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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Ehe, Sexualität, Sexualmoral: Normen; Doppeldeutigkeit: Natur (Hauptproblem der Sexualmoral unserer Gesellschaft); Dogmatismus des Natürlichen, Biologismus; Normanspruch der psychologischen Aufklärung


Kurzinhalt: Erst indem die biologische, medizinische oder tiefenpsychologische Aufklärung im Begriff des <Natürlichen> bewußt oder unbewußt selbst einen sozialen Normanspruch stellt, zerstört ... sie die sozialen Formierungen der Geschlechter ...

Textausschnitt: 1. Über die Absolutheit sexueller Normen

48a In unserer sozialwissenschaftlichen Analyse der Geschlechterrollen und Sexualbeziehungen tritt an den wesentlichen Stellen immer wieder die Notwendigkeit eines moralischen Anspruches auf normgerechtes Sexualverhalten hervor. Wenden wir uns diesem zentralen Thema einmal zusammenfassend zu! Ohne hier die Abgrenzung eines sozialen und eines biologischen Begriffs der<Norm> des sexuellen Verhaltens erörtern zu wollen, sei zunächst nur die Frage erhoben, in welchem Bereich denn überhaupt der Anspruch auf ein normgerechtes geschlechtliches Verhalten wurzelt. Offensichtlich doch wesentlich im Sozialen, da es eine Forderung an die Motivations- und Entscheidungsfähigkeit eines kommunikativen Verhaltens ist; alle in anderen Bereichen menschlicher Wirklichkeit orientierten Normen müssen sich notwendig als soziale Norm interpretieren und auswirken. Ein Anspruch auf biologische Normgerechtigkeit wäre z. B. die Forderung nach normgerechtem Sexualorganen und gliche etwa einer Forderung nach normgerechten Haarfarbe; werden solche Forderungen erhoben - was im einzelnen ja geschehen ist -, so setzt sich in diesem Falle ein an sich nur biologisch-diagnostischer Normbegriff sehr deutlich in einen sozialen Anspruch um. Solange die sozialen Normierungen der Rolle der Geschlechter und des Geschlechtsverhaltens in das Absolute einer unbezweifelten religiösen oder metaphysischen Gültigkeit transponiert werden konnten, unterlag jede Abweichung davon, gleichgültig ob sie bewußt und gewollt oder triebhaft und pathologisch war, in der gültigen Sexualethik einer so absoluten Verdammung, daß selbst rein somatische Krankheitserscheinungen der Sexualität nicht als normneutrale Ausnahmesituationen, sondern eben moralisch-religiös (und das heißt zugleich sozial) als <Sünde> bewertet werden mußten. Dieser Übersteigerung der sozialen Normierungsfähigkeit scheint aber heute umgekehrt eine übertriebene Abwehr der sozialen Normierungsnotwendigkeit gegenüberzustehen. (Fs)

48b Die Erkenntnis, daß die Normierung der Geschlechtlichkeit zeitlich und kulturell bedingt und mithin veränderlich ist, scheint nicht nur ihre religiös-absolute Fundierung zu relativieren, sondern darüber hinaus die Gültigkeit sozialer Normen auf diesem Gebiete überhaupt zu erschüttern. Ich halte diese weitverbreitete Ansicht für falsch und die auf ihr beruhenden Normabschwächungen für unberechtigt und gefährlich. Wenn der Kulturvergleich zu einer solchen Relativierung unserer eigenen Geschlechtsmoral führte, dann wäre die Analyse nur halb durchdacht, und der Soziologe bliebe in seinen Schlußfolgerungen mitten auf seinem Wege stehen. Gewiß sind auch die Sexualnormen relativ. Aber worauf? In ihren Grundtatbeständen immer auf das Gesamtgefüge der jeweiligen Kultur. Diese Normen zu erschüttern, heißt dann nicht mehr und nicht weniger, als das Gesamtgefüge der jeweiligen Kultur in seinen Grundlagen angreifen. Es würde eine Leugnung der geschichtlichen Dimension unseres kulturell-konkreten Menschseins bedeuten, wollte man aus der grundsätzlichen sozialen Variabilität und Formbarkeit des Geschlechtlichen schließen, daß man es nun zu jeder Zeit beliebig sozial normieren oder umstellen könne. Wir sind nicht soeben <vom Baum gesprungen>! (Fs) (notabene)
49a Aber nicht die Erkenntnis der kulturellen <Relativität>, d.h. der Bezogenheit des geschlechtlichen Verhaltens auf die geschichtlichen Bedingungen der jeweiligen Kultur, mindert und erweicht heute die sexuelle Moral, sondern viel mehr die wenig erkannte Tatsache, daß an die Stelle der in ihrer Gültigkeit erschütterten religiös-metaphysischen Maßstäbe der Dogmatismus und Absolutismus des <Natürlichen> im Sinne der Biologie als soziale Norm zu treten beginnen. Die Beliebigkeit des sexuellen Verhaltens und Bewertens findet ihre grundsätzliche Rechtfertigung in der biologischen Variabilität und Plastizität der natürlichen Anlagen, während die Tatsache der kulturell bedingten Unterschiede sozialer Regulierungen nur zur nachträglichen Begründung benutzt wird. Dabei liegt der biologische Dogmatismus unseres Zeitalters nicht darin, daß die Verknüpfung von hochgeistigen, künstlerischen und sozialen Leistungen einerseits und den triebhaft-biologischen Anlagen und Bedürfnissen des Menschen andererseits erkannt wird, sondern darin, daß mit der Erkenntnis dieser Abhängigkeit aller Handlungsformen vom Biologisch-Vitalen jede sie einengende und disziplinierende soziale Formierung als widernatürlich abgewertet und die Variabilität der leiblichen Anlagen und Antriebe oder die Krankheitserscheinung als soziales Recht verfochten werden. Man übersieht in unserem rationalistischen Zeitalter der Verehrung der <Natur> allzu gern, daß diese in allen Formen, die von Belang sind, immer nur ist, was der Mensch aus ihr gemacht hat und zu machen gezwungen war; dies gilt für das <natürliche> Sexualverhalten und den <natürlichen> Unterschied der Geschlechter gleichermaßen wie für die <natürliche> Vernunft oder die «natürlichem Rechte. Erst indem die biologische, medizinische oder tiefenpsychologische Aufklärung im Begriff des <Natürlichen> bewußt oder unbewußt selbst einen sozialen Normanspruch stellt, zerstört, vereitelt oder erschwert sie die sozialen Formierungen der Geschlechter und ihrer Beziehungen, die bisher die Grundlage unserer kulturellen Tradition bildeten. (Fs) (notabene)

50a Gerade weil die soziale Normierung des Geschlechtsverhaltens zu den grundlegenden Kulturleistungen gehört, wird sie mit Recht in allen Gesellschaften über die biologische Gebundenheit hinaus fixiert und mit allen verfügbaren Mitteln sozialer Sanktionierung und Tabuierung geschützt. In allen Gesellschaften nehmen daher diese Normen mit tiefer Notwendigkeit den Charakter des Absoluten an. Sie werden so absolut gesetzt, damit der Gedanke, sie zu verändern, keine Motivstütze findet, diese Möglichkeit vielmehr aus dem Bewußtsein weitgehend ausgeblendet wird. Aber die Kraft, die hinter dieser Absolutierung der sexuellen Normen steht, ist eben gerade nicht die biologische Natur, sondern die soziale, die moralische, ja meist die religiöse Potenz einer Gesellschaft. In der metaphysischen Überhöhung ihrer sexuellen Normen verteidigt jede Kultur ihre versehrbaren Fundamente. (Fs) (notabene)

50b Gelingt es, die sozial gesetzten Sexualnormen im sozialen und menschlichen Selbstbewußtsein einer Gesellschaft absolut erscheinen zu lassen, so wird sich danach zu verhalten allgemein als <natürlich> empfunden. Aber dann trifft die Behauptung des <Natürlichen> keineswegs ein biologisches Datum, sondern ist ein Anzeichen dafür, daß die Norm unbezweifelt ist. Das <Natürliche> ist nicht die biologische Natur, sondern die anerkannte Sitte. Vom Glauben und Gehorsam her lassen sich dann diese Normen nur als <Natur>=Rechte in ihrer Verpflichtung deuten. Aber die Verweisungen auf die biologische Natur dabei sind meist nur sekundäre Rationalisationen; so trägt auch, wie wir auf S. 19 sahen, bei vielen primitiven Völkerstämmen die Frau <ganz natürlich die Last des Ackerbaus mit der ideologischen Begründung, daß sie ja <von Natun dazu bestimmt sei, da sie als Gebärerin allein etwas wachsen lassen könne. Von dieser Unterordnung unter den sozial-moralischen <Natur>-Begriff der Natürlichkeit hat sich nun der kritisch-diagnostische Natur-Begriff der modernen Wissenschaft gelöst, ohne dabei den Normierungszwang dieses Begriffes immer vollständig von sich abzutun. In der Doppeldeutigkeit, die dieser normative Begriff des <Natürlichen> in einer wissenschaftsgläubigen Zeit durch den Einfluß einer doch nur deskriptiven Biologie gewinnt, liegt heute das Hauptproblem der Sexualmoral unserer Gesellschaft. (Fs) (notabene)

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