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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Unterschied der Geschlechter: geistig, psychlogisch;

Kurzinhalt: ... immer schimmert durch diese vermeintlich allgemeingültigen Wesensprinzipien ihre Bedingtheit durch eine soziale Rollenverteilung gerade einer bestimmten kulturellen Tradition hindurch.

Textausschnitt: 20a Indem sich diese soziale Differenzierung der Geschlechter bis in die sublimsten seelischen und geistigen Haltungen hin verzweigt und auswirkt, begründet sie im wesentlichen auch den Gegensatz, den man gemeinhin als den psychologischen, geistigen oder gar metaphysischen Wesensunterschied und Charakter der Geschlechter anspricht. Für sehr viele Philosophen und Psychologen ist <das Männliche> und <das Weibliche> heute noch ein absolutes, inhaltlich eindeutig bestimmtes Wesensprinzip, das sich auf den verschiedensten Stufen menschlicher Wirklichkeit ausprägt oder gar in seinem Gegensatz das ganze All durchwaltet. An sich ist diese konstruktive Metaphysik der Geschlechter berechtigt als unbewußte geistige Sanktionierung der darin liegenden sozialen Fundamente unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens; erstaunlich ist nur, wie sich die Denkformen dieses Glaubens auch dort noch blind durchsetzen, wo man ihm geistig entronnen zu sein glaubt und den Mut zu seiner Behauptung längst aufgegeben hat. (Fs)

20b Die konsequenteste Durchbrechung dieser metaphysischen Sanktionierung der Geschlechterrollen besteht in der empirisch-statistischen Untersuchung darüber, in welchem Maße sich bestimmte Verhaltensformen oder Eigenschaften in einer repräsentativen Auswahl von Männern und Frauen einer Gesellschaft verteilen. Schon 1917 hatte Otto Lipmann (22) solche experimentellen Untersuchungen der Geschlechtscharaktere veröffentlicht; heute liegt in den von Terman und Miles (24) an vielen Hunderten von Schülern, Studenten und Erwachsenen aller Berufsgruppen, an Sportlern, Kriminellen und Homosexuellen mit den verschiedensten Arten von Testen und Befragungen durchgeführten Untersuchungen wohl der umfassendste und sorgfältigste Versuch einer experimentellen Bestimmung der charakterlichen Geschlechtsunterschiede vor. Wenn dann als Ergebnis dieser Studien festgestellt wird, daß <im großen gesehen die männliche Seite ein starkes Interesse an Heldentaten und Abenteuern, an Beschäftigungen im Freien mit Einsatz körperlicher Leistungsfähigkeit, mit Maschinen und Handwerkszeug, Interesse an Naturwissenschaften, überhaupt an physikalischen Erscheinungen und Erfindungen, gewöhnlich auch an Geschäften und Betrieben bekundet, während die weibliche Seite mehr Interesse an häuslichen Angelegenheiten und an ästhetischen Gegenständen und Betätigungen zeigt und mehr sitzenden Beschäftigungen im Hause, und zwar vor allem Hilfeleistungen gegenüber Jungen, Hilflosen und Armen bevorzugt>, so ist damit sehr deutlich nur die soziale Berufsteilung einer ganz bestimmten Gesellschaft, Zeit und Kultur beschrieben, zu der sich dann natürlich auch ganz spezifische charakterliche Eigenschaften auffinden oder gar erst in der Reflexion davon abstrahieren lassen: <Die Männer sind mittelbar oder unmittelbar von größerem Selbstdurchsetzungswillen und größerer Aggressivität, sie zeigen mehr Kühnheit und Furchtlosigkeit und größere Rauheit in ihren Manieren, ihrer Sprache und ihren Gefühlen; die Frauen zeigen sich mitleidiger und mitfühlender, furchtsamer und ästhetisch sensitiver, im allgemeinen gefühlsbetonter (oder jedenfalls in dieser Hinsicht ausdrucksvoller), moralistischer, beweisen aber selbst wiederum schwächere Kontrolle ihrer Gefühle> usw.1 (Fs)

21a Man kann diese Abstraktion von einer bestimmten sozialen Wirklichkeit noch weiterführen und wie Philipp Lersch (21; vgl. F. J. J. Buytendijk, 18) den Geschlechtern verschiedene <Daseinsthematiken> und <Welthorizonte>, der Frau eine mehr konkrete, gegenwartsverhaftete und in sich geschlossene Welt unter der Betonung des Persönlichen und Anschaulich-Individuellen, dem Mann dagegen eine offene, sich in Vergangenheit und Zukunft ausweitende Welt mit der Betonung des Sachlichen und Begrifflich-Allgemeinen zuordnen, immer schimmert durch diese vermeintlich allgemeingültigen Wesensprinzipien ihre Bedingtheit durch eine soziale Rollenverteilung gerade einer bestimmten kulturellen Tradition hindurch. Wenn Marg. Mead (23 b) dagegen das Verhältnis der Geschlechter bei dem Südseestamm der Tschambuli so schildert, daß die Frau der selbstbewußte, dominierende, sachliche, organisierende und verwaltende Teil ist, der die Güterherstellung und den Handel betreibt und auch im Erotischen die Initiative ergreift, während der Mann den abhängigen, scheuen, gefühlsbetonten, koketten, tratsch- und zanksüchtigen und sich ästhetischen Beschäftigungen zuwendenden Partner darstellt, so gilt offensichtlich für diese kulturelle Tradition eine gegenüber der europäischen genau umgekehrte Psychologie oder gar Metaphysik der Geschlechter. Gegenüber allen Thesen, die im <Männlichem> oder <Weiblichen> absolute und eindeutige Wesensprinzipien sehen, müssen wir also auf deren hohe Variabilität innerhalb der verschiedenen kulturellen Strukrurgefüge hinweisen und betonen, daß sie <nur zusammenfassende Bezeichnungen für sekundär entstandene typische Eigenschaftskomplexe> (Else Vogtländer)2 darstellen. (Fs)

22a Auf die Frage der Entstehung dieser typischen geschlechtlichen Rollen oder Charaktere in ihrer sozialen Institutionalisierung hat Marg. Mead (23 b) mit einer interessanten Hypothese geantwortet: aus der in jeder Bevölkerungsgruppe verhältnismäßig gleichmäßig in beiden Geschlechtern vorhandenen Vielfältigkeit von angeborenen Anlagen und Temperamenten seien bestimmte Temperaments- und Charakterzüge, emotionelle und intellektuelle Veranlagungen ausgewählt und nun als Norm für ein Geschlecht spezialisiert und institutionalisiert worden, während in gleicher Weise andere Temperamentszüge wieder dem anderen Geschlecht vorbehalten wurden. Diese soziale Normierung zwingt jetzt die Angehörigen eines Geschlechts, die in ihnen vorhandene Variabilität angeborener Charakterzüge und Verhaltenstendenzen möglichst der für sie geltenden sozialen Norm anzupassen. Im Sozialbewußtsein wird dieses kulturelle Leitbild des Geschlechts, das übrigens weiterhin für die einzelnen Altersstufen, Klassenschichtungen oder Berufsgruppen differenziert sein kann, dann stets in der Weise gerechtfertigt, daß die jeweils dekretierte Norm dem einen Geschlecht als das einzig <natürliche> Verhalten hingestellt und dem anderen als <unnatürlich> verboten wird (vgl. S. 50). Ob diese Stilisierung bestimmter Spielarten aus der Fülle angeborener Temperaments- und Veranlagungsverschiedenheiten die einzige Entstehungsquelle der sozialen Normen des Geschlechtsverhaltens bildet, bleibe dahingestellt. Richtig und wichtig erscheint uns an dieser These die Einsicht, daß die soziale Normierung der Rolle der Geschlechter es vor allem mit der Regulierung der natürlichen Variabilität und Plastizität angeborener Anlagen und Verhaltenstendenzen zu tun hat. Erst dieser Akt der normativen Polarisierung der Vielfältigkeit angeborener Temperamente macht diese zu sozialen Kräften und integriert, was sonst bloße Varianten der Natur bliebe, zu kultureller Spannung und Schöpfung. (Fs)

23a Darüber hinaus wäre noch zu fragen, weshalb denn in einer Kultur gerade diese, in einer anderen Kultur gerade jene Züge als mannlich oder weiblich ausgelesen und institutionalisiert worden sind. Zweifellos hat dies viele Ursachen, unter denen die jeweiligen Produktions- und Arbeitsformen, zu denen eine Menschengruppe auf Grund der Höhe und Art ihrer kulturellen Entwicklung, ihrer geographischen Umwelt, ihrer sozialen Beziehungen zu anderen Menschengruppen usw. gezwungen war, sicherlich an erster Stelle stehen. Letzten Endes ist aber die konkrete Gestalt der jeweiligen Rolle der Geschlechter immer nur zu verstehen aus dem geschichtlichen Zusammenhang des einzigartigen Werdens eines bestimmten Kulturgefüges und einer bestimmten Gesellschaftsverfassung. Die Rolle der Geschlechter wie die sozialen Formen der Geschlechtlichkeit überhaupt sind also zutiefst historische Erscheinungen und den geschichtlichen Wandlungen und Entscheidungen einer Gesellschaft mit unterworfen. Wir werden auf diese historische Wandelbarkeit der menschlichen Sexualität, die, auf soziale Formung angewiesen, den Menschen selbst in seiner biologischen Verfassung zu einem geschichtlichen Wesen macht, am Schluß unserer Darstellung zurückkommen. (Fs)

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