? Die Antworten auf diese und alle anderen Fragen haben alle eine einzige Quelle. Sie können nicht ohne das Funktionieren des reinen Strebens erhalten werden. Sie können nicht vom reinen Streben allein erhalten werden. Sie können erhalten werden, insofern das reine Streben Erkenntnisprozesse anregt und unterhält. Wenn es z. B. wahr ist, daß A ist, daß A eines ist, und daß es nur ein A gibt, dann ist das Zielobjekt des reinen Strebens Eines. Wenn es aber wahr ist, daß A ist, daß B ist, daß A nicht B ist, dann ist das Zielobjekt Vieles. Was ist, wird man fragen, denn nun wahr? Die Tatsache, daß gefragt wird, ergibt sich aus dem reinen Streben. Um die Antwort aber zu erreichen [350], genügt das Streben allein nicht; die Antworten stammen nur aus dem Untersuchen und dem Reflektieren. (Fs) (notabene)

407a Unsere Definition war nun, daß das Sein das Zielobjekt des reinen Erkenntnisstrebens ist. Sein ist dann
(1) alles, was erkannt ist, und
(2) alles, was zu erkennen übrig bleibt. (Fs)

Ferner, weil ein vollständiger Erkenntniszuwachs nur im Urteil stattfindet, ist das Sein das, was durch die Gesamtheit wahrer Urteile erkannt werden kann. Was ist nun, kann man fragen, diese Gesamtheit1? Es ist der vollständige Satz von Antworten auf den vollständigen Satz von Fragen. Was die Antworten sind, werden wir noch sehen. Welches die Fragen sind, wird sich uns noch zeigen. Bedeutungslose oder inkohärente oder illegitime Fragen sind möglich; aber wie sie zu definieren sind, ist ein anderes Problem. Wir behaupten hier, daß es ein reines Erkenntnisstreben gibt, einen suchenden und kritischen Geist, der Fragen auf weitere Fragen folgen läßt, der auf ein Zielobjekt hinarbeitet, das wir das Sein genannt haben. (Fs)

407b Unsere Definition des Seins ist deshalb zweiter Ordnung. Andere Definitionen bestimmen, was gemeint ist. Aber diese Definition ist entfernter, weil sie festlegt, nicht was unter Sein gemeint ist, sondern wie das Gemeinte zu bestimmen ist. Sie behauptet, daß wenn jemand erkennt, er das Sein erkennt; sie behauptet, daß wenn jemand erkennen will, er das Sein erkennen will; aber sie entscheidet nicht, ob man erkennt, oder was man erkennt, ob sich der Wunsch erfüllen wird, oder was man wissen wird, wenn der Wunsch sich erfüllt. (Fs) (notabene)

407c Wenn unsere Definition aber auch zweiter Ordnung ist, ist sie doch nicht einfach unbestimmt. Denn weder das Erkenntnisstreben noch das Erkennen selbst ist unbestimmt. Insofern das Erkennen bestimmt ist, konnten wir sagen, daß das Sein das ist, was durch wahre Urteile erkannt wird. Insofern das Erkenntnisstreben je das aktuelle Erkennen überschreitet, konnten wir sagen, daß das Sein ist, was durch die Gesamtheit der wahren Urteile erkannt wird. Das Sein hat damit zumindest ein Charakteristikum: Es ist allumfassend. Außer dem Sein gibt es nichts. Ferner, das Sein ist völlig konkret und völlig universell. Es ist völlig konkret; über und jenseits des Seins jedes Dinges gibt es nichts mehr von diesem Ding. Es ist völlig universell: Außerhalb des Bereichs des Seins gibt es einfach nichts. (Fs) (notabene)

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