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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Moral - Kinsey-Report; biologische Faktizität -> Norm; Dogmatismus des "Naturhaften"; Moralperfektionismus - Anpassungs-Perfektionismus; die normative Kraft des Faktischen


Kurzinhalt: Aus der biologischen Faktizität wird so ein neuer Normanspruch abgeleitet: Das biologisch Naturhafte wird unversehens zum moralisch <Natürlichen>. ... also auch im Sexuellen die <normative Kraft des Faktischen> ... anerkennen wollen, heißt praktisch ...

Textausschnitt: 2. Die Moral der Kinsey-Reporte

51a Wohl nirgends ist dieses Dilemma zwischen biologisch-wissenschaftlicher Tatbestandsaufnahme und sozialem Normierungsanspruch des sexuellen Verhaltens zeitgeschichtlich offenkundiger geworden als in der Auswirkung und den Absichten der Kinsey=Berichte in den Vereinigten Staaten. Kinsey und seine Mitarbeiter haben mit ihrer Sozialstatistik der körperlichen Vorgänge der Sexualität vor allem die - den Fachleuten längst, wenn1 auch nicht in dieser exakten Form bekannte - hohe Variabilität und Vielfältigkeit dieser Akte einem breiten Publikum als allgemeine Erscheinung zum Bewußtsein gebracht. Kinsey vertritt nun die These - und dahin zielt auch die Breitenwirkung seiner Publikationen -, daß viele der bisher im Allgemeinbewußtsein als <Unnatürlichkeiten>, Perversionen oder Anomalien geltenden Formen der sexuellen Betätigung keineswegs krankhafte, sondern <natürliche> Ausdrucksweisen der Variabilität des Sexualverhaltens seien. Seine Berichte beschäftigen sich in der Tat fast ausschließlich mit sexuellen Verhaltensformen, die, sofern man sie als <unnatürlich> oder <anormal> bezeichnet, dieses Urteil zum großen Teil nur von der sozial-kulturellen Normsetzung her beziehen und fast kaum echte somatische Krankheitserscheinungen darstellen. Zu dieser naturhaften Variationsbreite der Sexualität gehören zweifellos die verschiedenen Formen des Koitus und sexueller Reizsituationen, die Masturbation, zum größten Teil auch die Homosexualität usw. Die Behauptung, daß diese hohe Variabilität der sexuellen Verhaltensabläufe keineswegs krankhaft ist, sondern in der biologischen Spannweite der menschlichen Natur liegt, können wir Soziologen Kinsey durchaus abnehmen und bestätigen. (Fs)

51b Aber seine These, daß diese Vielfältigkeit und Plastizität der Sexualbetätigung <natürlich> sei, meint ja mehr: Weil sie in der biologischen Natur des Menschen liege, sei unberechtigt, sie durch soziale und kulturelle Normen und Tabus einzudämmen und teilweise abzuwerten, d. h. die biologisch natürliche Variabilität des Sexualverhaltens müsse moralisch erlaubt sein. Aus der biologischen Faktizität wird so ein neuer Normanspruch abgeleitet: Das biologisch Naturhafte wird unversehens zum moralisch <Natürlichen>. Man kann dann dieses naturhaft variable Sexualverhalten mit Worten wie demokratischer Pluralismus der Sexualität bezeichnen und ihm gegenüber <Toleranz> fordern und es durch Einfügung in das geltende soziale und politische Normgefüge der Gesellschaft zu legitimieren versuchen1, man wird sich aber immer bewußt sein müssen, daß damit an die Stelle der erschütterten religiös=metaphysischen oder traditionellen gesellschaftlichen Maßstäbe geschlechtlichen Verhaltens jetzt der Dogmatismus und Absolutismus des <Naturhaften> im Sinne der Biologie als eine neue sozial-moralische Norm tritt. In der Argumentation und den Reformabsichten Kinseys werden Biologie und Statistik so zu normativen Wissenschaften. (Fs)

52b Mit seiner normativen Opposition will Kinsey den Beweis führen, daß das tatsächliche sexuelle Verhalten sich in keiner Weise mit den gültigen Normen der Beurteilung des geschlechtlichen Verhaltens deckt, und impliziert eigentlich stets den Anspruch, die normativen Bewertungen den Tatsachen anzugleichen oder wenigstens anzunähern. Darin offenbart sich eine seltsame Schwäche im Ertragen der Widersprüchlichkeit von Idealitäten gegenüber dem Faktischen, ein Mangel, der aus dem zur zivilisatorischen Heilslehre erhobenen Prinzip der <Anpassung> und der Vermeidung von <Spannungen> resultiert. Es fehlt die Einsicht, daß der Widerspruch zwischen den Sexualnormen einer Gesellschaft und der natürlichen Variationsbreite des faktischen Sexualverhaltens strukturell notwendig und immer vorhanden ist und daher grundsätzlich hingenommen werden muß. Die Idealität der Nonnen wird nie erreicht, aber sie ist erforderlich, um die Sitten und Gewohnheiten zu stützen, und eine Sitte ist voll wirksam, wenn, wie Kardiner einmal sehr summarisch bemerkt (60 b, S. 110), sich 75% der davon Betroffenen danach richten. Im Bestand dieses Hiatus, dieser nie ganz zu schließenden Kluft, liegt ja die humanisierende Wirkung der Moral gegenüber der bloßen <Natur>. Aus der biologischen Faktizität die Norm machen und die ihr widersprechende Norm abschaffen, also auch im Sexuellen die <normative Kraft des Faktischen> (wie die Juristen diese Wendung genannt haben) anerkennen wollen, heißt praktisch den Anspruch auf Sexualethik und Sexualerziehung überhaupt aufgeben. Diese Absicht verkennt, daß eine soziale Normierung des Sexualverhaltens und der Rolle der Geschlechter es ja gerade und immer mit der <künstlichen> Regulierung, Disziplinierung und Führung der im biologischen Sinne zweifellos <natürlichen> Breite angeborener Anlagen zu tun hat und daß eben diese Akte der sozialen und moralischen Einschränkung, Standardisierung und Stilisierung der biologischen Vielfältigkeiten und Tendenzen diese erst zu sozialen und humanen Kräften integrieren. (Fs)

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