Datenbank/Lektüre


Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Christentum, Einehe; Emanzipierung der Frau; Klischee: Publizistik, Propaganda; Ehebruch: monogame Wurzeln; Situation der gegenwärtigen sexuellen Problematik

Kurzinhalt: ... die Regelung der ehelichen Geschlechtsbeziehungen im Sinne des religiösen Heils steht daher weltgeschichtlich berechtigt mit im Mittelpunkt der frühchristlichen Kirchenlehre.

Textausschnitt: 32c Wo, wenn auch nur zeitweise, eine rigorose Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen durch die Ehe gelingt, wird diese mit starken sexuellen Bedürfnissen aufgeladen, die besonders dann innerhalb der Ehe und Familie dominant werden, wenn eine solche Gesellschaft eine Epoche mit viel Wohlstand und Luxus und damit eine Entlastung der Familie von vielen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Funktionen erreicht hat; in diesen Fällen pflegt sich die Bedeutung der Frau weitgehend auf ihre Stellung als Sexual- oder Liebespartner zurückzuziehen, wie wir es für die absolute Polygamie im orientalischen Harem, für die absolute Monogamie aber vor allem in der hoch- und spätbürgerlichen Ehe unserer Zivilisation feststellen können. Diese Konzentration der Sexualität in der Ehe verleiht dieser zwar hohe geistige und seelische Sublimationschancen, entwickelt regelmäßig aber auch Kräfte und Bedürfnisse, die ihrerseits rückläufig nun wieder die Stabilität der Ehe und Familie untergraben und zu einer Lockerung der sexuellen Normen und Standards drängen. Wir wollen diesen Prozeß kurz an der Problematik der Einehe in unserer Gesellschaft verfolgen. (Fs)

34a Unabhängig von der Berechtigung der Behauptung, daß die Monogamie die Urform der Ehe überhaupt sei, kann man wohl sagen, daß sie die gebräuchlichste, sozial stabilste und an Entwicklungsmöglichkeiten reichste Form der Ehe darstellt. Sie führt zur klarsten Struktur und Konzentration der Autorität innerhalb der Familie, vor allem aber ist sie wie keine andere Eheform erfüllbar mit Gefühlen und Affekten, mit sittlichen und kulturellen Ansprüchen der Partner gegeneinander. So ist insbesondere die Vereinigung der christlichen Erlösungsreligion mit den Prinzipien der strengen Einehe zum Geburtsschoß unserer abendländischen Kultur und ihrer geistig-seelischen Haltungen geworden; die Regelung der ehelichen Geschlechtsbeziehungen im Sinne des religiösen Heils steht daher weltgeschichtlich berechtigt mit im Mittelpunkt der frühchristlichen Kirchenlehre. In dieser Tradition ist ein Ehe-Ideal entstanden, das bei einer Monopolisierung der geschlechtlichen Beziehungen in der Ehe den einzelnen Ehepartner über das Streben nach persönlichem, insbesondere sexuellem Glück grundsätzlich hinauszuführen trachtet und in der Erzeugung einer den Tod überdauernden Zusammengehörigkeit und Schicksalseinheit von Mann und Weib als Grundlage der Ehe und Erfüllung der Persönlichkeit gipfelt. Gerade weil diese Forderung die menschliche Geschlechtlichkeit in die sublimsten Höhen der menschlichen Existenz und Geistigkeit einschmilzt, wird sie trotz aller statistischen und psychologischen Nachweise über die Seltenheit und Unwahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung als letzter Anspruch an das Verhältnis zwischen Mann und Frau in unserer Kultur unverlierbar bleiben. (Fs)

34b Keine Gesellschaft hat aber die strenge Monogamie über längere Zeit wirklich aufrechterhalten können; gerade weil in den patriarchalisch-männlichen Gesellschaften mit monogamer Eheverfassung die Tendenz zur unbedingten sexuellen Abschließung der Frau in der Ehe so stark ist, entwickelt sich in ihnen - sofern nicht die damit verbundenen erotischen Sublimationsbedürfnisse des Mannes von Hetären oder Geishas befriedigt werden - ein weit über ihre Rolle als Geschlechtswesen hinausreichender Individualitäts- und Partnerwert der Frau. Dieser Vorgang, der zunächst zu einer Idealisierung und moralischen Hochwertung der Frau führt, trägt auf lange Sicht doch die Tendenz zu ihrer sozialen Gleichstellung mit dem Mann in sich; so scheint die <Emanzipierung> der Frau unfehlbar als geschichtlicher Vorgang aufzutreten, sobald einmal die strenge Monogamie durchgesetzt ist. (Fs) (notabene)

35a Daß gerade die Entwicklung der sexuell-erotischen Bedürfnisse innerhalb der absoluten Einehe die Kräfte erzeugt, die zur Lockerung dieser Eheform, ja, zur Erschütterung und Gefährdung der Institution der Ehe und Familie führen können, zeigt am besten die Einwirkung, die diese Eheform auf das außereheliche Geschlechtsverhalten gehabt hat. Erst in der Einehe der abendländischen Kulturtradition sind die hohen Gefühls-, Gemüts- und Persönlichkeitsansprüche an den Liebespartner entwickelt worden, jene verfeinerte Erotik des amour passioné, die im allgemeinen Sozialisierungsprozeß der Moderne aus der Grundhaltung erst nur der europäischen Oberschichten zur Liebeserwartung weitgehend aller Gesellschaftsschichten geworden ist. Vergröbert und standardisiert, zugleich aber ungeheuer verbreitet und aufgedrungen durch die erotischen Klischees der modernen Publizistik und Propaganda, erfüllt dieses Liebesideal die gesteigerte erotische Reizbarkeit, Erlebens- und Sensationslust des modernen Menschen, die ebenfalls ihre tiefen Wurzeln in der durch die strenge Einehe hervorgerufenen Affekt- und Erlebnissteigerung der Liebesbeziehungen haben. Sobald diese Liebeserwartungen zum primären Motiv des Sichfindens und der Heirat der Ehepartner werden, muß ein Familienleben, das sich im Durchschnitt nicht auf die wirtschaftlich entlastete, kulturell-luxurierte Lebensweise elitärer Oberschichten stützen kann, sondern die Ehepartner mit den Alltagssorgen des Nahrungserwerbs, der Kleinkinderpflege und des sonstigen Haushaltes belädt, diese Ansprüche enttäuschen und die ursprüngliche Gemeinsamkeit der erotischen Erlebnisbasis entzaubern. Gerade daß die Partner an den ursprünglichen Liebeserwartungen der Einehe festhalten, führt dann zu dem Bedürfnis nach erotischen Erlebnissen außerhalb der Ehe, zum Wechsel des Liebespartners und zur ehelichen Untreue. Der so viel zitierte <polygame> Trieb des Mannes oder des Menschen überhaupt hat, wenigstens was die Bedürfnisse zum Wechsel der Liebespartner in unserer Gesellschaft betrifft, durchaus monogame Wurzeln und Ursprünge. Indem die strenge Einehe die Geschlechtsbeziehungen der Partner auf die ehelichen Beziehungen zu konzentrieren und beschränken versucht, erzeugt sie gerade ganz neue Motivschichten des Ehebruchs und prägt den Charakter der durch die Lockerung und den Verfall ihrer sexualmoralischen Rigorosität sich steigernden außerehelichen Geschlechtsbeziehungen. Diese Beobachtung gilt wahrscheinlich für die sexuellen Beschränkungen aller Eheformen, so daß wir einer eigenen Psychologie des Ehebruchs für jede Ehe- und Gesellschaftsverfassung bedürften. Im außerehelichen Geschlechtsverkehr unseres gesellschaftlichen Zustandes ist jedenfalls immer, wenn auch durch die Gewohnheit der Ausschweifung noch so verdunkelt, ein monogames Liebesbedürfnis und damit das Risiko enthalten, in einer noch so flüchtig gemeinten erotischen Beziehung den schicksalshaft einzigen Liebespartnei anzutreffen. (Fs)

36a Die damit gekennzeichnete Situation der gegenwärtigen sexuellen Problematik besteht unter den von uns entwickelten Gesichtspunkten also darin, daß man im allgemeinen Sozialbewußtsein die Beschränkung der Geschlechtsbeziehungen auf die Ehe als Sollensanspruch festgehalten und im Recht, in der Kirchen- und Morallehre sowie in der Erziehung usw. verfestigt hat, in Wirklichkeit sich aber die außerehelichen sexuellen und erotischen Chancen und Freiheiten, die allerdings nie völlig beschränkt waren, in unserer Gesellschaft heute erheblich vergrößert und vermehrt haben. In welchem Ausmaß hier soziale Sollensforderung und Seinsillusion der Realität widersprechen, verdeutlichen die Angaben der Kinsey-Reporte - die deshalb in ihrer umfassenden Publizität so schokierend wirkten -, daß ungefähr die Hälfte aller verheirateten Ehemänner zu irgendeiner Zeit während ihrer Ehe Geschlechtsverkehr mit anderen als ihren Ehefrauen gehabt haben und daß sich ungefähr 50% des gesamten geschlechtlichen Verhaltens der gesamten männlichen Bevölkerung der USA in Bahnen vollzieht, die sozial mißbilligt werden oder sogar unter Strafe stehen (62a p. 284, 528). Daß diesen Tatbeständen ein gewisser Wechsel in den geschlechtlichen Verhaltenskonstanten der letzten Generationen zugrunde liegt, zeigt das Absinken der geschlechtlichen Unberührtheit der Brautleute beim Eingehen der Ehe, für das M. L. Terman (36, p. 321) aus einer umfangreichen empirischen Untersuchung amerikanischer Ehepaare 1938 exakte Angaben beibrachte (vgl. nachstehende Tafel). (Fs)

36b Es besteht die Neigung, dieses Dilemma durch offenes Senken der moralischen Ansprüche, d. h. durch Anpassung der Rechtsprechung, der Erziehungsziele usw. an die Tatsächlichkeit der Geschlechtsbeziehungen, zu mildern und damit die darin liegenden sozialen und seelischen Konflikte aus der Welt zu schaffen. Dieser Weg hat nur

im Text hier Grafik

zu einem geringen Grade Erfolg und insofern auch wenig Berechtigung, als zunächst der Gegensatz von Norm und Realität zum Wesen der sozialen Überformung der Geschlechtsbeziehungen gehört, außerdem in einer kulturellen Tradition die einmal erreichten absoluten moralischen Werte niemals von einer sinkenden menschlichen Verzichtleistung und Disziplin als bloßer Realität widerlegt und von dort her aufgegeben werden können (vgl. S. 52 ff.). Solange aber in den Heirats- und Eheerwartungen die erotische Erlebnisgemeinschaft der Ehepartner an erster Stelle steht, und das heißt, solange die hoch-und spätbürgerliche Eheform ihren Einfluß auf die Menschen unserer Gesellschaft und ihre Lebenswünsche noch nicht verloren hat, wird das dazugehörige Ideal unbedingter außerehelicher Keuschheit ebensowenig außer Kraft zu setzen sein wie die sich eben von dort her verstärkenden Bedürfnisse nach sexuellem und erotischem Wechsel. Allerdings haben wir Anlaß, zu vermuten, daß sich heute ein Wandel im Sexualwert der Ehe in unserer Gesellschaft vollzieht. Die hohe Erotisierung z. B. der spätbürgerlichen Ehe hatte ihren Grund nicht zuletzt in dem weitgehenden Abbau ihrer institutionellen, d. h. wirtschaftlichen, fürsorgerischen, sozialsolidarischen Funktionen, der zu ihrer Reduktion auf die personalen Sympathie- und Liebesbeziehungen führte. Die Schwere der sozialen Schicksale der letzten Jahrzehnte hat in den davon betroffenen Gesellschaften die institutionellen, insbesondere die Solidaritäts-Funktionen in und außerhalb der Ehe wieder in den Vordergrund gerückt. Die von den Ehepartnern, aber auch den Unverheirateten, verlangten Energien des Sichdurchsetzens im Lebenskampf absorbieren die vitalen Kräfte des Menschen und entziehen sie weitgehend dem sexuellen Bereich; die tiefgreifende Zerstörung des sozialen Bindungsgefüges bedeutet zugleich einen Verlust an überlieferten sexuellen Verhaltensformen. (Fs)

38a So haben neuere Diagnosen einen auffälligen Abbau der Erotik in den ehelichen und außerehelichen Beziehungen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft feststellen können. (Allerdings sei hier gleich darauf hingewiesen, daß diese behauptete Enterotisierung ein Zurücktreten der Sexualität im Gesamtverhalten der Gesellschaft oder des Einzelnen meint, also eine Minderung des sozialen Stellenwertes der Sexualität angibt und daher durchaus mit der Tatsache zusammengehen kann, daß für bestimmte Bevölkerungsschichten die sexuelle Beziehung als solche gefühlsbetonter und erotischer geworden ist als früher, während sie bei anderen Gruppen an erotischer Kultivierung eingebüßt hat; vgl. dazu S. 125 ff.). So hat Bükger-Prinz gezeigt (47 b), daß sich wahrscheinlich aus den angegebenen Ursachen die sexuelle Kriminalität mehr in Delikte auf Grund mangelnder sexueller Durchsetzung verschiebt, und erklärt aus dieser auch sozial bedingten Infantilisierung der Sexualität das auffällige Ansteigen der Vergehen an Minderjährigen. Wir fanden in unseren familiensoziologischen Untersuchungen sehr deutlich ein Zurücktreten der sexuellerotischen Verhaltensmotive gegenüber den Ansprüchen der Familie an Solidarität im Daseinskampf, und zwar gilt dies sowohl für die Bedeutung erotischer Motive in ehelichen Konflikten wie etwa bei der Partnerwahl und den Heiratsmotiven der Jungen (34 b, S.279 ff.). Der Abbau der erotischen Komponente im Leben der Jugendlichen ist heute, im Gegensatz zur Zeit nach dem vorigen Kriege, ganz unverkennbar; die frühzeitiger einsetzende sexuelle Bindung und eheliche Partnerwahl der Jugendlichen erfolgt vielfach mit einer unerotischen Sachlichkeit, die die Älteren, wenn sie es bemerken, erschreckt. (Fs)

38b In Wirklichkeit stehen hinter diesen Vorgängen veränderte Grundbedürfnisse unseres gesellschaftlichen Zustandes: Das Suchen nach einem sozialen Halt in der intimen Partnerschaft, das Bedürfnis nach Solidarität und Gemeinschaft in der Bewältigung des Lebens, setzt sich früh und vordringlich durch, da diese Aufgabe in ihrer Härte heute schon frühzeitig an die Jugendlichen herantritt. Die Wandlungen der Gesamtsituation unserer Gesellschaft aus der spätbürgerlichen Wohlstandsphase in die einheitlich sich über alle Sozialschichten verbreitenden industriegesellschaftlichen Notstandsprozesse oder wenigstens sozialen Überlastungs- und Vereinsamungsgeschehnisse drängen den Wert und die Bedeutung der Sexualität vor und in der Ehe wieder zurück zugunsten anderer sozialer Verhaltensansprüche. Der Prozeß der ständigen Ent- und Resexualisierung der sozialen Gebilde, insbesondere auch der Ehe, und der damit verbundene Wandel des jeweils typischen geschlechtlichen Verhaltens ist also auch als unser eigenes Zeitschicksal zu beobachten. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt