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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Kontrast, Unterschied: Lonergan - Relativismus; Argumente (6-) gegen die Position des Relativisten

Kurzinhalt: In der Tat ist aber das Universum nicht einfach ein Erklärungssystem; seine existierenden Dinge und seine Vorkommnisse divergieren nichtsystematisch von der reinen Intelligibilität ...

Textausschnitt: 400b Sechstens, wenn das Obige einigermaßen die relativistische Position wiedergibt, so zeigt es auch, wo ihre Versehen liegen. Die Fragen sind von zwei Arten. Es gibt Fragen nach Einsicht, die fragen, was das ist, was das bedeutet, warum das so ist, mit welcher Häufigkeit es vorkommt oder existiert. Es gibt auch Fragen nach Reflexion, die fragen, ob die Antworten auf die Fragen des ersten Typs korrekt sind. Ferner, das für ein Urteil benötigte Unbedingte ist nicht die umfassende Kohärenz, die das Ideal des Verstehens ist, die die Antworten auf alle Fragen des ersten Typs begründet. Im Gegenteil, es ist ein virtuell Unbedingtes, das aus der Kombination eines Bedingten mit der Erfüllung seiner Bedingungen resultiert. Weiter, ein Urteil ist ein begrenztes Engagement; weit davon entfernt, auf einer Erkenntnis des Universums zu beruhen, besagt es, daß, als was immer das Übrige des Universums sich herausstellen wird, dies zumindest so ist. Ich mag nicht in der Lage sein, Grenzfälle zu entscheiden, in denen man darüber streiten kann, ob das Wort Schreibmaschine passend verwendet würde. Aber ich kann doch wenigstens eindeutig entscheiden, daß dies hier eine Schreibmaschine ist. Ich mag nicht in der Lage sein, die Bedeutung von ist zu klären; aber es ist für unsere gegenwärtigen Zwecke völlig genug, den Unterschied zwischen ist und ist nicht zu kennen, und den kenne ich. (Fs)

401a Ich bin nicht sehr deutlich, wenn es darum geht, die Bedeutung von dies zu erklären; aber wenn jemand es vorziehen sollte, jenes zu sagen, dann wird das keinen Unterschied machen, vorausgesetzt wir sehen beide das, worüber wir sprechen. Man wird mich warnen, daß ich in der Vergangenheit Fehler begangen habe. Aber diese Warnung ist sinnlos, wenn ich einen weiteren Fehler begehe, indem ich einen vergangenen Fehler als Fehler anerkenne. Und jedenfalls ist unser einziges Problem jetzt, ob ich einen Fehler begehe oder nicht, wenn ich behaupte, dies hier sei eine Schreibmaschine. Nun wird man mir sagen, daß meine Notion der Schreibmaschine ganz anders wäre, wenn ich die Chemie der Materialien verstünde, die Mechanik der Konstruktion, die Psychologie der Fertigkeit des Maschinenschreibens, die Wirkung, die die Verwendung der Maschine beim Schreiben auf die Satzstruktur hat, die wirtschaftlichen und soziologischen Auswirkungen ihrer Erfindung, ihre Beziehung zur kommerziellen und politischen Bürokratie und so weiter. Aber könnte ich dann nicht erklären, daß all diese weiteren Dinge, wie interessant und bedeutsam auch immer sie sein mögen, nur durch weitere Urteile zu erkennen sind; [345] daß solche weiteren Urteile, weit davon entfernt, mich von meiner gegenwärtigen Überzeugung abzubringen, daß dies eine Schreibmaschine ist, mich nur in ihr bestätigen werden; daß es ziemlich schwierig wäre, diese weiteren Urteile zu fällen, wenn ich mir zu Beginn nicht sicher sein könnte, ob dies nun eine Schreibmaschine ist oder nicht? (Fs)
401b Siebtens, wie auch immer, sind die Fragen, die durch ein Muster innerer Relationen eine Antwort finden, nur Fragen, die nach einem Erklärungssystem verlangen. Aber neben den Dingen-selbst und vor ihnen gibt es in unserem Erkennen die Dinge-für-uns, die Dinge als beschriebene. Außerdem divergieren die existierenden Dinge und Vorkommnisse, in denen die Erklärungssysteme verifiziert werden, nichtsystematisch von den idealen Häufigkeiten, die idealerweise aus den Erklärungssystemen abgeleitet werden könnten. Ferner schließt die Tätigkeit des Verifizierens den Gebrauch der Beschreibung als Mittlerin zwischen dem durch innere Relationen definierten System einerseits und den Vorstellungen der Sinne andererseits ein, welche die Erfüllungsbedingungen sind. Schließlich wäre es falsch, wollte man annehmen, daß die Erklärung die einzige wahre Erkenntnis sei; nicht nur beruht ihre Verifikation auf Beschreibung, sondern auch die Relationen der Dinge zu uns sind ebenso sehr Erkenntnisobjekte, wie es die Relationen der Dinge untereinander sind. (Fs)

401c Achtens, der Relativist erfindet sich ein Universum, das lediglich aus einem Erklärungssystem besteht, weil er sich das Unbedingte als das Ideal des Verstandes denkt, als die umfassende Kohärenz, auf die hin das Verstehen strebt, wenn es "Was?" und "Wie?" fragt. Wie wir aber gesehen haben, ist das Kriterium für das Urteil das virtuell Unbedingte. Jedes Urteil ist ein begrenztes Engagement. Weit davon entfernt, sich über das Universum zu äußern, begnügt es sich damit, ein einzelnes Bedingtes zu bejahen, das eine begrenzte Zahl von Bedingungen hat, die tatsächlich erfüllt sind. Zweifellos, wäre das Universum einfach ein riesiges Erklärungssystem, wäre die Erkenntnis der Bedingungen eines Bedingten identisch mit der Erkenntnis des Universums. In der Tat ist aber das Universum nicht einfach ein Erklärungssystem; seine existierenden Dinge und seine Vorkommnisse divergieren nichtsystematisch von der reinen Intelligibilität; es weist ein empirisches Residuum des Individuellen, des Zufälligen, des Kontinuierlichen, des bloß Nebeneinanderliegenden und des bloß aufeinander Folgenden auf; es ist ein Universum von Fakten, und das Erklärungssystem hat Gültigkeit in dem Maße, in dem es mit den deskriptiven Fakten konform ist. (Fs)

402a Neuntens, das relativistische Argument von den unendlichen weiteren Fragen her ist eher eindrucksvoll als schlüssig. Das menschliche Erkennen geht nicht von einem früherem Erkennen, sondern von natürlichen Spontaneitäten und Unausweichlichkeiten aus. Seine Basistermini sind für es in einem Erkennen definiert, das dem [346] Erkennen vorausgeht; sie werden durch die dynamische Struktur des Erkenntnisprozesses selbst festgelegt. Der Relativist fragt, was mit der Kopula ist, und was mit dem Demonstrativum dies gemeint ist. Aber weder er noch sonst jemand verwechselt ist mit ist nicht, oder dies mit nicht dies; und diese Grundklarheit ist alles, was für die Bedeutung der Behauptung relevant ist: Dies ist eine Schreibmaschine. Ein Erkenntnistheoretiker würde aufgefordert werden, derartige elementare Termini zu erklären; er würde das tun, indem er sagen würde, daß das ist das Ja darstellt, das im Urteil vorkommt, und daß es durch Fragen wie "Ist es?", "Was ist es?" vorweggenommen wird. Ähnlich würde ein Theoretiker dies als die Rückkehr vom Feld der Begriffe zum empirischen Residuum im Feld der Vorstellungen erklären. Aber die Fragen, die für die Erkenntnistheorie relevant sind, sind nicht relevant für jeden Fall des Erkennens. Sie sind deshalb nicht universell relevant, weil es tatsächlich keine operationeile Unklarheit gibt in bezug auf die Bedeutungen, welche die Erkenntnistheorie erhellt. Ferner, sie sind nicht universell relevant, weil solche elementaren Bedeutungen auf eine Weise festgelegt sind, welche die Bestimmung durch Definition übersteigt, nämlich mit der ursprünglichen Unveränderlichkeit der dynamischen Struktur des Erkenntnisprozesses. (Fs)

402b Zehntens, wie das menschliche Erkennen mit einer natürlichen Spontaneität beginnt, so sind auch seine anfänglichen Entwicklungen unartikuliert. Wie es fragt, warum und wie, ohne daß ihm ein Grund für sein Untersuchen angegeben würde, so läßt es sich auch auf den sich selbst korrigierenden Lernprozeß ein, ohne die expliziten Formulierungen, die in einem Erklärungssystem mit Recht verlangt würden. Einzelne Einsichten sind partiell. Spontan fuhren sie zu den weiteren Fragen, welche komplementäre Einsichten hervorbringen. Wäre das Universum ausschließlich ein Erklärungssystem, dann bewegten sich die kleineren Anhäufungen von Einsichten, die erreicht werden von dem, was Common Sense genannt wird, nicht auf eine Grenzposition der Vertrautheit und Meisterung zu, wo es offensichtlich unsinnig ist zu zweifeln, ob dies eine Schreibmaschine ist oder nicht. In der Tat aber ist das Universum, das erkannt wird, indem wir Fragen beantworten, nicht ein reines Erklärungssystem. In der Tat bewegen sich Einsichten auf die Grenzpositionen der Vertrautheit und Meisterung zu. In der Tat ist es unsinnig zu zweifeln, und jedermann weiß das, ob dies eine Schreibmaschine ist oder nicht. Der Relativist würde mich bitten, meine Aufmerksamkeit darauf zu richten, welch enormen Unterschied in meiner Notion der Schreibmaschine es machen würde, wenn ich die Chemie ihrer Materialien, die Mechanik ihrer Konstruktion, die Psychologie der Tippfertigkeit, den Einfluß auf den literarischen Stil, der durch das Schreiben auf der Maschine entsteht, die Wirkung ihrer Entdeckung auf die kommerzielle und politische Bürokratie und so weiter völlig verstünde. Zugegeben, eine solche Bereicherung meines Wissens wäre möglich und wünschenswert, handelte es sich doch um eine weitere Erkenntnis, die durch weitere Urteile zu gewinnen ist. Und weil die Bereicherung erklärend ist, weil erklärende Erkenntnis auf beschreibender [347] Erkenntnis beruht, muß ich nicht nur damit beginnen zu erkennen, daß dies hier eine Schreibmaschine ist, muß ich nicht nur damit fortfahren zu lernen, wie ähnlich andere Maschinen dieser hier sein müssen, wenn sie auch Schreibmaschinen genannt werden sollen, sondern ich kann auch eine gültige Erklärung nur erreichen, insofern meine Beschreibungen exakt sind. (Fs)

403a Elftens, es ist völlig wahr, daß ich mich täuschen kann. Aber diese Wahrheit setzt voraus, daß ich mich nicht weiter täusche, indem ich einen Fehler der Vergangenheit als Fehler anerkenne. Allgemeiner gesagt: Tatsachenurteile sind korrekt oder inkorrekt, nicht aus Notwendigkeit, sondern einfach in der Tat. Wenn dies hier etwas ist, könnte es doch auch nichts sein. Wenn dies eine Schreibmaschine ist, könnte es doch auch etwas anderes sein. Ähnlich ist es, wenn ich korrekt bejahe, daß dies eine Schreibmaschine ist, nicht eine reine Notwendigkeit, sondern es ist einfach eine Tatsache, daß ich korrekt bin. Verlangen nach der Evidenz, die die Möglichkeit selbst ausschließt, daß ich mich täusche, wenn ich behaupte, dies hier sei eine Schreibmaschine, heißt, zuviel verlangen. Eine solche Evidenz ist nicht verfügbar; denn wenn meine Behauptung korrekt ist, ist das bloß eine Tatsache. Wenn diese Evidenz aber nicht zu Gebote steht, ist noch viel weniger die Evidenz vorhanden, welche in allen Tatsachenurteilen die Möglichkeit des Irrtums ausschließen wird. Irrtümer sind ebensosehr Fakten, wie es die korrekten Urteile sind. Aber der Relativist steht im Konflikt mit beiden Kategorien von Tatsachen. Für ihn ist nichts einfach wahr, weil das nur möglich ist, wenn eine umfassende Kohärenz erreicht wird; für ihn ist nichts einfach falsch, weil jede Aussage ein gewisses Verstehen miteinschließt, und deshalb einen Teil dessen, was er Wahrheit nennt. Letzten Endes, wie der Empirist versucht, die Intelligenz zu verbannen, so versucht der Relativist die Tatsache zu verbannen, und mit ihr das, was alle anderen Wahrheit nennen. (Fs)

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